Wissenschaft  und Forschung

Die Propaganda der RAF zwischen Wahn und Wirklichkeit 1970-1998

Täter als Opfer und Opfer als Täter


Tatsächlich war die Mehrzahl der RAF-Mitglieder bei ihrer Verhaftung mit geladenen und entsicherten Pistolen bewaffnet, um sich einen Fluchtweg frei zu schießen. Das gilt u.a. für Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz bei ihrer Festnahme 1982 am RAF-Zentraldepot nahe Heusenstamm und für Christian Klar – äußerlich stark verändert und als Jogger getarnt – bei seiner Festnahme ebenfalls 1982 durch ein Großaufgebot an Spezialkräften, die dem Topterroristen erfolgreich eine Falle gestellt hatten, am RAF-Depot „Daphne“ bei Aumühle im Sachsenwald. Bei (versuchten) Verhaftungen töteten RAF-Kader mehrfach vor allem geringer besoldete Polizeibeamte, u.a. Norbert Schmidt 1971 und Michael Newrzella 1993, oder verletzten sie schwer. Immer wieder gebrauchten RAF-Täter bei ihren Anschlägen auch Schrapnellmunition, um besonders schwere Verletzungen zu verursachen. Nach Meinhofs „Schießbefehl“ starben auch mehrere RAF-Mitglieder, darunter Petra Schelm 1971, die auf jene Polizisten geschossen hatte, die sie daraufhin in Notwehr töteten. Um sich als Opfer des angeblich strukturell gewalttätigen „Kapitalismus“ zu stilisieren, überschrieb die RAF ihre Tatbekennungen („Kommandoerklärungen“) nach ihren Mordanschlägen üblicherweise mit den Namen von in Haft u.a. durch Selbsttötung gestorbenen oder bei Polizeieinsätzen getöteten RAF-Mitgliedern. Damit betrieb sie eine Art von Opferkult – zuletzt in ihrer Auflösungserklärung 1998.

Einen Höhepunkt erreichte die RAF-Propaganda gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ und gegen die „kapitalistische Klassenjustiz“ 1972 nach der Verhaftung fast der gesamten Spitze der sog. 1. RAF-Generation. Die 2. RAF-Generation mutierte daraufhin – und nicht erst 1977 – beinahe zu einer RAF-Gefangenen-Freipressungsvereinigung. Hierzu agitierte die RAF in enger Kooperation mit ihren Anwälten zum einen mit dem Propagandabegriff der „Isolationsfolter“ („Vernichtungshaft“) und agierte zum anderen in Justizvollzugsanstalten mit „kollektiven Hungerstreiks“, um den Kampf gegen das „Schweinesystem“ aus der Haft heraus fortzusetzen. Insbesondere „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ belegten aus RAF-Sicht die schleichende Entwicklung des bundesdeutschen „Kapitalismus“ zum „Faschismus“.

Zwar lebten RAF-Gefangene – wie Ulrike Meinhof in einem abgelegenen Teil der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf – phasenweise unter harten Haftbedingungen, die u.a. dazu dienten, bewaffnete Befreiungsversuche, wie sie die RAF durchaus propagiert hatte, und Selbsttötungen von Gefangenen zu erschweren. Kritiker monierten damals, die Zelle Meinhofs sei rund um die Uhr beleuchtet. Darüber hinaus dürfe sie im „toten Trakt“ nur selten Besuch empfangen und das ausschließlich unter polizeilicher Überwachung. Letztlich leide sie unter sozialer Isolation und sowohl akustischem als auch visuellem Reizentzug („sensorische Deprivation“). Meinhof scheute sich damals freilich nicht, das eigene Schicksal in Ossendorf mit den Mordfabriken in Auschwitz beinahe gleichzusetzen. Fast zeitgleich hatte sie den palästinensischen Mordanschlag auf israelische Sportler in München, mit dem auch sie freigepresst werden sollte, noch als „antifaschistische“ und antiimperialistische Großtat der „Menschlichkeit“ heroisiert.

Doch gerade in Stuttgart-Stammheim profitierte die RAF-Spitze von besonders generösen Haftumständen. In Stammheim brach der Strafvollzug unter dem Druck der damals breiten RAF-Sympathisantenszene mit zwei traditionellen Grundsätzen: Zum einen dem Prinzip, Männer und Frauen getrennt unterzubringen und zum anderen der Regel, Beschuldigte eines Verfahrens ebenfalls getrennt unterzubringen, um Absprachen zu erschweren. Dadurch verbrachten die privilegierten Häftlinge täglich mehrere Stunden miteinander im „Umschluss“. Obendrein empfingen sie häufig Besuch, genossen eine besondere Verpflegung und erhielten Sportgeräte – nicht zuletzt, um ihre Haft- und Verhandlungsfähigkeit im RAF-Prozess zu sichern. Beachtlich war neben Fernseh- und Radiogeräten auch die Literatur in den Haftzellen der RAF-Täter, darunter nicht nur Werke von Marx – als dem geistigen Urvater des gewaltsamen „Antikapitalismus“ –, Lenin und Mao, sondern auch „Guerilla“-Literatur u.a. über moderne Sprengtechniken und polizeiliche Fachliteratur u.a. über Fahndungsmethoden.Das alles vernebelten die „politischen Gefangenen“ der RAF, die entgegen ihrer Propaganda nicht wegen ihrer politischen Überzeugungen, sondern wegen des dringenden Verdachts schwerster Straftaten inhaftiert waren. Obendrein erreichten die RAF und ihre Anwälte – nach der Selbsttötung Ulrike Meinhofs 1976 nach schweren Auseinandersetzungen in der RAF-Spitze – die Verlegung Brigitte Mohnhaupts nach Stammheim. Damit wollten die zuständigen Politiker der RAF-Propaganda über die Haftbedingungen entgegenwirken. In Stammheim nutzten Baader und Ensslin die Zeit bis zur Haftentlassung Mohnhaupts im Februar 1977 freilich, um mit ihr die Mordanschläge der Folgezeit zu planen. Unter massivem Druck der „Stammheimer“ auf ihre Genossen im Untergrund forcierte die sogenannte 2. RAF-Generation um Mohnhaupt 1977 ihre Versuche, die inhaftierte RAF-Spitze nach dem Vorbild der Lorenz-Entführung freizupressen.

