Recht und Justiz

Novellierung des UZwG Bln – Die Rolle der Notrechte im öffentlichen Recht

Von Prof. Michael Knape, Berlin

6 Finaler Rettungsschuss durch Präzisionsschützen


Die Entwicklung der Geiselfälle in den zurückliegenden Jahren sowie der Amoktaten und auch der Vorgänge im terroristischen Bereich haben auf Seiten der Polizei dazu geführt, Einsätze dieser Art weitestgehend Spezialeinheiten zu übertragen; die Rede ist nicht nur vom Spezialeinsatzkommando (SEK), sondern vor allem auch vom Präzisionsschützenkommando (PSK). Kommen Präzisionsschützen zum Einsatz, werden diese – mehrere Präzisionsschützen – unter einer Befehlslinie eines Einsatzleiters – Polizeiführers – handeln, d.h. zeitgleich auf Befehl schießen. Das strafrechtliche Notwehr- bzw. Nothilferecht (§ 32 StGB) beruht jedoch auf der individuellen Entscheidung jedes Einzelnen. Dieses Recht setzt voraus, dass der einzelne die Notwehr- bzw. Nothilfesituation als gegeben ansieht/erachtet und sich sodann zum Handeln entschließt. Dem folgend, kann der Einsatzleiter – Polizeiführer – zu dem aus seiner Sicht bzw. Beurteilung der Lage nach einem günstigen Zeitpunkt den Schusswaffengebrauch nicht befehlen, sondern lediglich nur „freigeben“. Ob der Präzisionsschütze sodann die Schusswaffe tatsächlich gebraucht, also auf den Täter feuert, entscheidet dieser ganz allein für sich nach seinem Gewissen. Rechtlich hängt dies darüber hinaus auch davon ab, ob der jeweilige Präzisionsschütze die Nothilfesituation als gegeben ansieht oder nicht, ob dieser das Ziel – den Täter – klar anvisieren kann oder nicht.42 Was kann der Einsatzleiter – Polizeiführer – eigentlich „anordnen“ bzw. „freigeben“? Er kann auch nur das „anordnen“ bzw. „freigeben“, was das Gesetz vorsieht bzw. zulässt. § 9 Abs. 2 Satz 1 UZwG Bln sieht ausschließlich vor, den Angreifer „angriffs- oder fluchtunfähig zu machen“; keinesfalls aber zu töten. Der Einsatzleiter – Polizeiführer – kann demzufolge – unberührt vom Nothilferecht des § 32 StGB – den Schusswaffengebrauch nur auf Arme oder Beine des Täters „freigeben“, weil bereits ein Schuss in den Ober- oder Unterkörper des Menschen tödlich wirken kann. Die heute wohl in der Polizeiliteratur h.M. legt den Begriff der „Angriffsunfähigkeit“ zwar weit aus, so dass auch die stärkste und intensivste Form der Angriffsunfähigkeit, die Tötung des Angreifers, darunter fällt.43 Die Gegenmeinung in der weiteren Fachliteratur, die keine Polizeiliteratur ist, widerspricht dieser Auslegung jedoch vehement, nach hier vertretener Auffassung völlig zu Recht.44 Als Antwort auf die in Polizeikreisen vertretene Meinung ist der klare Wortlaut des Gesetzes entgegenzuhalten und daraus resultierend das Ergebnis, dass nach allgemeinen Sprachgebrauch „nicht angriffs- oder fluchtunfähig zu machen“ den lebenden und nicht den toten Täter meint. Ob der Polizeischütze einen Angreifer in Nothilfe tötet – in aller Regel durch einen sog. Sagittalschuss45– entscheidet nur dieser für sich allein im Einklang mit seinem Gewissen. Ob er sich rechtlich hierbei dann so ohne weiteres dem Grunde nach auf § 32 StGB berufen darf, ist streitig. Was fehlt? Neben dem Regelungsdefizit einer klaren öffentlich-rechtlichen Grundlage mangelt es zudem an der gesetzlichen Fürsorgepflicht des Gesetzgebers, ihm diese so schwerwiegende Entscheidungslast endlich durch eine klare und eindeutige gesetzliche Regelung i.S.e. Normierungdes sog. „Finalen Rettungsschusses“ abzunehmen, zumal jeder hoheitliche Schusswaffengebrauch, der den Tod des Angreifers herbeigeführt hat, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren nach sich zieht.

