Der G7-Gipfel von Elmau 2022

Von Dr. Udo Baron, Hannover

 

1 Wie alles anfing – Die Idee der Weltwirtschaftsgipfel und die Gegenproteste


Vor dem Hintergrund globaler Krisen in den 1970er-Jahren wie dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods mit seinen festen Wechselkursen und der ersten Ölkrise in deren Verlauf die Länder der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) den Ölpreis von drei Dollar auf 12 Dollar pro Barrel (159 Liter) innerhalb kürzester Zeit anhoben, entwickelten der französische Präsident Valery Giscard d´Estaing und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt die Idee, auf die zunehmenden globalen Wirtschaftsprobleme u.a. mit einem jährlichen Weltwirtschaftsgipfel der führenden Industrienationen zu reagieren. Diese Treffen sollten dabei einem regelmäßigen und weitgehend ungezwungenen Gedankenaustausch über die Weltwirtschaftslage dienen.

Vom 15. bis 17. November 1975 trafen sich daraufhin auf Schloss Rambouillet bei Paris erstmalig die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien und den USA in diesem Format. Mit der Aufnahme von Kanada im Jahre 1976 wurde aus der Gruppe der Sechs (G6) die Gruppe der Sieben (G7). 1977 stieß der Präsident der Europäischen Kommission, ausgestattet mit einem Beobachterstatus, hinzu. 1998 wurde Russland bis zur Annexion der Krim-Halbinsel im Februar 2014 als Vollmitglied aufgenommen, aus G7 war vorübergehend die Gruppe der Acht (G8) geworden. Neben den Vertretern der G7-Länder nahmen an den Gipfeltreffen regelmäßig auch Vertreter internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen (VN), der Welthandelsorganisation (WTO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Weltbank, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder des Internationalen Währungsfonds (IWF) teil. Inhaltlich stehen neben globalen wirtschafts-, entwicklungs- und währungspolitischen Fragen auch ökonomisch und ökologisch relevante Sonderthemen der globalen Politik wie vor allem in jüngster Zeit der Klimaschutz, die Energieversorgung und der internationale Terrorismus im Fokus der Gipfelteilnehmer. Die G7 bzw. G8 verstehen sich dabei als ein internationales Netzwerk ohne inhaltliche und substanzielle Vorschriften.2

Ihrer exklusiven Zusammensetzung aus den ökonomisch führendsten Ländern der Erde wegen – immerhin repräsentieren sie gegenwärtig noch immer 43% der weltweiten Wirtschaftsleistung – aber auch und vor allem wegen der Intransparenz ihrer Entscheidungsfindung unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Parlamente, stehen sie von Beginn an im Zentrum der Kritik sowohl von Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie der Anti-Globalisierungsbewegung oder in der jüngsten Zeit der Klimaschutzbewegung als auch von Linksextremisten. Inhaltlich wehren sich vor allem Linksextremisten gegen eine ihrer Meinung nach vom Neoliberalismus – verstanden als Synonym für Kapitalismus – und Imperialismus dominierten Welt. Ihrer Meinung nach treffen bei den G7-Gipfeln „die politischen Stützen für eine Weltordnung, die Krieg, prekäre Arbeit und Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, rassistische Flüchtlingspolitik und Neokolonialismus“ zu verantworten haben aufeinander, um „das globale System des Imperialismus aufrecht zu erhalten, das den Profit und geballte Kapitalmacht ganz grundsätzlich über die Bedürfnisse der Menschen stellt.“3

Begleitet werden die Gipfelproteste vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten von zumeist gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen autonomen Gruppierungen und der Polizei. Zu den traurigen Höhepunkten dieser Konflikte gehören sicherlich der Tod des italienischen Demonstranten Carlo Giulani und die mehr als 500 Verletzten während der Proteste gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua. Auch die gewalttätigen Ausschreitungen beim G8-Gipfel von Heiligendamm 2007 stehen dem nicht viel nach. So bildete sich am 2. Juni 2007 bei einer internationalen Großdemonstration in Rostock am Rande des G8-Gipfeltreffens ein aus etwa 2.000 Autonomen bestehender „antiimperialistischer Block“, aus dem heraus Steine gegen ein Sparkassengebäude und ein Hotel geworfen wurden. Im Rostocker Stadthafen eskalierte dann die Situation endgültig. Parkende Fahrzeuge wurden umgestürzt und teilweise in Brand gesetzt, Polizisten mit Pflastersteinen und Molotowcocktails attackiert. Mehr als 400 Polizisten wurden zum Teil schwer verletzt.4

