Es geht nicht allein um Cybercrime –

Fallzahlen, Devianz, Delinquenz und Handlungsbedarf in der Corona-Pandemie


Von Prof. Ralph Berthel, Frankenberg/Sa.

 

„Pandemie“ ist ein epidemiologischer Begriff. Er bezieht sich also auf die Epidemiologie als Teil der Gesundheitswissenschaften, die sich mit der quantitativen Erforschung von Gesundheitsrisiken von Gesellschaften befasst.2 Wer hätte noch vor zwei Jahren geglaubt, dass dieser Begriff für die Sicherheitsakteure eine derart herausfordernde Bedeutung erlangen würde, wie es seit dem Frühjahr 2020 der Fall ist. Mit diesem Aufsatz sollen mit Blick auf die Kriminalitätslage schlaglichtartig einige dieser Herausforderungen betrachtet werden, die im Zusammenhang mit der sog. Corona-Pandemie entstanden sind. Zugleich soll Handlungsbedarf insbesondere mit Blick auf die Kriminalwissenschaften skizziert werden.

1 Die Pandemie


Am 11. März 2020 hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den COVID-19-Ausbruch zu einer Pandemie erklärt. Diese Entscheidung wurde aufgrund der rapiden Zunahme der Fallzahlen außerhalb Chinas in einer steigenden Zahl von Staaten getroffen.3 Obwohl im Rahmen dieses Aufsatzes deviante und delinquente Handlungsmuster in Bezug auf die Pandemie und die zu deren Eindämmung ergriffenen staatlichen Maßnahmen aus kriminalwissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden sollen, erscheint es erforderlich, die Inhalte wesentlicher epidemiologischer Begriffe voranzustellen. „Eine Pandemie beschreibt die Ausbreitung einer Infektionskrankheit ohne örtliche Beschränkung über Kontinente und Ländergrenzen hinweg. Das unterscheidet sie von einer Epidemie. Zurück geht der Begriff Pandemie auf die altgriechische Wurzel Pandemia, die für das ganze Volk steht. […] Die WHO gibt eine solche Erklärung (Verf.: zur Einstufung einer Krankheit als Pandemie) anhand von sechs Stufen ab, in denen verschiedene Entwicklungsschritte beim Auftreten und der Entwicklung eines Krankheitserregers beschrieben werden. Auf der sechsten Stufe kommt es zu wachsenden und anhaltenden Infektionen von Mensch zu Mensch in der gesamten Bevölkerung und potenziell weltweit. Der pandemische Status wird erreicht. […] Die pandemische Einstufung eines Krankheitsausbruches bedeutet nicht, dass im Rahmen dieser Definition jedes Land Infektionsherde feststellen muss. Es bestehen aber die Möglichkeit und große Wahrscheinlichkeit, dass sich der pandemische Erreger schnell weltweit verbreitet. Pandemische Krankheitserreger sind deshalb so gefürchtet, weil sie in kurzer Zeit dazu führen können, Gesundheitssysteme zu überlasten.“4


Weder die Erfolgsaussichten noch die Plausibilität staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder das Gefahrenpotenzial für Einzelne soll hier Gegenstand der Darstellungen sein. Allerdings geht der Verfasser sowohl von der Richtigkeit der WHO-Einstufung, von der grundsätzlichen Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssektors und zum Schutz von Leben und Gesundheit von großen Teilen der Bevölkerung ebenso aus, wie von deren rechtsstaatlichem Zustandekommen.

 

2 Phänomenologie; ausgewählte Delikte mit CORONA-Bezug5

 

In der Folge werden einige Deliktsbereiche im Zusammenhang mit der Pandemie und den staatlichen Maßnahmen zu deren Eindämmung exemplarisch und kursorisch dargestellt.