 

7 Fazit


Die strafrechtlichen Notrechte – Notwehr/Nothilfe gem. § 32 StGB – und die wohlfeile Formulierung des § 9 Abs. 4 UZwG Bln entlassen den Gesetzgeber keinesfalls aus seiner rechtlichen Verantwortung, den sog. „Finalen Rettungsschuss“ endlich im UZwG Bln normativ zu regeln. Wie dargelegt, können Notrechte des Straf- und Zivilrechts nach h.M. nicht als Rechtsgrundlage für staatliches Handeln dienen. Sie stehen dem Polizeivollzugsbeamten ganz ausnahmsweise lediglich als persönliche Rechtfertigungsgründe zur Seite.46 Insoweit gilt im konkreten Einzelfall einmal mehr der Grundsatz der freiem richterlichen Beweiswürdigung und der tatrichterlichen Überzeugung. Ordnet der Einsatzleiter – Polizeiführer – den Schusswaffengebrauch an – gibt er diesen also frei –, bleibt zu hoffen, dass dieser dann später auch voll und ganz hinter der Entscheidung des Schützen steht, wenn dieser womöglich den sog. Sagittalschussabgefeuert hat. Unabhängig von dem das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht beherrschenden Grundsatz, dass nicht nur aus der staatlichen Schutzpflicht für das bedrohte menschliche Leben eine „Ermessensreduzierung auf Null“ für die hoheitliche Abwehr von schweren Gesundheits- und Lebensgefahren folgt,47 sondern dass auch die ethische Pflicht eines jeden Polizeivollzugsbeamten existiert, zum Schutz des bedrohten Lebens aktiv zu werden, mithin die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der bedrohten Person zu treffen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Notrechtsvorbehalte – in Sonderheit das Notwehr- und Nothilferecht gem. § 32 StGB – rechtlich nicht ohne weiteres in Ansatz gebracht werden können, um Regelungslücken des öffentlichen Rechts verfassungskräftig, vor allem normenklar und dem verfassungsgemäßen Bestimmtheitsgebot folgend, wirksam bzw. nachhaltig zu schließen. „Die im öffentlichen Recht herrschende und im Strafrecht vordringende Auffassung geht davon aus, dass die Polizei aus den Notrechtsvorbehalten keine Nothilferechte ableiten kann (sic).“48


