Kriminalitätsbekämpfung

Herausforderungen der Cyberkriminologie

Von Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Oranienburg*

 

7 Braucht es im Netz eine nutzerfreundliche Anzeigemöglichkeit?


Zumindest teilweise kann der Rückgang der PKS Fallzahlen in den letzten Jahren offenbar damit erklärt werden, dass die Menschen im analogen öffentlichen Raum immer weniger Zeit verbringen. Damit sinkt auch das Risiko, dass hier Kriminalität, bspw. Straßenkriminalität, begangen werden kann. Faktisch auch weil potentielle TäterInnen und Opfer weniger Möglichkeiten haben aufeinanderzutreffen. Parallel verbringen die Menschen aber immer mehr Zeit im digitalen Raum und werden hier einerseits mit Kriminalität konfrontiert und es bieten sich ihnen andererseits auch Möglichkeiten zu einfachen Tatbegehungen, dank einer niedrigen Tatbegehungsschwelle. Ein Grundproblem hierbei ist, dass die sog. Dunkelzifferrelation, also das Verhältnis zwischen einem Delikt im Hell- und Dunkelfeld, wesentlich ungünstiger ist als bei klassischen analogen Delikten (Rüdiger 2021). Das Ergebnis ist, dass das Hellfeld analoger Delikte sinkt, das Dunkelfeld digitaler Delikte aber im Gegenzug nur minimal aufgehellt wird. Diese Situation aufzubrechen, würde eine Erhöhung der Anzeigewahrscheinlichkeit erfordern. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass den Nutzern verdeutlicht wird, wann es sich um Straftaten handelt und dass sich eine Anzeige auch lohnt. Dies könnte beispielhaft mit niederschwelligen Anzeigemöglichkeiten im Netz ermöglicht werden. So ist es wenig verständlich, warum in einem globalen digitalen Raum jedes Bundesland eine eigene Internet- oder Onlinewache unterhalten muss, anstatt eine Art Single Point of Contact Möglichkeit für Anzeigen über digitale Wege anzubieten. Auch kann hinterfragt werden, ob die Anzeigemöglichkeit über diese virtuellen Wachen „nutzerfreundlich“ gestaltet oder doch eher kompliziert vom Mechanismus her sind. So fehlt es faktisch an einer Art rund um die Uhr besetzten virtuellen Anzeigeraum, bei dem auch Onlinenutzer direkt mit Polizeiangehörigen per Chat kommunizieren können. Also ähnlich wie es auf den meisten Polizeiwachen ja möglich ist. Auch existieren keine sich speziell an die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtete Kontaktmöglichkeiten im digitalen Raum zur Polizei. Beispielhaft eine Kinderonlinewache, die rund um die Uhr mit Fachpersonal aus verschiedenen Bereichen besetzt ist und eine Chatmöglichkeit für Kindern gerade in Zeiten von Homeschooling bietet. Selbst viele offizielle polizeiliche Social Media Accounts beispielhaft auf Instagram, die für eine Kontaktaufnahme durch Nutzer aber vor allem Minderjährige in Frage kämen, beinhalten in ihren Profilen den Hinweis „keine Anzeigen“ (@Polizeiberlin 2021), „keine Anzeigenerstattung & DM“ [gemeint ist Kontaktmöglichkeit über „direct messenger“] (@bremenpolizei 2021), oder gleich den Hinweis „Nachrichten werden nicht gelesen!“ (@polizeisachsen 2021). Hintergrund dieser Hinweise und einer offenbar vorhandenen Form von Kommunikationsunlust der Sicherheitsbehörden im digitalen Raum ist vermutlich eine gewisse Skepsis vor einer Überforderung mit der Sichtung von Anfragen und den damit einhergehenden Personalbedarf, ausgelöst auch aus der weitestgehenden absoluten Gültigkeit des Legalitätsprinzips. Welche Außenwirkung dies aber z.B. auf Minderjährige haben könnte, die gerade in ihrer digitalen Lebenssphäre Hilfe suchen, wurde noch nicht hinterfragt. Im Rahmen der oben bereits zitierten Studie zu Cybergrooming wurde auch herausgearbeitet, dass lediglich 9,6% der betroffenen Minderjährigen das Verhalten bei der Polizei zur Anzeige bringen würde (Nennstiel und Isenberg 2021, S. 34). Umso wichtiger wäre es, die Kommunikationsschwelle mit der Polizei und damit auch die Möglichkeit der Anzeigenerstattung allgemein im Netz niedrig zu halten, oder anders ausgedrückt nutzerfreundlich.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Polizei selbst im Netz aktive zufällige Präsenz zeigt, also auf eine Art virtuelle Streife geht und dabei die dort selbst festgestellten Straftaten zur Anzeige bringt. Teilweise finden solche Maßnahmen im Sinne der sog. „anlassunabhängigen Internetrecherche“ zumindest punktuell, wenn auch verdeckt, statt (LKA NRW 2021). Eine belastbare Aussage über die Anzahl von deutschen Polizeiangehörigen, die in dieser Form im Netz dienstlich auf Streife gehen ist für die letzten Jahre nicht eruierbar, es lässt sich aber vermuten, dass diese nicht allzu hoch sein dürfte. Schilderungen deuten zudem daraufhin, dass wenn sie durchgeführt werden, solche Streifen nicht als Hauptaufgabe gesehen werden, sondern offenbar nur als eine Art „Nebenbei“. Im Kontext einer TV-Dokumentation zu den Auswirkungen der Aufstufung des § 184b StGB zu einem Verbrechenstatbestand, äußerten Kriminalbeamte, dass sie vor allem durch die Zunahme an kinderpornographischen Medien gar nicht mehr in der Lage sind gegen das Phänomen Cybergrooming aktiv selbst vorzugehen: „Dazu haben wir keine Zeit. Das bearbeiten wir im Zweifel erst, wenn tatsächlich schon etwas passiert ist“ (NDR 2021). Ein proaktives Vorgehen über sog. polizeiliche Scheinkindoperationen – wenn sich also Polizisten im Netz als Kinder ausgeben, um TäterInnen zu überführen (Rüdiger 2020) – um die Taten im Vorfeld zu verhindern, findet demnach weitestgehend gar nicht statt. Im übertragenen Sinne bedeutet es, dass der Fensterwurf nicht verhindert wird, sondern nur die Scherben aufgekehrt werden. Konkret vorzuwerfen ist dies nicht, scheint es doch ein Symptom eines strukturellen Problems der Adaption der Mechanismen des digitalen Raums durch die Sicherheitsbehörden zu sein.