 

2 Mobilisierungen gegen den G7-Gipfel von Elmau 2022 und Sicherheitsvorkehrungen


Wie zuletzt 2015 so hat die Bundesrepublik Deutschland auch 2022 wieder turnusgemäß den Vorsitz der G7-Staaten inne. Aus diesem Grunde richtete die Bundesregierung zum siebten Mal das jährliche Gipfeltreffen auf deutschem Boden aus, diesmal vom 26. auf den 28. Juni 2022 unter dem Motto „Fortschritt für eine gerechte Welt“ erneut im bayerischen Schloss Elmau zu Füßen des Wettersteingebirges in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Neben den Staats- und Regierungschefs der G7-Ländern nahmen auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teil. Zudem waren für den 27. Juni die Staats- und Regierungschefs aus Argentinien, Indien, Indonesien, dem Senegal und Südafrika eingeladen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war zu einer Arbeitssitzung zugeschaltet.

Nach dem von gewalttätigen Ausschreitungen zwischen der Polizei und gewaltbereiten Autonomen geprägten Treffen der aus den führenden Industrie- und Schwellenländern der Welt bestehenden Gruppe der Zwanzig (G20) in Hamburg 2017, kam es für die Organisatoren des G7-Gipfels in Deutschland 2022 darauf an, einen reibungslosen Gipfelablauf ohne Gewaltausbrüche zu gewährleisten. Nicht von Ungefähr fiel deshalb die Auswahl des Gipfelortes nach 2015 erneut auf Schloss Elmau. Konnte doch an gleicher Stelle der letzte G7-Gipfel auf deutschen Boden weitgehend problemlos durchgeführt werden.

Um einen reibungslosen Gipfelverlauf zu ermöglichen, schützten den Tagungsort zwei Sicherheitsringe: ein äußerer vom 19.6. bis zum 28.6. mit einem 16 km langen und bis zu drei Meter hohen Zaun rund um den Tagungsort auf den Gebieten der Gemeinden Krün, des Marktes Mittenwald und des Marktes Garmisch-Partenkirchen und ein vier Quadratkilometer großer innerer direkt um das Tagungshotel. Zugleich wurde eine Flugverbotszone bis an die italienische Grenze eingerichtet und eine aus Containern bestehende Festnahmesammelstelle mit 150 Plätzen. Etwa 18.000 Polizisten sicherten das Gipfeltreffen vor, während und nach den Protestaktionen ab.

Nach dem Bekanntwerden des Tagungsortes reaktivierten die Gipfelgegner das bereits 2015 zur Organisierung und Mobilisierung der Gipfelproteste ins Leben gerufene Aktionsbündnis „Stop G7 Elmau“, dem überwiegend nichtextremistische Organisationen wie „ATTAC München“ oder Klimaaktivisten von „Fridays for Future Deutschland“ und verschiedene Ortsgruppen von „Extinction Rebellion“ angehörten. Auch linksextremistisch beeinflusste Gruppierungen wie „Ende Gelände“ und das „Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus“ sowie linksextremistische Gruppierungen wie die „Antikapitalistische Linke Bayern/München“ und das „Offene Antikapitalistische Klimatreffen München“ beteiligten sich. Im Mittelpunkt der Gipfelproteste sollten wie schon 2015 zwei Großdemonstrationen stehen, eine in München und eine in Garmisch-Partenkirchen, wobei der Schwerpunkt auf der Veranstaltung in München liegen sollte.