2.1 Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland

Die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung zu Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während COVID-19-bedingter Ausgangsbeschränkungen veröffentlichten Cara Ebert vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Janina Steinert von der Technischen Universität München bereits im Juni 2020.6 Darin stellten sie u.a. fest:

  • Körperliche Gewalt: 3,1% der Frauen erlebten zu Hause mindestens eine körperliche Auseinandersetzung, zum Beispiel Schläge. In 6,5% der Haushalte wurden Kinder von einem Haushaltsmitglied körperlich bestraft.
  • Sexuelle Gewalt: 3,6% der Frauen wurden von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
  • Emotionale Gewalt: 3,8% der Frauen fühlten sich von ihrem Partner bedroht. 2,2% durften ihr Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlassen. In 4,6% der Fälle regulierte der Partner Kontakte der Frauen mit anderen Personen, auch digitale Kontakte, zum Beispiel über Messenger-Dienste.7


Bemerkenswert sind zweifelfrei auch die Policy-Empfehlungen, die die Autorinnen aus den Befunden der Studie ableiteten:

  • Hilfsangebote müssen besser in der Öffentlichkeit beworben werden, z.B. durch große Plakate in Supermärkten und Apotheken und durch Online-Anzeigen
  • Bei weitreichender Überwachung und Kontrolle durch einen Partner sind telefonische Beratungsangebote für betroffene Frauen schwer zu nutzen: Hilfe und Beratungen müssen auch online angeboten werden.
  • Das Konflikt- und Gewaltpotential in Haushalten mit Kindern ist deutlich erhöht: Es müssen Notbetreuungen für Kinder bereitgestellt werden, die nicht nur von Eltern in systemrelevanten Berufen genutzt werden können
  • Psychologische Beratungen und Therapien müssen ebenfalls online angeboten werden und die Nutzung muss niedrigschwellig sein
  • Frauenhäuser und Hilfestellen müssen systemrelevant bleiben.

2.2 Cybercrime

Mit einem Anstieg von 7.605 Fällen (6,2%) zählt Computerkriminalität zu den Deliktsbereichen, die im vergangenen Jahr entgegen dem Gesamttrend einen deutlichen Zuwachs bei den erfassten Fällen in der Polizeilichen Kriminalstatistik aufweisen.


In der Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie8 charakterisiert das Bundeskriminalamt das Täterhandeln in diesem Bereich wie folgt: „Cyberkriminelle fanden schnell einen Weg,um die Ausbreitung des Virus, die damit einhergehenden Sorgen und Unsicherheiten in der Bevölkerung sowie die vermehrte Nutzung von digitalen Angeboten für ihre Zwecke zu missbrauchen.“ Das BKA nennt in diesem Kontext folgende Modi Operandi:

 


Quelle: BKA, Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie, S. 4.

 

2.3 Spezifische Betrugsdelikte mit CORONA-Bezug

Beispiele für Betrugsdelikte, bei deren Tatausführung sich die Täter staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und/oder die Verunsicherung von Teilen der Bevölkerung in diesem Zusammenhang zunutze machen, sind etwa das Anbieten medizinischer Geräte und Atemschutzmasken über Fake-Shops. Dabei ist es das Ziel der Täter, Geldbeträge zu erlangen. Waren werden hingegen nicht geliefert. Oder sie geben sich als infizierte Angehörige aus, um Geld bei ihren Opfern zu erschleichen. In anderen Fällen gaben sich die Täter als Ärzte aus, riefen Bürger an und teilten diesen mit, dass Angehörige schwer an Corona erkrankt seien und auf der Intensivstation lägen. Angeblich könne nur ein noch nicht zugelassenes Medikament diese Verwandten retten, welches vorfinanziert werden müsse.9 Bei einer anderen Begehungsweis geben Täter vor, als Amtspersonen zu handeln, die vor allem bei älteren Menschen Tests auf das COVID-19-Virus durchführen wollten. Mit diesem Vorgehen wurde zumeist das Ziel verfolgt, in die Wohnung ihrer Opfer zu gelangen, um dort nach Bargeld, Schmuck oder anderen Wertsachen zu suchen und sich diese anzueignen.