 

 

8 Es braucht eine echte digitale Polizeistrategie


In Kombination mit der Warnung des BKA-Präsidenten vor einer Überforderung der Kapazitäten der Sicherheitsbehörden bei kinderpornographischen Inhalten, den hohen Fallzahlen bei digitalen Delikten im Allgemeinen und Schilderungen wie in dem vorhergehenden Beispiel entsteht das Bild, dass die Sicherheitsbehörden gegenwärtig nur gering aktiv sein können, um selbst Straftaten aufzudecken und in der Folge dann auch verfolgen zu müssen. Denn je mehr die Sicherheitsbehörden investieren würden, umso mehr Anzeigen würde es – auch ganz in Anlehnung nach dem Lüchow-Dannenberg Syndrom – geben. Eine Situation die innenpolitisch auch ausgehalten werden müsste. Dazu kommt, dass die bisherigen Formen von Präsenz bei virtuellen Streifen für die Nutzer weitestgehend nicht erkennbar sind, die generalpräventive Wirkung, die beispielsweise durch Uniformen und Streifenwagen im Straßenverkehr entstehen, können so offenbar gar nicht erst im digitalen Raum greifen. Ohne diese Wirkung aber, könnten die Sicherheitsbehörden vermutlich noch so viel Personal im Netz einsetzen, ohne einen allzu großen Effekt zu haben. Denn dieser Raum besteht ja nicht nur aus deutschen Nutzern, sondern faktisch aus den weltweiten Internetnutzern. Dies zeigt sich gegenwärtig offenbar bei der digitalen Hasskriminalität, bei der sich trotz aller polizeilichen und kriminalpolitischen Maßnahmen die Situation, wie die dargestellte Studienlage zeigt, noch weiter verschlechtert hat.

Im digitalen Raum scheint eine Situation eingetreten zu sein, nach der Kriminalität so sichtbar wird, dass das von Popitz beschriebene Prinzip der „Präventivwirkung des Nichtwissens“, nach der das Vorhandensein eines Dunkelfelds einen normenstabilisierenden Faktor einnimmt, durchbrochen zu sein scheint (Rüdiger 2021). Das bedeutet, dass sich die Sicherheitsbehörden grundlegenden auch strukturellen Herausforderungen stellen müssen. Welche Aufgabe können sie wie in einem globalen digitalen Raum mit weltweiten Internetnutzern wahrnehmen, in dem Kriminalität für die Menschen transparent und wahrnehmbar wird, und gleichzeitig die Mechanismen der Normenkontrolle (noch) kein Gegengewicht bilden. Hier gibt es keine einfachen Antworten nach dem Motto, ich bilde mal X „Cybercops“ aus oder engagiere einige ExpertInnen. Wenn die Sicherheitsbehörden ihre Funktion als Normenkontrolle im Netz nicht vollends an große digitale Plattformen wie Meta verlieren wollen, dann braucht es jetzt die Entwicklung einer echten zukunftstragenden Polizeistrategie für einen digitalen Raum, die sich als Teil einer grundlegenden kriminalpolitischen, eventuell sogar globalen Neuausrichtung sieht. Diese Strategie darf dann auch nicht davor zurückscheuen, Fragen wie die Relevanz einer auf örtlicher Zuständigkeit basierenden polizeilichen Gefahrenabwehr im digitalen Raum, die absolute Gültigkeit des Legalitätsprinzips vor dem Hintergrund der Masse der digitalen Delikte und der damit erschwerten Schwerpunktsetzung, oder auch die nach der Sinnhaftigkeit einer föderativen Polizeistruktur in diesem Raum, zu stellen.

Seit etwa 10 Jahren war diese Entwicklung absehbar (Denef und Rüdiger 2013), es sollte nicht ein weiteres Jahrzehnt dauern bis man erkennt, dass es sich nicht einfach nur um „neue“ Kriminalitätsphänomene, sondern um einen gänzlich eigenständigen polizeilichen Einsatzraum handelt, der in einer Wechselwirkung mit dem analogen steht, aber dennoch auch etwas eigenständiges ist. Wenn es schon nicht bei den vergangenen Generationen geglückt ist, sollten doch zukünftige Generationen davor bewahrt werden, in einer Art anomischen digitalen Raum teilsozialisiert zu werden. Das erfordert eine Kraftanstrengung, die es aber wert sein wird.


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