Kurz darauf reaktivierten die Organisatoren auch die bereits für die Proteste von vor sieben Jahren eingerichtete Website „stop-G7-elmau.info“. Im weiteren Verlauf mobilisierten neben demokratischen Organisationen nunmehr auch verstärkt Linksextremisten, insbesondere antiimperialistisch und dogmatisch ausgerichtete, zur Teilnahme an den Protestaktionen. So rief das Bündnis „Perspektive Kommunismus“ (PK) zur Bildung eines „antikapitalistischen Blocks“ in den Demonstrationszügen auf. Bei der PK handelt es sich um einen aus verschiedenen kommunistischen Gruppen bestehenden antiimperialistischen Zusammenschluss von revolutionär-kommunistisch ausgerichteten Gruppen mit einem marxistisch-leninistischen Weltbild. Ihr Anspruch versteht sich „in dem Sinne [als] revolutionär, dass wir nicht lediglich Änderungen innerhalb der bestehenden Verhältnisse fordern, sondern anstreben, diese grundsätzlich zu überwinden.“ Ihrer Meinung nach haben die „revolutionären Kräfte […] die Aufgabe, die Organisierung der Klasse voranzutreiben, in deren objektivem Interesse eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse liegt.“5 Neben der PK warben vor allem dogmatische Linksextremisten aus der „Deutschen Kommunistischen Partei“ (DKP) und der „Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands“ (MLPD) sowie aus den ihnen nahestehenden Jugendorganisationen „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend“ (SDAJ) und „Rebell“ ebenso für die Teilnahme an den Protesten wie vereinzelt auch Anhänger türkischer linksextremistischer Organisationen wie „Young Struggle“ (YS)6 – die Jugendorganisation der türkischen „Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei“ (MLKP) – oder der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK).

Im Gegensatz zu dem Protestbündnis aus dem Jahre 2015 fehlte diesmal aber der bundesweit bedeutendste postautonome Zusammenschluss, die „Interventionistische Linke“ (IL), bei der Vorbereitung und Durchführung der G7-Proteste.7 Gehörte die IL im März 2015 im Rahmen der „Blockupy“-Proteste gegen die Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main und bei den Protesten gegen den G20-Gipfel von Hamburg 2017 im Kontext des „No-G20“-Bündnisses zu den zentralen Organisatoren der Proteste, so war sie 2022 nur indirekt durch das von ihr beeinflusste Klima- und Umweltschutzbündnis „Ende Gelände“ vertreten.

Anders als noch 2015 dominierten 2022 inhaltlich nicht das Thema „Globalisierung“ und somit die Anti-Globalisierungsbewegung das Protestgeschehen, sondern der Klima- und Umweltschutz in Verbindung mit der sozialen Frage. Entsprechend war der Aufruf „Klimakrise, Artensterben, Ungleichheit: Gerecht geht anders!“ formuliert.8 Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nahm auch die Friedensfrage in diesem Aufruf Raum ein. Dabei verurteilte zwar eine deutliche Mehrheit der Akteure den Krieg in der Ukraine, zugleich betonten sie aber: „Historisch hat die NATO, dominiert von G7-Staaten, den Konflikt befördert.“9

Unter dem Motto „Stop G7“ erfolgte für den Zeitraum vom 24. bis zum 29. Juni 2022 in Garmisch-Partenkirchen auf einer Wiese an der Loisach, am gleichen Ort wie vor sieben Jahren, die Einrichtung eines Camps für etwa 750 Teilnehmende. Die „Rote Hilfe“, welche linksextremistischen Straftätern juristischen und politischen Beistand während laufender Strafverfahren und im Falle einer Inhaftierung zur Verfügung stellt, richtete im Camp einen Rechtshilfe-Infopoint ein. Die Protestaktionen begleitete sie zudem im Rahmen eines Ermittlungsausschusses, der Rechtsberatungen vor Ort für Aktivisten anbot.10

3 G7-Gipfel und Protestchoreografie


Bereits im Vorfeld des G7-Gipfels kam es – wie bei anderen politischen Großveranstaltungen heutzutage fast schon üblich– zu militanten Aktionen von Linksextremisten. Ein „paar aktivistInnen aus dem norden“ hatten bereits über ein linksextremistisches Internetprotal angekündigt, dass sie sich „bewusst alle Formen des Handelns – auch die der Militanz – offen lassen“.11 So veröffentlichte in der Nacht auf den 19. Juni die linksextremistische Plattform „de.indymedia.org“ einen Beitrag, in dem sie als vertraulich eingestufte Dokumente der bayerischen Polizei zum G7-Gipfel aus dem Jahre 2015 als Download zur Verfügung stellte. Neben dem Einsatzbefehl, der Informationen zur Einsatztaktik und den Protokollstrecken enthielt, wurden so u.a. auch das „Einsatzhandbuch G7“ und Handlungsanweisungen bei Fest- und Gewahrsamnahmen öffentlich gemacht.12 Außerdem kam es innerhalb des Sicherheitsbereichs von Schloss Elmau mehrmals im Juni zu teils gefährlichen Manipulationen an Stromverteilerkästen, die mehrere Stromausfälle auslösten und auch Menschen hätten gefährden können.13

