Kriminalitätsbekämpfung

Dokumentation von Vernehmungen – traditionell und audiovisuell (Teil 2)

Von Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper und Dozent Thorsten Floren, Dortmund/Mülheim*

3.2.2 Einschränkungen/Problemstellungen des § 136 Abs. 4 StPO


Die audiovisuelle Vernehmung regelt § 136 Abs. 4 StPO wie folgt:


„Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

 

  1. dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
  2. die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können. § 58a Absatz 2 gilt entsprechend.“


In § 136 Abs. 4 S. 1 StPO führt der Gesetzgeber die audiovisuelle Vernehmung als „Kann-Vorschrift“ in Form einer Generalklausel für die Beschuldigtenvernehmung ein. Alleine aus praktischen und ökonomischen Erwägungen der Ermittlungsbehörden heraus, scheidet diese Vernehmungsform daher für die Anwendung im Bereich von Massendelikten fast vollständig aus. Denkbar wären hier beispielhaft psychische oder physische Umstände des Beschuldigten, die an dessen Person oder seinem Verhalten festzumachen sind und durch eine audiovisuelle Aufzeichnung im späteren Verfahren zur Begutachtung herangezogen werden könnten, ohne unmittelbar von den Tatbeständen der Nr. 2 der Rechtsnorm erfasst zu werden.


Die Norm nimmt in Nr. 1 eine bekannte Deliktsform, das Tötungsdelikt, in Bezug. Hingegen führt der Gesetzgeber durch Nr. 2 zwei neue Rechtstermini (eingeschränkte geistige Fähigkeiten, schwerwiegende seelische Störung) ein, die weder durch ihn selbst noch die Literatur oder die Rechtsprechung bislang abschließend definiert worden sind.


Der Gesetzgeber hat in § 136 Abs. 4 Nr. 1 StPO als Anwendungsvoraussetzung die Tötungsdelikte aufgenommen. Durch die zuvor eingesetzte Expertenkommission wurde jedoch die Empfehlung gegeben, dass die audiovisuelle Vernehmung des Beschuldigten beim Vorliegen von schwerwiegenden Sach- oder Rechtslagen sowie bei gravierenden Tatvorwürfen durchgeführt werden soll. Letztlich ist somit der Einsatz der Videovernehmung gemäß Nr. 1 zunächst nur auf die Tötungsdelikte beschränkt. Auf eine Ausdehnung der Norm auf weitere schwere Straftaten bzw. Verbrechensdelikte bleibt zu hoffen.


Eingeschränkte geistige Fähigkeiten und/oder eine schwerwiegende seelische Störung sind Begriffe, die von den handelnden Personen (Polizeivollzugsbeamten, Staatsanwälte) bei einem Beschuldigten gemäß § 136 Abs. 4 Nr. 2 StPO diagnostiziert werden müssen, um die Notwendigkeit der Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung erkennen zu können. An welchen Merkmalen, Verhaltensweisen oder Auffälligkeiten sie zu erkennen oder welche Erkrankungen oder Erkrankungsformen diesen zuzuordnen sind, bleibt unklar, stellt hierdurch die Ermittlungspersonen vor große Schwierigkeiten und wird ein Türöffner für Fragen der Verteidigung in der Hauptverhandlung sein, sofern keine audiovisuelle Vernehmung durchgeführt wurde. Eingeschränkte geistige Fähigkeiten können auch als Defizite in der geistigen oder sittlichen Reife beschrieben werden. Diese werden in den Bereichen der klinischen Diagnostik erhoben, z.B. in Form eines Intelligenztests. Die sittliche Reife wird u.a. von der geistigen Reife beeinflusst und die kognitiven Fähigkeiten (z.B. abstrahierende Einsichtsfähigkeit) stellen Grundvoraussetzungen für eine sich entwickelnde Moralvorstellung dar.


Menschen, die unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten leiden, können im Allgemeinen ihr Leben nicht eigenständig gestalten, sind auf eine durchgehende Hilfestellung durch andere Personen angewiesen und nicht in der Lage, ein autonomes Leben selbstständig zu führen.


Eine schwerwiegende seelische Störung kann im Bereich der menschlichen Psyche verortet werden und umfasst die Emotionen und das Intellektuelle – sie kann angeboren sein. In der Rechtsprechung stehen die endogenen und die exogenen Psychosen sowie der missbräuchliche Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten im Fokus. Im BGB wird vergleichbar die krankhafte Störung der Geistesfähigkeit angenommen bei Personen mit einem IQ unter 60 oder einer fehlenden Einsichtsfähigkeit in Verbindung damit, auch entsprechend dieser Einsicht zu handeln. Es müssen Anhaltspunkte für die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung vorhanden sein, um der Ermittlungsperson Hinweise an die Hand zu geben. Letztlich muss der Vernehmende entscheiden, ob eine Störung oder eine Einschränkung beim Beschuldigten vorliegt und daher eine Videovernehmung durchzuführen ist. Das grundlegende Fehlen einer rechtsverbindlichen Definition führt in der Praxis zu Handlungsunsicherheit. Im Gerichtsverfahren besteht die Möglichkeit, durch psychiatrische Gutachten die geistigen Fähigkeiten beurteilen zu lassen. Diese Chance besteht in einer Einsatzsituation nicht. Eine klare Grenzziehung ist nicht möglich und wirft neben juristischen Fragen auch gerade im Bereich des taktischen Vorgehens weitere Fragen auf.