Bildrechte: M. Martins.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Verfasser war bis 2014 als DPPr Direktionsleiter u. zugleich Polizeiführer „Schwerstkriminalität“. Er lehrte an mehreren Hochschulen der Länder polizeiliches Eingriffsrecht. Zurzeit ist er Mitredakteur von DIE POLIZEI, Gutachter, Fachautor u. Lehrbeauftragter.
  2. Vgl. Knape/Schönrock, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin, 11. Aufl. (2016), Einleitung zum ASOG Bln, Rn. 5; dazu Knape, Das UZwG Bln – ein taugliches Gesetz zur Bekämpfung terroristischer Gewalttaten?, Die Polizei 2016, 93 ff.; ders., Ein Vorbild in Bezug auf Effektivität und Normenklarheit – Das ASOG Bln –, Die Polizei 2008, 157 (165); ebenso kritisch in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung Kutscha, Das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt – ein verdrängtes Problem, NVwZ 2004, 801 ff.; ders., Gezielter Todesschuss ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage?, Die Polizei 2008, 289 ff.; ferner Walter, Und noch eine Erwiderung oder Die endlose Geschichte vom finalen Rettungsschuss, Die Polizei 2009, 331 ff.; dazu Gintzel, Gezielter Todesschuss ohne Ermächtigungsgrundlage?, Die Polizei 2008, 333 ff.; ders., Die Polizei 2009, 114 ff., der abweichend von der h.M. zu dem (rechtlich bedenklichen) Ergebnis kommt, dass der „Finale Rettungsschuss“ bei verfassungskonformer Auslegung u. anlassbezogener Beurteilung des unbestimmten Gesetzesbegriffs „angriffsunfähig“ durch die Polizei unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i.w.S. auch dann zulässig sei, wenn das jeweilige Gesetz diesen legaliter nicht definiert u. das Grundrecht auf Leben entsprechend Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG als nicht einschränkbar zitiert.
  3. In § 3 UZwG (Bund) v. 10.3.1961 (BGBl. I S. 165), zuletzt geändert am 19.6.2020 (BGBl. I S. 1328), wird zwar das Grundrecht auf Leben zitiert, jedoch auf eine Regelung i.S.d. § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 1977 verzichtet. Gleichwohl ist eine mögliche Tötung durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch nicht von vornherein verfassungswidrig, weil das Grundrecht auf Leben entsprechend Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG als einschränkbar zitiert wird. Eingriffe in dieses Grundrecht sind somit zwar erlaubt, die Gesetzessystematik ist jedoch für den Rechtsanwender keinesfalls schlüssig. Wird ein Täter durch den Gebrauch der Schusswaffe im Rahmen der „Angriffs- oder Fluchtunfähigkeit“ so schwer verletzt (z.B. großer Blutverlust), dass dieser letztlich verstirbt, bleibt der hoheitliche Schusswaffengebrauch zwar rechtmäßig, anders jedoch bei unbedingtem Vorsatz oder bewusst in Kauf genommener tödlicher Wirkung durch gezielte Schussabgabe.
  4. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet der Verfasser auf eine geschlechterspezifische Differenzierung u. wählt infolgedessen das generische Maskulinum.
  5. Razzia in einem Lokal mit berüchtigten, kriminellen Clan-Angehörigen.
  6. Vgl. BVerfGE 61, 149 (199).
  7. Einsatzleiter einer Razzia in einem Lokal mit berüchtigten, kriminellen Clan-Angehörigen, wobei es zur Anwendung unmittelbaren Zwanges gegen einzelne Personen, die Widerstand leisten, kommt u. die insoweit Betroffenen gegen den Einsatzleiter Strafanzeigen wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 StGB) über ihre Rechtsanwälte erstatten, weil sie der Meinung sind, die Einsatzkräfte der Polizei seien zu hart gegen sie eingeschritten.
  8. Vgl. dazu BVerfGE 61, 149 (198); BGHZ 161, 6 ff.; BGH, NJW 2002, 3172 (3173); BGH, NVwZ 2002, 1276 (1277).
  9. Vgl. § 8 Abs. 1 UZwG Bln: „Der Gebrauch der Schusswaffe ist nur den Vollzugsbeamten gestattet, die dienstlich damit ausgerüstet sind.“
  10. Vgl. § 10 UZwG: „Der Gebrauch von Schusswaffen ist anzudrohen. Als Androhung gilt auch die Abgabe eines Warnschusses.“ Damit ist im Land Berlin jeder Schusswaffengebrauch nach öffentlichem Recht anzudrohen (Rechtspflicht [!]). Wird davon abgewichen, handelt der Schütze unter öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten rechtswidrig. § 10 UZwG Bln lässt insoweit keine Ausnahme von der Androhung des Schusswaffengebrauchs zu.
  11. In § 7 UZwG Bln wird das Grundrecht auf Leben nicht zitiert.