Einen traurigen Höhepunkt stellte sicherlich der Brandanschlag auf acht Mannschaftsbusse der Bundesbereitschaftspolizei am frühen Morgen des 22. Juni vor einem Münchner Hotel dar, in dem Einsatzkräfte für den G7-Gipfel untergebracht waren.14 Auch ein Farbanschlag in der Nacht auf den 21. Juni auf den Stuttgarter Standort des Allianz-Versicherungskonzerns sowie vereinzelte Schmierereien wie „G7 verschieben“ oder „No G7“ begleiteten das Gipfeltreffen. Zu einem Farbangriff auf die Münchner Rückversicherung während des G7-Gipfels gab es auch ein Selbstbezichtigungsschreiben auf einem linksextremistischen Internetportal. Darin heißt es: „Dieser exklusive Club führender imperialistischer Mächte [gemeint sind die G7-Staaten] versucht sich der Welt gegenüber als vernünftige und zur Zeit klimafreundliche Weltregierung darzustellen, während ihnen jedes Mittel Recht ist, ihr nationales Kapital im internationalen Wettbewerb einen Vorteil zu verschaffen. […] Obwohl die Bullen auch München für das Wochenende zu einer Festung gemacht haben, wollten wir es uns nicht nehmen lassen, das deutsche Kapital hinter den G7 mitten in München anzugreifen.“ Das Bekennerschreiben endet mit dem Aufruf: „Fight G7 in jedem Land!“15

Dezentrale Aktionen während des Gipfels gab es dagegen nur in Berlin. Dort führten Aktivsten z.B. am 26. Juni eine Protestaktion vor einem Hotel durch, welches vom selben Betreiber wie Schloss Elmau geführt wird.16 Einen Tag später blockierten etwa 80 Gipfelgegner die Eingänge und Zufahrten des Bundesministeriums der Finanzen und klebten sich an der Straße oder an Toren zum Innenhof des Gebäudes fest.17

Dagegen verliefen die im Vorfeld des G7-Gipfels stattgefundenen Treffen der G7-Fachminister ohne nennenswerte Störungen. So demonstrierten Teilnehmer im unteren zweistelligen Bereich störungsfrei gegen das Treffen der Außenminister vom 12. bis zum 14. Mai in Schleswig-Holstein und gegen das der Digitalminister am 10./11. Mai in Düsseldorf. Lediglich bei der Finanzministerkonferenz vom 18. auf den 20. Mai in Königswinter bei Bonn kam es im Nachgang zu vereinzelten Sachbeschädigungen. Bei der Tagung der Klima-, Energie- und Umweltminister versuchten Greenpeace-Aktivisten den Sicherheitsdienst des Tagungszentrums zu überrennen, ohne dass es ihnen gelang, die Konferenz zu stören.

Die erste Großdemonstration fand am 25. Juni in München, einen Tag vor dem Beginn des G7-Gipfels, unter dem Motto: „Klimakrise, Artensterben, Ungleichheit – Gerecht geht anders!“ statt.Während die Polizei von etwa 4.000 Demonstranten spricht, gaben die Veranstalter die Zahl der Teilnehmenden mit 6.000 Protestierenden an. Ursprünglich war mit mindestens 20.000 Menschen gerechnet worden – beim G7-Gipfel im Jahr 2015 waren es sogar noch etwa 35.000 gewesen. Es bildeten sich im Verlauf der Demonstration ein weitgehend aus Linksextremisten bestehender „antikapitalistischer Block“ mit dem es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, als eine Person vorübergehend festgenommen worden war, und ein „internationalistischer Block“ aus weitgehend türkischen Linksextremisten wie man unschwer an ihren mitgeführten Fahnen und Transparenten erkennen konnte. Zehn Personen wurden u.a. wegen Angriffen auf die Polizei, Beamtenbeleidigung und gefährlicher Körperverletzung festgenommen.18