Eine spezifische Form des Abrechnungsbetrugs wurde im Mai 2021 bekannt. Mehrere Betreiber von Corona-Teststellen hatten gegenüber Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in den jeweiligen Bundesländern mehr Tests in Rechnung gestellt, als tatsächlich vorgenommen worden waren.10 Auffällig waren in diesem Zusammenhang weniger der Modus Operandi oder die öffentliche Empörung, sondern aus kriminalistischer Sicht vielmehr, dass es im Vorfeld sowohl bei den politisch Verantwortlichen, dem Bundesgesundheitsministerium als Verordnungsgeber für die einschlägige sog. Coronavirus-Testverordnung11 als auch den ausführenden Stellen, insbesondere den KV und dem Bundesamt für Soziale Sicherung, das für die Auszahlung der Beträge Verantwortung trug, offenbar keinerlei Problembewusstsein in Bezug auf Sicherheit und entsprechender Kontrollen gab.12

 


„Corona-Mobil“ in Schleswig-Holstein: In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle wurde von den Betreibern der Teststellen ordnungsgemäß abgerechnet

 

3 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 202013


In der PKS 2020 heißt es einleitend: „Bei der Betrachtung der Anstiege und Rückgänge im Vergleich zum Vorjahr werden die vielfältigen Einflüsse der Corona-Pandemie, insbesondere im Zusammenhang mit dem Lockdown im Frühjahr 2020, auf die Kriminalitätsentwicklung deutlich. Die damit verbundenen Einschränkungen hatten beispielsweise Einfluss auf die Mobilität, auf die Präsenz im öffentlichen Raum und führten somit auch zu einer Veränderung von Tatgelegenheiten. Wegen der ausgangsstatistischen Erfassung in der PKS werden die mit der zweiten Welle der Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown ab November im Zusammenhang stehenden Veränderungen überwiegend erst anhand der PKS-Tabelle 08 Tatzeitstatistik für das Berichtsjahr 2020 im Vergleich zu 2019 ersichtlich werden.“14


In postfaktischen und von Behauptungen statt Wissen geprägten Zeiten erscheint eine solche unaufgeregte und faktenbezogene Bewertung abgebildeten Datenmaterials hervorhebenswert.

3.1 Eigentumskriminalität – Wenn die Tatgelegenheiten fehlen

Während bei der Gesamtkriminalität im Vergleich zum Jahr 2019 ein Rückgang der Fallzahlen von insgesamt 2,3% zu verzeichnen ist, wird (wie auch in den Vorjahren) deutlich, dass dieser sich nicht gleichmäßig auf die Deliktsbereiche verteilt. Zum Teil signifikante Anstiege sind etwa bei Straftaten der Computerkriminalität (+6,2% = 7.605 Fälle) sowie bei Tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen (+5,9% = 878 Fälle) festzustellen.


Der Rückgang der Fallzahlen wird insbesondere durch folgende Delikte//Deliktsgruppen geprägt. Zu nennen sind etwa der Rückgang bei Erpressung um 32,4% (= 5.133 Fälle), ausländerrechtlichen Verstößen (-11,2 Prozent = 18.534 Fälle) und Beförderungserschleichung (-10,5% = 20.867 Fälle). Mit 139.602 Fällen (-7,7%) ist im Diebstahlsbereich der zahlenmäßig deutlichste Rückgang zu verzeichnen. In der PKS wird dafür folgende Erläuterung gegeben: „Gründe (Verf.: für den Rückgang der Fallzahlen im Bereich Diebstahlskriminalität) dürften auf die durch die Corona-Maßnahmen veränderten Tatgelegenheitsstrukturen zurückzuführen sein, wie bspw. Einschränkungen des öffentlichen Lebens, höhere Zeitanteile ‚zu Hause‘. Relevanz dürften hier auch verstärkte Grenzkontrollen haben. Eine Zunahme von 10.245 Fällen gab es bei Diebstahl in/aus Boden-, Kellerräumen und Waschküchen um +10,6% auf 107.344 Fälle. Evtl. handelt es sich um eine Verlagerung mangels Möglichkeit zum Wohnraumeinbruch durch höhere Anwesenheitszeiten der Bewohner.“15