Zur Prüfung, ob ein Beschuldigter möglicherweise unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leidet, kann auf das Prüfungsschema für Vernehmungspersonen nach Floren (2019, Anlage G: Prüfungsschema: Eingeschränkte geistige Fähigkeiten oder schwerwiegende seelische Störung) verwiesen werden. Es ist in Form eines Flussdiagramms in Tabellenform erstellt und führt Herausstellungsmerkmale auf, die für den Ermittler leicht zu erkennen sind und hieraus Rückschlüsse auf einzelne psychische Störungen oder geistige Einschränkungen ermöglichen. Prüfungskriterien stellen neben dem vorliegenden Delikt die Tatbegehung, die Tatphasen, der Tatablauf, die Delinquenz, Wahrnehmung beim Beschuldigten und mögliche Abhängigkeitserkrankungen dar. Das Schema kann und soll keine Begutachtung ersetzen, vielmehr wird es den Ermittler in der Ad-hoc-Situation bei seiner Entscheidungsfindung für oder gegen die notwendige Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung unterstützen. Der Staatsanwaltschaft kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, da sie als ermittlungsführende Stelle das Verfahren leitet und ihr ein uneingeschränktes Weisungsrecht gegenüber den Ermittlungspersonen in Bezug auf die Sachverhaltserforschung gerichtete strafverfolgende Tätigkeit zugesprochen wird. Sie ist die ermittlungsführende Stelle und muss diese Leitungs- und Kontrollfunktion auch effektiv ausüben. Der Polizeibeamte ist gut beraten, wenn er Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft hält und hierdurch bereits im Vorfeld für das Ermittlungsverfahren und sich selbst Rechtssicherheit erhält.

3.3 Ausgestaltung der audiovisuellen Vernehmung

Grundsätzlich ist dem Einsatz der Videovernehmung in speziell dafür vorbereiteten Vernehmungsräumen Vorrang einzuräumen – die Räume weisen einen neutralen Charakter auf, um mögliche Ablenkungen zu minimieren. Die technische Ausstattung ist je nach Bundesland unterschiedlich. Allen gemein ist, dass eine Kamera den gesamten Raum aufzeichnet und hierdurch neben der Vernehmungsperson und dem Beschuldigten auch die Vernehmungssituation und weitere im Raum befindliche Personen (Verteidiger, weitere Vernehmungsbeamte, Übersetzer etc.) erfasst werden. Einzelne Kameras zeichnen den Befragenden und den Beschuldigten auf. Die Tonaufzeichnung erfolgt durch ein Raummikrofon, ggf. können auch einzelne Mikrofone zusätzlich für die Beteiligten verwendet werden. Die Daten werden direkt auf einem Laptop gespeichert, wobei es eine Bild- und Tonspur gibt, die mit zeitlichen Aufzeichnungskomponenten verknüpft sind. Die Vernehmungsperson oder ein weiterer Ermittler können die Aufnahme in Echtzeit steuern und während der Vernehmung Markierungen setzen. Solche Markierungen ermöglichen einen schnelleren Zugriff auf einzelne Aspekte der Vernehmung, die möglicherweise bei einem Vorhalt in der laufenden Vernehmung direkt dem Beschuldigten gezeigt werden können. Weiterführende technische Lösungen bestehen in der Möglichkeit, dass sich andere Ermittlungspersonen die Vernehmung aus einem weiteren Raum in Echtzeit mit ansehen und auf den Bildschirm des Vernehmers Mitteilungen übersenden können. Die gespeicherten Daten werden im Anschluss an die Vernehmung gesichert und asserviert. Je nach technischer Ausstattung der Behörden werden die Daten auf einem Zentralserver der Ermittlungsbehörden oder auf tragbaren Datenspeichern gesichert. Die gesicherte Videovernehmung ist Teil der Ermittlungsakte und muss somit asserviert und vor Manipulation geschützt aufbewahrt werden. § 58a Abs. 2 StPO regelt die Übermittlung und Aushändigung von Kopien der audiovisuellen Vernehmung an berechtigte Personen (Verteidiger) analog zur Einsichtnahme in die Ermittlungsakte.