Bei der Demonstration in Garmisch-Partenkirchen am 26. Juni kamen mit etwa 900 Protestierenden etwas weniger als die erwarteten gut 1.000 Teilnehmenden. 2015 waren es laut Polizeiangaben noch 3.600 Demonstrierende gewesen. Die von Linksextremisten angemeldete Kundgebung wurde von einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften begleitet. Aus einen weitgehend aus deutschen und türkischen Linksextremisten bestehenden „internationalistischen schwarzen Block“ wurden Pyrotechnik und Rauchtöpfe gezündet. Auch der Krieg in der Ukraine war bei dieser Veranstaltung kurzfristig Thema als G7-Gegner auf die Teilnehmenden einer Pro-Ukraine-Demonstration stießen. Auf „Fuck Putin“-Rufe der Pro-Ukraine-Kundgebung sollen sie mit „Fuck Putin – Fuck Nato“-Rufen geantwortet haben. Die Stimmung zwischen beiden Lagern wurde als hitzig beschrieben.19

Am 27. Juni bildete schließlich ein Sternmarsch mit rund 100 Teilnehmenden auf verschiedenen Routen als Radtour und Wanderung zum Gipfelort den Abschluss der Protestchoreografie. Nachdem zunächst das Verwaltungsgericht München und danach das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einen Eilantrag des Aktionsbündnisses „Stop G7 Elmau“ auf eine Demonstration in unmittelbarer Nähe zu Schloss Elmau abgewiesen hatten, durften dennoch 50 namentlich registrierte Demonstranten mit Bussen an den Sperrzaun gefahren werden, wo sie eine halbe Stunde innerhalb des äußeren Sicherheitsbereichs in Hör- und Sichtweite des Schlosses demonstrieren durften. Als sich einige „Aktivist:innen von Extinction Rebellion, Debt4Climate und Fridays For Future“20 auf die Zufahrtsstraße zum Tagungshotel setzten statt in die bereitgestellten Busse zu steigen, um symbolisch gegen den Abbruch ihrer Kundgebung zu protestieren, nahm die Polizei sechs von ihnen wegen des Verdachts der (versuchten)Nötigung vorläufig fest. Eine Teilnahme auch von Linksextremisten war aufgrund der behördlichen Beschränkungen und polizeilichen Begleitung des Sternmarsches nahezu ausgeschlossen.21

Auch die Teilnehmerzahl im Camp blieb deutlich hinter den Erwartungen von etwa 750 Personen zurück. Bereits am 27. Juni – und somit einen Tag vor Gipfelende – kam es zu ersten Abbauarbeiten. Am 28. Juni war das Lager geräumt und wurde am 29. Juni endgültig geschlossen.

 

4 Resümee

 

Linksextremisten hatten im Vorfeld angekündigt, sie wollen „der bayerischen Landeshauptstadt und an den Tagen darauf der Alpen-Idylle eine kollektive Lektion erteilen, die sie [gemeint sind die Gipfelteilnehmer und die Polizei] in ihrem Leben nicht vergessen werden“.22 Den Worten folgten – glücklicherweise – keine nennenswerten Taten. Im Gegensatz zum G20-Gipfel von Hamburg verlief der G7-Gipfel von Elmau des Jahres 2022 ebenso wie zuvor bereits der G7-Gipfel am gleichen Ort aus dem Jahre 2015 weitgehend störungsfrei und friedlich.

Auch wenn die Organisatoren der G7-Proteste in einer Pressemitteilung unter der Überschrift „Die Organisator:innen der G7-Proteste in Garmisch/Elmau blicken auf erfolgreiche Aktionstage zurück“ von „erfolgreichen Demos“ sprechen und ein weitgehend positives Fazit der Protesttage zogen,23 kann nicht übersehen werden, dass die Proteste gegen das Treffen der Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Wirtschaftsnationen nicht nur bei Linksextremisten, sondern generell auf ein deutlich geringeres Interesse als in den Jahren zuvor gestoßen sind. So konnten weit weniger Personen für die Teilnahme an den Protesten als erhofft motiviert werden. Eine Mobilisierung über den süddeutschen Raum hinaus hat kaum stattgefunden, auch aus dem europäischen Ausland fanden anscheinend nur wenige Teilnehmer den Weg nach Bayern. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So ließen ein gut zu schützender Tagungsort und massive polizeiliche Präsenz während des gesamten Gipfelverlaufs den Protestierenden kaum Raum für Aktivitäten und zogen sicherlich Frustrationen vor allem im autonomen Spektrum nach sich. Zudem gelang es den Organisatoren der Proteste trotz der Möglichkeit einer kostengünstigen Anreise mittels des bundesweit gültigen 9-Euro-Tickets nicht, ihre Klientel im ausreichenden Maße zu mobilisieren. Möglicherweise verhinderte das sommerliche Wetter höhere Teilnehmerzahlen, wahrscheinlich hielten aber auch die wieder deutlich gestiegenen Corona-Infektionszahlen und die Verteuerung des Alltags durch eine hohe Inflation potenzielle Demonstranten von einer Teilnahme ab. Wenigstens blieb den Protestierenden aber in diesem Jahr das Dilemma von 2015 erspart, wo die für den 8. Juni angekündigte Abschlusskundgebung in Garmisch-Partenkirchen nur noch als „Abschiedskundgebung“ mit etwa 20 Personen stattfinden musste, weil die meisten Angereisten bereits abgereist waren. Ein plötzlich einsetzendes Unwetter führte damals schließlich dazu, dass das Camp zudem von Wassermassen unterspült wurde.