  12. Vgl. Art. 34 Satz 2 GG (Rückgriff); dazu auch Walter, in: Drews/Malmberg/Wagner/Walter, BPolG/VwVG/UZwG, Rn. 14 zu § 12 UZwG, 6. Aufl. (2019) mit Hinweis darauf, dass diese Art der Schussabgabe auch nach Bundesrecht (UZwG) umstritten ist, obwohl § 3 UZwG das Grundrecht auf Leben einschränkt, jedoch der Bundesgesetzgeber auf eine Regelung i.S.d. § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 1977 verzichtet.
  13. Vgl. Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. (2020), Rn. 25 zu Art. 34 GG.
  14. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rn. 16 zu § 9 UZwG Bln (S. 1013).
  15. Vgl. z.B. § 66 Abs. 2 BbgPolG.
  16. Vgl. § 9 UZwG Bln: Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch.
  17. Vgl. Walter, in: Drews/Malmberg/Wagner/Walter, a.a.O., Rn. 1 zu § 1 UZwG.
  18. Dazu schon Knape, Waffen der Berliner Polizei – Rechtslage: Taser (Distanz-Elektroimpulsgerät) als neue Polizeiwaffe und fehlende gesetzliche Regelung des Rettungsschusses, Die Polizei 2021, 342 (346).
  19. Vgl. Martens, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, BPolG/VwVG/UZwG, 5. Aufl. (2012), Rn. 76 zu § 3 BPolG mit Hinweis auf Tölle, DPolBl 3/2007, 23 (24).
  20. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rn.. 19 f. zu § 12 ASOG Bln; dazu auch Martens, a.a.O., Rn. 76 zu § 3 BPolG.
  21. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rn. 11 zu § 12 ASOG Bln.
  22. So schon Schertz, Zur Problematik des finalen Rettungsschusses, Die Kriminalpolizei 1990, 157 (159) bzw. 245 (247).
  23. Vgl. Schertz, a.a.O.
  24. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O., Rn. 13 zu § 9 Abs. 4 UZwG Bln (S. 1012).
  25. Vgl. grundlegend Amelung, NJW 1977, 833 (840) u. NJW 1978, 623 ff.; a.M. Schwabe, NJW 1977, 1902 ff.; Roos, Notwehr und Nothilfe: Ermächtigung oder Rechtfertigung?, Die Polizei 2002, 348 ff., Fn. 15, alle Quellen in: Knape/Schönrock, a.a.O., Rn. 14 zu § 9 Abs. 4 UZwG Bln (S. 1012).
  26. Vgl. Amelung, NJW 1977, 833 (840).
  27. Vgl. grundlegend Amelung, Die Rechtfertigung von Polizeivollzugsbeamten, Jus 1986, 329 (332).
  28. So Amelung, JuS 1986, 329 (331); ders. Badura-FS (2003) 3 (11).
  29. Vgl. Fischer, StGB, 68. Aufl. (2021), Rn. 12 zu § 32 StGB mit umfangreichem Literaturnachweis.
  30. Vgl. Fischer, a.a.O., Rn.. 12 zu § 32 StGB mit umfangreichem Literaturnachweis.
  31. Vgl. Amelung, JuS 1986, 329 (331).
  32. Vgl. Schwabe, NJW 1977, 1902 (1904) m.w.N., Fn. 16 ff.
  33. Vgl. Fischer, a.a.O., Rn. 4 zu § 32 StGB.
  34. Vgl. Fischer, a.a.O., Rn. 11 zu § 32 StGB.
  35. Am 4.8.1971 überfielen zwei Täter („Rammelmeierfall“) die Deutsche Bank in München, fesselten zwölf Angestellte sowie Kunden u. forderten zwei Millionen DM. Die Geiseln baten die Polizei ausdrücklich darum, nicht die Bank zu stürmen, weil sie sonst von den Tätern erschossen werden würden. Nach fast achtstündigen Verhandlungen mit der Polizei verließ ein Täter namens Rammelmeier das Gebäude u. ging mit vorgehaltener Waffe auf einen Fluchtwagen zu, in dem eine 19-jährige Geisel mit dem Geld saß. Als Rammelmeier im Begriff war, in den bereitgestellten Fluchtwagen einzusteigen, gab ein Staatsanwalt Feuerbefehl. Rammelmeier wurde zwar tödlich getroffen, konnte aber im Sterben noch schießen u. tötete dabei die in Fahrzeug sitzende Geisel. Ähnlich liegt der Fall anlässlich einer Geiselnahme in NRW (beginnend in Gladbeck) vom 16. Bis 18.8.1988, als letztendlich nach einem völlig missglückten Polizeieinsatz die junge Geisel Silke Bischof bei einem Befreiungsversuch der Polizei auf der Autobahn im Fluchtfahrzeug der Täter von einem der beiden Geiselnehmer (Rösner) erschossen wurde.
  36. Sog. Notzugriff der Polizei i.S.d. PDV 100, Anlage 20.
  37. Vgl. Fischer, a.a.O., mit Hinweis auf BGHSt 5, 248.
  38. Vgl. Riegel, ZRP 1978, 75 f.
  39. Vgl. Amelung, JuS 1986, 330 (332) mit Hinweis auf BGHSt 5, 245 (247 u. 248).
  40. Vgl. Riegel, a.a.O.
  41. Vgl. Fischer, a.a.O.
  42. Vgl. Schertz, a.a.O., 159 f. u. 247 f.
  43. Zur Problematik ausführlich schon Neuwirth, Polizeilicher Schusswaffengebrauch gegen Personen, 2. Aufl. (2006), S. 77.
  44. Vgl. Neuwirth, a.a.O., mit umfangreichem Literaturnachweis.
  45. Unter Sagittalschüssen versteht man Schüsse parallel zur Mittelachse des Körpers u. zur Pfeilnaht des Schädels, mit anderen Worten Längsdurchschüsse des Schädels, so Neuwirth, a.a.O., Rn. 177.
  46. Vgl. Neuwirth, a.a.O., S. 84.
  47. Vgl. Martens, a.a.O., Rn. 76 zu § 3 BPolG; dazu auch Knape/Schönrock, a.a.O., Rn. 19 zu § 12 ASOG Bln.
  48. Vgl. Amelung, JuS 1986, 329 (332) mit umfangreichen Literaturhinweisen in Fn. 41.

 

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