Hingegen dürften die optimistischen Aussagen von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht zur PKS, in denen sie den Rückgang der Fallzahlen im Bereich Wohnungseinbruchsdiebstahl mit den Worten „Die harte Gangart gegen Wohnungseinbrüche wirkt, die wir in den letzten Jahren mit Strafverschärfungen, erweiterten Ermittlungsmöglichkeiten und einem konsequenten Vorgehen der Polizei eingeschlagen haben.“16 begründet, zu hinterfragen sein. Das nicht nur vor dem Hintergrund der ausgangsbeschränkenden Maßnahmen und der damit verbundenen deutliche Verringerung von Tatgelegenheiten, sondern auch mit Blick auf den bereits von Cesare Beccaria im 18. Jahrhundert formulierten Grundsatz, dass nicht die Schwere der Strafe bzw. der Strafandrohung, sondern vielmehr deren Unabwendbarkeit, also deren konsequente Anwendung für die gesellschaftliche Wirksamkeit des Strafrechts von Bedeutung sei.

3.2 Straftaten aus dem Umwelt- und Verbraucherschutzsektor

Die Zunahme der Straftaten aus dem Umwelt- und Verbraucherschutzsektor um 27,9% auf 40.192 Fälle resultiert aus dem Anstieg der Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz von 61 Fällen im Berichtsjahr 2019 auf 6.779 Fälle im Berichtsjahr 2020 und steht im Zusammenhang mit der Kontrolle der Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie, wie u.a. Quarantäneverstöße.17

3.3 Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen

Auffällig, wenngleich auch nach Aussagen von BKA-Präsident Münch in der Pressekonferenz zur PKS nicht eindeutig den Anti-Corona-Demonstrationen zuordenbar, ist der Anstieg der tätlichen Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen um immerhin fast 6%.18 Dieser Umstand verdient sicher einer gerade kriminologischen Betrachtung.

 

 

4 Ängste – Fakenews – Querdenkerdemonstrationen – Spannungsfeld zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Nährboden für Kriminalität


Grundsätzlich erscheint das Erkennen und Abwägen von Gefahren, um entsprechende „Gegenmaßnahmen“ ergreifen zu können, in der menschlichen Evolutionsgeschichte als sinnvoll und sogar erforderlich. In diesem Zusammenhang ist es auch durchaus nachvollziehbar, dass sich Menschen ein eigenes Bild von der Realität versuchen zu schaffen. Basiert dieses allerdings auf Falschmeldungen bzw. -interpretationen und stoßen die subjektiven Realitäten an die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten bzw. Tolerablen und wird es handlungsleitend, dürften wir es wohl mit deviantem, bisweilen auch delinquentem Verhalten zu tun haben.


Die Falschmeldungen oder alternative Fakten im Zusammenhang mit dem Gefahrenpotenzial der Pandemie, den staatlichen Maßnahmen, Impfungen und Einschränkungen von Freiheitsrechten sind derart mannigfaltig, dass allein schon der Versuch, die wesentlichsten aufzuführen, scheitern würde. Sie reichen von dem Vorwurf, die Weltgesundheitsorganisation habe die Pandemiephasen geändert, damit sie die Pandemie ausrufen könne19 über Behauptungen, Corona-Impfstoffe schädigten das menschliche Erbgut20 bis hin zu Behauptungen, die Einführung des 5G-Mobilfunkstandards würde Strahlungen verursachen, die menschliche Zellen schädigten und wehrlos gegen COVID-19 machten.


Im Zusammenhang mit der kriminalistischen Bewertung der exemplarisch dargestellten Falschmeldungen und sog. alternativen Fakten ist weniger das evolutionär sinnvolle menschliche Verhaltensmuster, sondern das Aktivierungspotenzial für radikales und strafrechtlich relevantes Handeln von Bedeutung. Und die Frage tut sich auf, was wir darüber wissen.