Zwar beteiligten sich auch Linksextremisten an den Protesten, sie blieben aber eine deutliche Minderheit. Sie dürfte zuvorderst der Austragungsort hoch in den bayerischen Bergen von einer Teilnahme abgehalten haben. Die linksextremistische Szene ist eine urbane und keine ländliche. Sie braucht die Stadt wie der Fisch das Wasser, um erfolgreich agieren zu können. Infrastrukturelle Probleme wie fehlende Szenetreffpunkte und daraus resultierend unzureichende Übernachtungsmöglichkeiten taten ihr Übriges. Aus diesem Grunde hat sie sich zum einen schon beim G7-Gipfel 2015 eher zurückgehalten und sich zum anderen förmlich auf den G20-Gipfel von Hamburg „gestürzt“. Ferner ist die „Anti-Globalisierungsbewegung […] nicht mehr vorhanden“ wie die Perspektive Kommunismus konstatiert.24 Das Fehlen eines zugkräftigen Themas wie das der Globalisierungskritik aus früheren Jahren dürfte deshalb ebenso für die überschaubare Teilnehmerzahl an den Protesten verantwortlich gewesen sein wie die Erschütterungen der eigenen Weltbilder mit ihren klaren Freund-Feind-Schemata, die der russische Überfall auf die Ukraine seit Februar 2022 in der linksextremistischen Szene ausgelöst hat. Die aus diesem Krieg und seiner unterschiedlichen Bewertung, die von einer Verurteilung bis hin zur Rechtfertigung reicht, resultierenden Spannungen innerhalb der linksextremistischen Szene dürften dazu beigetragen haben, dass viele Linksextremisten zu Hause geblieben sind. Zudem fehlten im Gegensatz beispielsweise zum G20-Gipfeltreffen mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump, dem russischen Präsidenten Waldimir Putin und dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan polarisierende Persönlichkeiten. Ausländische Demonstranten, insbesondere aus dem südeuropäischen Raum, haben sich möglicherweise unter Auslassung von Elmau direkt auf den Weg zu den Protesten gegen den NATO-Gipfel vom 28. bis zum 30. Juni in Madrid gemacht.

Ein entscheidender Faktor für den schwachen linksextremistischen Protest dürfte neben der Abwesenheit des harten Kerns der bundesdeutschen autonomen Szene aus Städten wie Berlin, Hamburg und Leipzig das Fehlen der „Interventionistischen Linken“ (IL) als Mobilisator und Organisator gewesen sein. Selbst die „Perspektive Kommunismus“ hält hierzu fest: „Auffallend war die Abwesenheit von bewegungsorientierten Teile [sic!] der radikalen Linken“, womit die postautonomen Bündnisse im Allgemeinen und die IL im Besonderen gemeint sein dürften.25 Über die Gründe für die Abwesenheit der IL lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise stößt das postautonome Projekt mit seinem Ansatz, die linksextremistische Szene zu organisieren, zu vernetzen und zu re-ideologisieren und den demokratischen mit dem linksextremistischen Protest zu verzahnen an seine Grenzen. So ist das Grundsatzpapier der IL, ihr „Zwischenstandspapier“ aus dem Jahre 201426, bis heute noch nicht erkennbar weiterentwickelt worden. Stieg bislang die Anzahl ihrer Ortsgruppen über die Jahre kontinuierlich, so muss sie zurzeit mit dem Ausscheiden der Ortsgruppen Freiburg, Kassel, München und Münster aus der IL anscheinend einen erheblichen personellen Aderlass verkraften. Ihre Kritiker wie die bisherige Ortsgruppe Münster werfen der IL u.a. vor, sie habe „versucht, die eigene Ratlosigkeit und den Ideenverlust durch eine große, vermeintlich schlagkräftige, nach innen funktionstüchtige Organisation zu ersetzen“, um dann zu dem vernichtenden Fazit zu gelangen: „Wir wollten eine Organisierung neuen Typs und haben eine Organisation bekommen, die ihre Politik eher als Verwaltung denn als Suche nach radikalen Antworten versteht.“27 Für die IL geht es letztlich künftig verstärkt darum zu zeigen, dass sie neben der organisatorischen auch wieder die inhaltliche Schiene bedienen kann und mehr ist als nur ein „Kaffeefahrtenanbieter mit Wohlfühlpaket“ für Linksextremisten.

