Wissenschaft  und Forschung

Aktuelle Bedrohungen durch Islamismus und islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa

Von Prof. Dr. Stefan Goertz, Lübeck

3 Islamisten und Salafisten in Deutschland

 

3.1 Ideologie

 

Nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden zielt der Islamismus unter Berufung auf den Islam auf Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) der Bundesrepublik Deutschland ab. So basiere der Islamismus auf der Überzeugung, „dass der Islam nicht nur eine persönliche, private Angelegenheit ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmt“.17 Weiter führen die deutschen Verfassungsschutzbehörden aus, dass der Islamismus die Existenz einer gottgewollten und daher „wahren“ und absoluten Ordnung postuliert, die über den von Menschen gemachten Ordnungen stehe. Mit ihrer Auslegung des Islam stehen Islamisten damit im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Ein wesentliches ideologisches Element des Islamismus ist außerdem der Antisemitismus.

Salafismus wiederum ist eine fundamentalistische islamistische Ideologie und nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutzes gleichzeitig eine extremistische Gegenkultur mit einem alternativen Lebensstil mittels markanter Alleinstellungsmerkmale (Kleidung und Sprache). Dies zieht auch Personen an, die sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft (vermeintlich) marginalisiert fühlen. Gerade ungefestigte Personen, die auf der Suche nach einem Lebenssinn, nach Orientierung und Sicherheit sind, werden durch das umfassende salafistische Regelwerk angesprochen, das das tägliche Leben bis in die Details hinein bestimmt. Das Individuum wird im Salafismus zu einem Teil einer Elite, zum Vorkämpfer des „wahren Islam“, ausgezeichnet durch seine moralische Überlegenheit gegenüber einer „Welt des Verdorbenen“.18 Salafisten sehen sich als Verfechter eines ursprünglichen, unverfälschten Islam. Sie geben vor, ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Koran, dem Vorbild des Propheten Muhammad und der ersten drei muslimischen Generationen, den sogenannten rechtschaffenen Altvorderen (Arabisch Al-Salaf al-Salih), auszurichten. In dieser Konsequenz versuchen Salafisten, einen „Gottesstaat“ nach ihrer Auslegung der Regeln der Scharia zu errichten, in dem die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) Deutschland keine Geltung mehr haben soll.

3.2 Akteure und Strategien

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht aus dem Juni 2022 zählt aktuell über 28.290 Islamisten in Deutschland, davon über 11.900 Salafisten.19 Seit der Erhebung der Zahl der Salafisten in Deutschland im Jahr 2011 hat sich die Zahl der Salafisten mehr als verdreifacht. Die islamistische Organisation „Hizb Allah“ hat ca. 1.250 Mitglieder in Deutschland, die „Harakat al-Muqawama al-Islamiya“ (HAMAS) ca. 450, die „Türkische Hizbullah“ (TH) etwa 400, „Hizb ut-Tahrir“ (HuT) über 700, die „Muslimbruderschaft“ (MB)/„Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.“ (DMG) über 1.450, die „Tablighi Jama’at“ (TJ) 550 und die „Millî Görüş“-Bewegung über 10.000 Mitglieder in Deutschland. Dazu kommen weitere islamistische Organisationen wie die „Furkan Gemeinschaft“, die „Hezb-e Islami-ye Afghanistan“ (HIA) und sonstige Islamisten.20

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden analysieren, dass politische und jihadistische Salafisten dieselben ideologischen Grundlagen teilen. Sie unterscheiden sich vor allem in der Wahl der Mittel, mit denen sie ihre Ziele verwirklichen wollen. Politische Salafisten versuchen, ihre islamistische Ideologie durch intensive Propagandaaktivitäten – die sie als „Missionierung“ (Dawa) bezeichnen – zu verbreiten und die Gesellschaft in einem langfristig angelegten Prozess nach salafistischen Normen zu verändern. Es ist festzustellen, dass politische Salafisten in Deutschland ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele pflegen, weil religiös legitimierte Gewalt nicht prinzipiell ausgeschlossen wird.21

Die seit einigen Jahren anhaltende „Attraktivität des Salafismus“ verdeutlicht, wie wichtig sowohl die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihm als auch seine Aufklärung durch die Verfassungsschutzbehörden ist. Dies gilt umso mehr, als die jihadistische Ausrichtung des Salafismus „den Westen“ – symbolisiert in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Deutschlands – nicht nur ablehnt, sondern aktiv bekämpft: Sei es durch die Ausreise in sog. Jihad-Gebiete wie Syrien und Irak oder durch Anschläge in Deutschland und Europa.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert, dass die vielfältigen Propagandaaktivitäten von Salafisten, die sie verharmlosend als „Missionierung“ oder „Einladung zum Islam“ bezeichnen – in Wahrheit ist es eine systematische Indoktrinierung und oftmals auch der Anfang einer noch weitergehenden Radikalisierung – „erfolgreich“ sind: Der Salafismus ist nach wie vor die am stärksten wachsende islamistische Strömung in Deutschland. Dazu stellt die salafistische Szene in Deutschland ein wesentliches Rekrutierungsfeld für islamistische Terroristen und den Jihad dar. Quasi alle Personen mit Deutschlandbezug, die sich dem Jihad in Syrien und im Irak angeschlossen haben, standen zuvor mit der salafistischen Szene in Kontakt. Abschließend stellen die deutschen Verfassungsschutzbehörden fest, dass das Gefährdungspotenzial durch salafistische Akteure in Deutschland unverändert hoch ist. Zudem könnte Gewalt von Salafisten in Deutschland eine zusätzliche Dynamik durch Wechselwirkungen mit extremistischen Gruppen aus anderen, „verfeindeten“ ideologischen Lagern bekommen, wie in der Vergangenheit bereits deutlich wurde, zum Beispiel durch Rechtextremisten.22

 

4 Aktuelle Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa

 

4.1 Islamistische Gefährder und Jihad-Rückkehrer

Besonders konkrete terroristische Bedrohungen gegen in Deutschland und Europa augenblicklich und perspektivisch noch für viele Jahre von islamistischen Gefährdern und „relevanten Personen“ sowie Jihad-Rückkehrern aus dem Irak und Syrien aus.

Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) ist ein (islamistischer) Gefährder „eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung, begehen wird. Eine Person ist als relevant anzusehen, wenn sie innerhalb des extremistischen/terroristischen Spektrums die Rolle einer Führungsperson, eines Unterstützers/Logistikers, oder eines Akteurs einnimmt und objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung, fördert, unterstützt, begeht oder sich daran beteiligt, oder es sich um eine Kontakt- oder Begleitperson eines Gefährders, eines Beschuldigten oder eines Verdächtigen einer politisch motivierten Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere einer solchen im Sinne des § 100a Strafprozessordnung, handelt“.23

Nach Angaben der Bundesregierung hielten sich zum Ende des vierten Quartals 2021 bundesweit 328 Gefährder aus dem islamistischen Spektrum in Deutschland auf.24

Nach Angaben der Vereinten Nationen haben sich seit 2011 mehr als 40.000 Foreign Fighters (internationale Jihadisten) aus 110 Ländern jihadistischen Gruppen in Syrien und im Irak angeschlossen.25 Unter den ca. 6.000 Foreign Fighters aus Westeuropa waren u.a. 850 Briten und über 1.060 Deutsche.26 Mehr als ein Fünftel der deutschen Foreign Fighters ist weiblich, der überwiegende Teil der insgesamt gereisten Personen ist jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser Foreign Fighters befindet sich nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden momentan wieder in Deutschland. Es sind diese zurückgekehrten deutschen Foreign Fighters, die im Fokus polizeilicher und justizieller Ermittlungen stehen.

Nach Aussagen des Präsidenten des BKA, Holger Münch, geht von Teilen der nach Europa zurück gekehrten Foreign Fighters (Jihad-Rückkehrer) eine langfristige, kaum kalkulierbare Gefahr aus.27 Dabei stellen vor allem diejenigen Jihad-Rückkehrer ein besonderes Sicherheitsrisiko dar, die während ihres Aufenthaltes in Syrien und im Irak ideologisch indoktriniert, militärisch im Umgang mit Waffen und Sprengstoffen geschult wurden, Kampferfahrung gesammelt haben und gegebenenfalls mit dem Auftrag, Anschläge zu begehen, nach Europa zurückgeschickt wurden.Aus Gründen der geographischen Nähe stellen aber zukünftig nicht nur deutsche Jihad-Rückkehrer, sondern auch andere europäische und nordafrikanische Jihad-Rückkehrer terroristische Bedrohungen dar. Dadurch wird das jihadistische Personenpotenzial in Deutschland und Europa größer, heterogener und internationaler.

Die Erfahrungen der deutschen und europäischen Jihad-Rückkehrer im Orts- und Häuserkampf, das Know-How zum Bau von sog. Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), im Umgang mit militärischen Waffen sowie in Handstreich- und Hinterhaltstaktiken könnten auf ein historisches Niveau gestiegen sein. Sprich: Die terroristische Ausbildung und „Kampfpraxis“ stellen erhebliche Herausforderungen für die deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden dar. Belege dafür sind die islamistischen Anschläge der Jahre 2015 bis 2017 in Brüssel, Paris, Istanbul und London, die allesamt von Jihad-Rückkehrern verübt wurden.28

Neben der terroristischen „Kampfpraxis“ warnt EUROPOL mit Blick auf Jihad-Rückkehrer auch vor psychischen Veränderungen und einem besonderen Grad an Brutalität.29 In diesem Kontext verweist das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz auf die Studien einer Forschungsgruppe der Universität Konstanz, die das Verhalten in Bürgerkriegen untersucht und von „appetitiver Aggression“ spricht, um extreme Grausamkeiten zu erklären.30 So zeigen Forschungsergebnisse, dass mit dem Akt des Tötens emotionale Erregung, das Gefühl der Euphorie und der Schmerzunempfindlichkeit einhergehen können. Dabei kommt es zur Ausschüttung von Testosteron, Serotonin und Endorphinen. Das Gefühl der Macht überlagert das Gefühl der Entbehrung. Bei den Jihad-Rückkehrern – wie auch bei anderen Jihadisten – könnte das Töten durch Training automatisiert worden sein. Erlernte moralische Standards wurden evtl. „abtrainiert“ und in der Konsequenz könnte die Hemmschwelle für die Anwendung terroristischer Gewalt gesunken sein.

Von Jihad-Rückkehrern geht potenziell auch das Risiko aus, dass sie zur Radikalisierung anderer Personen beitragen. Dies kann zum Beispiel in Justizvollzugsanstalten geschehen (Radikalisierung von Mitgefangenen). Auch bei der Terrorismusfinanzierung und dem Aufbau terroristischer Netzwerke und Zellen könnten die Jihad-Rückkehrer eine bedeutende Rolle spielen. Zurück in Deutschland, kehrt nach Einschätzung der deutschen Sicherheitsbehörden der mit Abstand größte Teil der Jihad-Rückkehrer in das islamistisch-salafistische Milieu zurück und kann dort politisch-ideologische Führungsrollen übernehmen.

Zusammenfassend müssen islamistische Gefährder und Jihad-Rückkehrer als eine aktuell und zukünftig besondere – qualitative und quantitative – Herausforderung für die deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden und die Justizvollzugsanstalten bezeichnet werden.31