 

5 Corona-Proteste, Radikalisierungspotenziale – Was ist bisher bekannt?


Es sind nicht nur die Demonstrationen, deren Bild sowohl durch Reichskriegsflaggen,21 wirre und hasserfüllte Reichsbürger-, Impfgegner- und G5-Gegnersprüche genauso geprägt sind wie auch durch Antifa- oder Regenbogenfahnen22. Es sind bisweilen fast schon bizarr wirkenden Auftritte von Wissenschaftlern und vermeintlichen Experten im Bereich der Epidemiologie,23 die einerseits das Gefühl von Daueralarm24, Angst und notwendiger Abwehr- bzw. Verteidigungsmentalität stützen. Es ist andererseits auch die Frage, wo das Potenzial für Hass- und Gewaltdelikte, die im Umfeld solcher Aktionen bzw. Auftritte existent sind, herrührt. Und die Rede ist hier u.a. von Angriffen auf Impfbusse (vgl. Foto), Bedrohungen von Virologen, Politikern wegen deren „CORONA-Politik“25, Journalisten26 sowie von Angriffen auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen (vgl. Ausführungen zur PKS.).


In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 wird das Thema „Alternative Fakten“ bzw. „Fakenews“ für Deutschland damit verbunden, dass deren „Produktion“ meist auf „ein spezifisches rechtspopulistisches Milieu“ abziele.27 Nicht nur mit Blick auf die durch eine kaum noch überschaubare Anzahl von Falschmeldungen zur Corona-Pandemie und den Maßnahmen zu deren Eindämmung28 angeheizte Stimmung in sozialen Medien und auf den Straßen deutscher Städte erscheint diese Fokussierung auf das rechtspopulistische Milieu ergänzungswürdig. Das Spektrum derer, die derartige alternative Fakten aufbringen, verbreiten und derer, die diese nicht nur konsumieren, sondern diese als handlungsleitend für ihr zunehmend häufiger aggressives, nicht selten strafrechtlich relevantes Handeln nutzen, dürfte deutlich über das rechtspopulistische Spektrum hinaus reichen. Die Frage drängt sich auf, welche wissenschaftlichen Befunde es dazu gibt und inwieweit die Kriminalwissenschaften, namentlich die Kriminologie, dabei einen Beitrag leisten.

 


Beschmierter Impfbus des DRK im Vogtland - April 2021 (Quelle: DRK in Sachsen)


Erste analytische Ansätze zum Protestspektrum und dem sich dar-aus ableitenden Radikalisierungspotenzial und letztlich auch kriminogenen Tendenzen wurden im Rahmen der im März 2021 veröf-fentlichen Studie „Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-

Protests in Deutschland“ des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozial-forschung dargestellt.29 Die Autoren der Studie gelangen dabei u.a. zu der Feststellung: „Das Mobilisierungspotenzial des Corona-Protests besteht folglich nicht nur aus den radikalen Rändern der Gesellschaft, sondern zu erheblichen Teilen aus einer von den etablierten Parteien nicht repräsentierten politischen Mitte, die der staatlichen Politik insgesamt misstrauisch gegenübersteht. Diese misstrauische Mitte besitzt aufgrund ihrer Nähe zu Verschwörungstheorien ein erhebliches Potenzial für eine weitere politische Radikalisierung.“30


Eines der bemerkenswerten Analyseergebnisse dieser Studie ist, dass Protestbefürworter ein starkes Misstrauen gegenüber der Bundesregierung und die Sorge um Freiheitseinschränkungen eint. Zudem stellten die Autoren fest, dass die Befragten, die das Mobilisierungspotenzial für den Corona-Protest bilden, sich mehrheitlich in der politischen Mitte verorten. Sie kommen allerdings auch zu dem Schluss, dass diese „misstrauische“ Mitte im Mobilisierungspotenzial für den Corona-Protest aufgrund ihrer Nähe zu Verschwörungstheorien ein erhebliches Potenzial für eine weitere politische Radikalisierung besitze. Und auch zu dieser Radikalisierungsgefahr des Mobilisierungspotenzials trifft die Studie bemerkenswerte Aussagen. So stellen die Autoren fest, dass sich der „Querdenken-Protest“ nicht auf dem für die neuere deutsche Protestgeschichte charakteristischen Weg der „Normalisierung“31 zu befinden scheine, sondern auf dem Weg der Radikalisierung.32