Der G7-Gipfel von Elmau 2022 war der erste internationale Gipfel in Deutschland nach dem in roher Gewalt ausgearteten G20-Gipfel von Hamburg aus dem Jahre 2017. Mit Blick auf die damals von Linksextremisten orchestrierte Gewalt ging es beim diesjährigen G7-Gipfel vor allem für Bundeskanzler Olaf Scholz als Gastgeber des Gipfeltreffens auch darum, der Welt zu demonstrieren, dass Deutschland ein internationales Großereignis weitgehend störungsfrei, sicher und ohne negative Bilder durchführen kann. Schließlich war er als damaliger Regierender Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg mitverantwortlich für das Desaster beim G20-Gipfel in seiner Heimatstadt. Aus sicherheitspolitischer Perspektive konnte dieses Ziel erreicht werden, denn wie schon der G7-Gipfel 2015 so verlief auch das Gipfeltreffen 2022 am selben Ort weitgehend störungsfrei. Die beiden Gipfel von Elmau sprechen daher dafür, auch künftig entsprechende Großereignisse bevorzugt in schwer zugänglichen und dadurch leichter kontrollierbaren Gegenden durchzuführen anstatt in Millionenmetropolen mit hohem linksextremistischen Personenpotenzial. So lässt sich die Sicherheit der Gäste besser gewährleisten, die Belastung der Bevölkerung durch entsprechende Ereignisse reduzieren und unschöne Bilder künftig eher vermeiden.

Anmerkungen

 