Die faktenferne RAF-Agitation gegen die „Isolationsfolter“ förderten u.a. zahlreiche RAF-Anwälte und Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre und Heinrich Böll, die sich frühzeitig an RAF-Desinformationskampagnen beteiligt hatten, indem sie die damalige Bundesrepublik in die Nähe des „Dritten Reiches“ rückten. Im Kern ging es der RAF freilich weniger darum, Haftbedingungen zu verbessern. Vielmehr zielte sie darauf, RAF-Täter zu Opfern zu stilisieren, um die wirklichen Opfer herabzuwürdigen und als die wahren Täter darzustellen. Zustimmend hatte sie in ihrem programmatischen Text „dem Volke dienen“ schon 1972 die Mao-Parole zitiert, wonach Bedeutung und Lebensrecht von Opfern „fortschrittlichen“ Terrors letztlich weniger wögen als „Schwanenflaum“ und getötete bzw. verstorbene Mitglieder der „Guerilla des Volkes“, also Täter, in ihrem Wert mehr Gewicht aufbrächten als ein „Berg“.

Als weiteres Druckmittel der RAF gegen den „faschistischen Repressionsstaat“ fungierten „kollektive“ Hungerstreiks. Gerade auch dadurch versuchte die RAF-Spitze, Täter als Opfer zu präsentieren. Hierbei kalkulierte die RAF-Spitze um Ensslin und Baader, die ihre Hungerstreiks immer wieder heimlich unterbrachen, frühzeitig mit Todesopfern unter ihren Gesinnungsgenossen, um den öffentlichen Druck auf die Politik zu erhöhen. Wörtlich hieß es dazu in einem Zellenzirkular von 1973: „Wir brauchen eine leiche...eine leiche und wir haben was in der Hand“. Daher forderten Ensslin und Baader von ihren Mitstreitern in den Hungerstreiks immer wieder, weiter an Körpergewicht zu verlieren.

Später, im November 1974, starb Holger Meins in der Justizvollzugsanstalt Wittlich/Mosel trotz Zwangsernährung an den Folgen des Hungerstreiks – nach seinem Tod bemängelten Kritiker medizinische Versäumnisse bei der ärztlichen Betreuung des Inhaftierten im Hungerstreik. Das wirkmächtige Bild seines Leichnams erinnerte Birgit Hogefeld an NS-Opfer in Auschwitz. Einen Tag nach dem Tod von Meins, den die RAF und ihre Anwälte zur Rekrutierung neuer Mitglieder gebrauchten, ermordete die „Bewegung 2. Juni“ den Präsidenten des Berliner Kammergerichtes, Günter von Drenkmann, der mit Terroristen-Prozessen nie befasst war, aber aus RAF-Sicht zur verhassten „Klassenjustiz“ gehörte. In ihren Bekennerschreiben versuchten die Täter, mit denen die RAF eine konfliktuelle Komplizenschaft verband, den Mord mit den Worten „wer gewalt sät, wird gewalt ernten“ zu rechtfertigen.

Nach dem Tod von Meins demonstrierten jeweils mehrere tausend Personen in mehreren Städten der Bundesrepublik gegen den demokratischen Rechtsstaat, der am Tod des Mitglieds der RAF-Kommandoebene mitschuldig sei. Gerade auch den Tod und das Foto des Leichnams von Holger Meins nutzte die RAF für ihren propagandistischen Kampf mit Worten und Bildern gegen den „faschistischen Repressionsstaat“, der das Mitglied der RAF-Kommandoebene ermordet habe. Ähnlich agitierte die RAF nach der Selbsttötung Ulrike Meinhofs im Mai 1976 und den Suiziden Andreas Baaders, Gudrun Ensslins und Jan-Karl Raspes im Oktober 1977 nach dem Scheitern mehrerer Versuche der sogenannten 2. RAF-Generation und ihrer palästinensischen Komplizen, durch Entführungen und Morde die inhaftierte Spitze der sog. 1. RAF-Generation freizupressen. Den Tod durch Selbsttötung in der „Stammheimer Todesnacht“ 1977 bestätigen später gerichtsmedizinische Gutachter aus dem In- und Ausland. Anhaltspunkte für schuldhaftes Verhalten Dritter verneinte die zuständige Staatsanwaltschaft damals. Mit ihren als „faschistische“ Morde präsentierten Selbsttötungen wollten Ensslin, Baader und Raspe dem „System“ offenbar einen letzten schweren Schlag versetzen und der RAF einen letzten Dienst erweisen – aus RAF-Sicht hatte der „kapitalistische“ Staat die Gefangenen entweder direkt ermordet oder ihren Tod durch „Repression“ zumindest indirekt verursacht. Nach der „Stammheimer Todesnacht“ rekrutierte die RAF für sich weiteren Nachwuchs.