Ausgehend von diesen Befunden könnten sich Hypothesen sowohl mit Blick auf Neutralisationstechniken nach Sykes und Matza (im Sinne von Misstrauen und Verurteilen staatlichen Han-delns als autoritär und antidemokratisch) als auch die Anomie-theorie nach Durkheim und Merton bzw. Agnews General Strain Theory (also die Ableitung von deviantem/delinquentem Handeln aus Stresssituationen und/oder durch das Schwinden „sicherer“ Struktur- und Ordnungsprinzipien, das zu Schwächung gesell-schaftlicher Bindungskräfte führen kann.) ableiten lassen. Hier anzusetzen, dürfte namentlich für die kriminologische Forschung eine wesentliche und insbesondere hoch aktuelle Aufgabe sein.

6 Und weiter?


Seit einem reichlichen Jahr hat sich in Deutschland ein sich ständig weiter radikalisierendes sog. Protestpotenzial gezeigt. Wo kam es her? Was sind die soziokulturellen Rahmenbedingungen, die derartiges Verhalten in Größenordnungen hervorbrachte? Dabei ist der Begriff „Protestpotenzial“ eher relativierend, da er von den handelnden Individuen abzulenken scheint. Er bedeutet zehntausende Menschen! Auf welche gesellschaftlichen Themen werden sich diese Menschen, die jetzt, in der aufgeklärten Wissensgesellschaft der Bundesrepublik lebend, gestützt auf abenteuerliche Verschwörungstheorien, Mythen, den misstrauischen Bürger glauben verkörpern zu müssen und hasserfüllt Menschen bedrohen oder tätlich angreifen, Sachbeschädigungen begehen, künftig in ihrem selbstdefinierten Widerspruchsgeist fokussieren? Welche sind deren Werte? Mit Solidarität und Humanismus können diese nichts zu tun haben. Was für eine Erkenntnis! Diese Menschen sind unter uns und jedenfalls ich werde auch nach der Pandemie ihr Verhalten nicht beiseitelegen und unbeschwert zur Tagesordnung übergehen können.


Bildrechte: Autor, BKA, DRK, Redaktion.

 

Endnoten

 