  1. Dr. Udo Baron ist seit 2008 als Referent für den Bereich Linksextremismus und seit 2021 auch für den Bereich Extremismus mit Auslandsbezug im Niedersächsischen Verfassungsschutz zuständig.
  2. Bundeszentrale für politische Bildung: Weltwirtschaftsgipfel, www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/21189/weltwirtschaftsgipfel, Stand: 20.10.2014.
  3. Perspektive Kommunismus, Fight G7 – Den Imperialismus treffen wir hier! vom 25.5.2022, in: perspektive-kommunismus.org/2022/05/25/fight-G7-den-imperialismus-treffen-wir-hier/ (gelesen am 14.7.2022).
  4. Vgl. Udo Baron, Der G7-Gipfel in Schloss Elmau, in: Politische Studien, Nr. 459 vom Januar/Februar 2015, S. 48-57, hier S. 50.
  5. Vgl. Perspektive Kommunismus, Über uns, in: perspektive-kommunismus.org/ueber-uns/ (gelesen am 14.7.2022).
  6. Young Struggle, Fight G7! – No war but class war! vom 22.6.2022, in: young-struggle.org/fight-G7-no-war-but-class-war/ (gelesen am 15.7.2022).
  7. Postautonome Zusammenschlüsse versuchen das linksextremistische Spektrum stärker zu vernetzen, besser zu organisieren und zu re-ideologisieren, um so die Schlagkraft der autonomen Bewegung zu erhöhen. Zugleich schließen sie taktische Bündnisse mit anderen Linksextremisten und aktionsbezogene mit dem demokratischen Spektrum. Die IL versucht so, eine Scharnierfunktion zwischen dem gewaltorientierten linksextremistischen Spektrum, den dogmatischen Linksextremisten und dem demokratischen Protest einnehmen und Bündnisse bis in die Mitte der Gesellschaft zu schmieden.
  8. Aufruf „Stop G7 Elmau“, in: www.stop-G7-elmau.info/vernetzung/aufruf/ (gelesen am 27. 6. 2022).
  9. Ebd.
  10. Rote Hilfe, EA während G7 in Elmau, in: rhmuc.noblogs.org/ea-waehrend-G7-in-elmau/ (gelesen am 27. 6. 2022).
  11. G7 in Bayern – Darf´s ein bisschen Militanz sein? vom 23.06.2022, in: de.indymedia.org/node/201166 (gelesen am 28.6.2022).
  12. Ohne Autor, Geheime Dokumente zum G-7-Gipfel 2015 aufgetaucht vom 19.6.2022, in: www.sueddeutsche.de/politik/elmau-g-7-gipfel-dokumente-1.5605400 (gelesen am 15.7.2022).
  13. Ohne Autor, Gefährliche Manipulationen an Stromverteilerkästen vor G-7-Gipfel vom 21.6.2022, in: www.welt.de/politik/deutschland/article239479143/G-7-Gefaehrliche-Manipulationen-an-Stromverteilerkaesten-vor-Gipfel.html (gelesen am 14.7.2022).
  14. Ohne Autor, Mutmaßlicher Brandanschlag auf Polizeiautos kurz vor G7-Gipfel vom 22.6.2022, in: www.welt.de/politik/deutschland/article239499907/Kurz-vor-G7-Gipfel-Mutmasslicher-Brandanschlag-auf-Polizeiautos-in-Muenchen.html (gelesen am 13.7.2022).
  15. Farbangriff auf Münchner Rückversicherung während G7, in: de.indymedia.org/node/201953 (gelesen am 13.7.2022).
  16. Vgl. Sebastian Weiermann, „Das ist ein Treffen der Schuldigen“ vom 27.6.2022, in: www.nd-aktuell.de/amp/artikel/1164882.gipfelprotest-das-ist-ein-treffen-der-schuldigen.amp.html (gelesen am 13.7.2022)
  17. Ohne Autor, G7-Protest: Sitzblockade vor Bundesfinanzministerium vom 27.6.2022, in: www.zeit.de/news/2022-06/27/klimaschuetzer-blockieren-finanzministerium-in-berlin (gelesen am 11.7.2022).
  18. Ohne Autor, Vermummte protestieren gegen G7-Gipfel mit Transparenten – und Rauchtöpfen vom 27.6.2022, in: www.spiegel.de/politik/deutschland/G7-gipfel-in-elmau-mehrere-verstoesse-gegen-das-versammlungsverbot-festgestellt-a-64bb6ab2-6033-4255-b42e-459c66e4d42b (gelesen am 13.7.2022).
  19. Vgl. Weiermann, Treffen der Schuldigen (Anm. 16).
  20. Pressemitteilung von Stop G7 Elmau vom 28.6.2022, in: www.stop-G7-elmau.info (gelesen am 28.6.2022).
  21. Vgl. Matthias Köpf/Patrick Wehner, Radeln mit der Polizeieskorte vom 27.6.2022, in: www.sueddeutsche.de/bayern/G7-elmau-demo-festnahmen-1.5610473 (gelesen am 14.7.2022).
  22. G7 in Bayern – Darf´s ein bisschen Militanz sein? vom 23.6.2022, in: de.indymedia.org/node/201166 (gelesen am 28.6.2022).
  23. Pressemitteilung von Stop G7 Elmau vom 28.6.2022, in: www.stop-G7-elmau.info (gelesen am 6.7.2022).
  24. Perspektive Kommunismus, Die Proteste gegen den G7 auf Schloss Elmau – Eine politische Nachbetrachtung, in: de.indymedia.org/node/207030 (gelesen am 11.7.2022).
  25. Ebd.
  26. Interventionistische Linke, IL im Aufbruch – ein Zwischenstandspapier, in: interventionistische-linke.org/positionen/il-im-aufbruch-ein-zwischenstandspapier (gelesen am 11.7.2022).
  27. IL Münster, Nichts bleibt, wie es war – 10 Jahre sind genug. Erklärung der IL Münster: Warum wir nicht mehr in der interventionistischen Linken Politik machen wollen vom 26.11.2021, in: ilmuenster.noblogs.org (gelesen am 28.6.2022).