  1. Der Verfasser studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berufliche Stationen waren u.a.: Kriminalistik-Dozent an der damaligen Polizei-Führungsakademie in Münster-Hiltrup (2001-2005), Leitung der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/O.L. (2005-2013) sowie Leitung der Abteilung Auswertung und Ermittlungen im Landeskriminalamt Sachsen (2015-2019) und Vertretung der Polizei Sachsen in der Kommission Organisierte Kriminalität der AG Kripo. Er ist Ehren-professor (Pocetnyi Professor) der Belgoroder Juristischen Hochschule des Ministeriums des Innern Russlands. Der Autor ist Dozent im Masterstudiengang „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“ an der Ruhr-Universität Bochum und im Masterstudiengang „Öffentliche Verwaltung – Polizeimanagement“ an der Deutschen Hochschule der Polizei sowie Modulverantwortlicher im Masterstudiengang „Kriminalistik“ an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik e.V. Erreichbarkeit: [email protected].
  2. flexikon.doccheck.com/de/Epidemiologie.
  3. Weltgesundheitsorganisation, Regionalbüro für Europa, WHO erklärt COVID-19-Ausbruch zur Pandemie, www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic.
  4. Klein, Manfred, Was ist eine Pandemie? Healthcare Computing, 2.7.2020, www.healthcare-computing.de/was-ist-eine-pandemie-a-945932/.
  5. In Anlehnung an die Wortwahl des BKA in der Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie (S. 7) findet die Begrifflichkeit „Straftaten oder Delikte mit CORONA-Bezug“ Verwendung
  6. Technische Universität München, Häusliche Gewalt während der Corona-Pandemie, www.tum.de/nc/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/36053/.
  7. Die Autorinnen wiesen darauf hin, dass ein Vergleich dieser Daten mit solchen aus der Zeit vor der Pandemie nicht aussagekräftig sei, da bisherige Studien nach Gewalterfahrungen innerhalb längerer Zeiträume gefragt hatten, nicht aber nach einem Zeitraum weniger Wochen.
  8. BKA, Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie, 2020, S. 1.
  9. Blick.de, Betrug: Helios Klinikum Aue warnt vor falschen Ärzten, 5.3.2021, www.blick.de/erzgebirge/betrug-helios-klinikum-aue-warnt-vor-falschen-aerzten-artikel11379666.
  10. Spitze des Eisbergs? Betrugsverdacht in Testzentren zieht Kreise, Wirtschaftswoche, 30.5.2021, www.wiwo.de/politik/deutschland/spahn-fordert-mehr-kontrollen-spitze-des-eisbergs-betrugsverdacht-in-testzentren-zieht-kreise/27238972.html.
  11. Bundesministerium für Gesundheit, Verordnung zum Anspruch auf Testung in Bezug auf einen direkten Erregernachweis des Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Testverordnung – TestV) v. 8.3.2021.
  12. Spyropoulos, Sophia, Keine Kontrollen: Betrug bei Corona-Testzentren möglich, mdr aktuell, 29.5.2021, www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/corona-testzentrum-betrug-abrechnung-100.html.
  13. Gegenstand der Darstellungen zur PKS im Rahmen dieses Aufsatzes ist die Polizeiliche Kriminalstatistik 2020. Ausgewählte Zahlen im Überblick, nach Kenntnisnahme durch die Innenministerkonferenz herausgegeben vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/pks-2020.pdf;jsessionid=4578E4A12A3D5CB1E4E0AB76158410D4.2_cid287 (BMI PKS 2020).
  14. BMI, PKS 2020, S. 10.
  15. BMI, PKS 2020, S. 17.
  16. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, „Wir sind ein sicheres Land und ein starker Rechtsstaat. Polizei und Justiz sorgen jeden Tag dafür. Die Kriminalität in Deutschland sinkt weiter, die Aufklärungsquote bleibt hoch.", www.bmjv.de/SharedDocs/Zitate/DE/2020/032420_Polizeiliche-Kriminalstatistik.html.
  17. BMI, PKS 2020, S. 21.
  18. BMI, PKS 2020, S. 20.
  19. Robert Koch-Institut, Hat die Weltgesundheitsorganisation die Pandemiephasen-Definition geändert, damit eine Pandemie ausgerufen werden konnte? www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Pandemie/FAQ20.html.
  20. Correctiv, Es gibt keine Hinweise, dass mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 die menschliche DNA verändern, 20.1.2021, correctiv.org/faktencheck/2021/01/20/es-gibt-keine-hinweise-dass-mrna-impfstoffe-gegen-covid-19-die-menschliche-dna-veraendern/.
  21. Gensing, Patrick, „Sturm“ auf Reichstagsgebäude, mit gezielten Falschmeldungen aufgehetzt, ard-Tagesschau, 31.8.2020.
  22. Redaktionsnetzwerk Deutschland, „Querdenker“-Demo: „20 Leute mit Masken, und das sind Polizisten, 3.4.2021, www.rnd.de/politik/stuttgart-querdenker-demo-kaum-einer-halt-sich-an-corona-regeln-BUPKDLJKSJUYNUOGICCR6BUUBQ.html.
  23. ARD Audiothek, Quarks Science Cops, Die Akte Bhakdi: So tricksen Corona-Verharmloser | Faktencheck, www.ardaudiothek.de/quarks-science-cops/die-akte-bhakdi-so-tricksen-corona-verharmloser-faktencheck/83689638; SWR 3, Bhakdi im Faktencheck: Ist die Corona-Impfung von Biontech und Pfizer wirklich gefährlich? 7.1.2021, www.swr3.de/aktuell/faktencheck-sucharit-bhakdi-corona-impfung-100.html.
  24. Das Zunkunftsinstitut charakterisiert „Sicherheit“ als eigenen Megatrend, neben z.B. Globalisierung, Konnektivität, Individualisierung oder Wissenskultur. Vgl.: Zukunftsinstitut, Megatrend Sicherheit, „Unsere Gesellschaft befindet sich im Daueralarm. Eine Krise jagt die nächste und auch die Corona-Pandemie hat unmissverständlich klargemacht, dass unser Leben auf diesem Planeten im Kern unsicher und fragil ist. Sicherheit wird dadurch mehr denn je zum obersten Gebot für Individuen wie für die gesamte Gesellschaft – und zu einem wichtigen Verkaufsargument. Immer mehr rückt die Frage ins Zentrum, wer Sicherheit überhaupt erzeugen kann und sollte. Und: wie wir konstruktiv mit Unsicherheit umgehen können.“ www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-sicherheit/.
  25. DER SPIEGEL, BKA-CHEF MÜNCH WARNT, Politiker und Virologen öfter von Corona-Leugnern bedroht, 6.2.2021; Tag24, Sachsen Ministerpräsident Kretschmer erhält Morddrohungen, 13.2.2021, www.tag24.de/nachrichten/politik/deutschland/politiker/michael-kretschmer/ministerpraesident-kretschmer-erhaelt-morddrohungen-1838258, Norddeutscher Rundfunk, Polizei schützt Wohnhaus von Ministerpräsident Weil, 15.4.2021, www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Polizei-schuetzt-Wohnhaus-von-Ministerpraesident-Weil,weil2560.html.
  26. Deutscher Fachjournalistenverband, Wieder Angriffe auf Journalisten bei Querdenker-Demo, 6.4.2021, www.dfjv.de/news/wieder-angriffe-auf-journalisten-bei-querdenker-demo.
  27. Steinebach, Martin/ Bader, Katarina/ Rinsdorf, Lars/ Krämer, Nicole/ Roßnagel, Alexander (Hrsg.), Desinformation aufdecken und bekämpfen, 2020, S. 36.
  28. Ein Wissenschaftlerteam der Universität Oxford untersuchte 225 Einzelthesen zu COVID-19, die vom 1.1. bis 31.3.2020 in Umlauf gebracht und vom International Fact-Checking Network (IFCN) und Google Fact Checking Tools als falsch oder irreführend beurteilt wurden. Hauptergebnisse waren: Die Gesamtmenge der Falschmeldungen wuchs in dieser Frist entsprechend der Menge unabhängiger englischsprachiger Faktenchecks um mehr als 900%. 59% der 225 Beispiele verzerrten, verbogen, rekontextualisierten und überarbeiteten vorhandene, oft zutreffende Informationen. 38% waren vollständig erfunden, meist mit einfachen Mitteln („billige Fakes“). Die rekonfigurierten Falschmeldungen stellten 87%, die freien Erfindungen 12% der Interaktionen auf sozialen Medien. 80% der Falschaussagen kamen von gewöhnlichen Leuten („von unten“) und wurden wenig geteilt. 20% kamen von Politikern und Prominenten („von oben“), stellten aber 69% der Interaktionen dazu. Einige „von unten“ erstellte Falschaussagen erhielten große Reichweite im Netz, vermutlich noch größere durch private Chats und SMS-Botschaften. 39% der Aussagen beziehen sich auf Maßnahmen von Regierungen, WHO und UNO. 88% der Beispiele erschienen auf sozialen Medien, 9% auch im Fernsehen, 8% wurden von Nachrichtensendern, 7% von anderen Webseiten publiziert. Twitter ließ 59%, YouTube 27%, Facebook 24% aller von Faktenchecks als falsch gekennzeichneten Inhalte stehen. (Brennen, J. Scott/ Simon, Felix/ Howard, Philip N./ Nielsen, Rasmus Kleis, Types, sources, and claims of COVID-19 misinformation, Reuters Institut, 7.4-2020; reutersinstitute. politics.ox.ac.uk/types-sources-and-claims-covid-19-misinformation).
  29. Grande, Edgar/ Hutter, Swen/ Hunger, Sophia/ Kanol, Eylem, Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland, Discussion Paper, ZZ 2021-601, Berlin, März 2021.
  30. Grande et al., S. 3.
  31. Gassert, Philipp, Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart, 2018.
  32. Grande et al., S. 23.