Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – ein Überblick (Teil 2)
Von Prof. Dr. Dennis Bock und Cathrin Lebro, Kiel
4 Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, § 174 StGB
4.1 Allgemeines
§ 174 StGB stellt den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen unter Strafe und schützt damit neben Kindern auch Jugendliche vor Beeinträchtigungen ihrer sexuellen Entwicklung, soweit sie aufgrund eines Abhängigkeits- oder Unterordnungsverhältnisses besonderen strafrechtlichen Schutzes bedürfen.22
4.2 Tatbestand
4.2.1 Objektiver Tatbestand
4.2.1.1 Schutzverhältnis
Das Opfer muss eine schutzbefohlene Person sein und zu dem Täter in einem besonderen Verhältnis stehen. Der Tatbestand unterscheidet drei Gruppen von Schutzverhältnissen.
Nach § 174 I Nr. 1 StGB muss das Opfer unter sechzehn Jahren alt sein und dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut sein. Das Anvertrautsein kann rechtlicher oder tatsächlicher Art sein und ist zu bejahen, wenn der Schutzbefohlene zum Täter in einer engen, durch Unterordnung und Abhängigkeit geprägten Beziehung steht.23 Als Täter kommen damit z.B. Sorgeberechtigte oder Lehrer in Betracht.
Nach § 174 I Nr. 2 StGB ist Täter auch der, dem eine Person unter 18 Jahren anvertraut ist oder wem die Person unter 18 Jahren im Rahmen eines Dienst- oder Ausbildungsverhältnisses untergeordnet ist (z.B. Ausbildungsleiter). Als einschränkendes Merkmal muss ein Missbrauch dieses Verhältnisses hinzukommen, der vorliegt, wenn die aus dem spezifischen Täter-Opfer-Verhältnis folgende Abhängigkeit für die Vor- oder Hinnahme der sexuellen Handlungen ursächlich ist und Täter und Opfer sich des Zusammenhangs zwischen Abhängigkeit und Sexualkontakt bewusst sind.24
§ 174 I Nr. 3 StGB erfasst mit Blick auf die Veränderungen der sozialen Realität auch Abkömmlinge, die einem „Scheinvater“ gem. § 1592 BGB rechtlich zugeordnet werden können, Stiefkinder des Täters und Kinder von Personen, mit denen der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Beziehung zusammenlebt.25 Unerheblich ist, ob zwischen dem Täter und dem Opfer ein sozialer Kontakt besteht und ob dem Täter die Personensorge zusteht.26
§ 174 II StGB erweitert den Anwendungsbereich des „Anvertrautseins“ i.S.d. § 174 I Nr. 2 StGB dergestalt, dass das Opfer dem Täter in der Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung von Jugendlichen nur allgemein anvertraut sein muss. So werden nun z.B. auch Lehrkräfte erfasst, die als Vertretungslehrer nur gelegentlich in einer Klasse den Unterricht übernehmen und sexuelle Beziehungen zu einem der Schüler unterhalten.27
4.2.1.2 Tathandlung: Sexuelle Handlung
I.R.d. § 174 I, II StGB muss der Täter eine sexuelle Handlung „an“ dem Schutzbefohlenen vornehmen oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen lassen. Im Falle des § 174 III StGB muss der Täter eine sexuelle Handlung „vor“ dem Schutzbefohlenen vornehmen oder den Schutzbefohlenen dazu bestimmen, solche Handlungen „vor“ dem Täter vorzunehmen.
4.2.2 Subjektiver Tatbestand
Grundsätzlich muss der Täter mit (wenigstens bedingtem) Vorsatz gem. § 15 StGB handeln. Im Falle des § 174 III StGB muss die Absicht des Täters hinzukommen, sich oder den Schutzbefohlenen sexuell zu erregen. Es muss ihm darauf ankommen, eine bereits bestehende geschlechtliche Erregung zu steigern oder fortdauern zu lassen.28
4.3 Sonstiges
In allen Fällen ist gem. § 174 IV StGB der Versuch strafbar.
Das Delikt ist ein eigenhändig zu verwirklichendes Sonderdelikt, bei dem sich der Schutzbefohlene als notwendiger Teilnehmer selbst bei Vorliegen eines Einverständnisses nicht strafbar machen kann.29
Innerhalb des Tatbestandes werden im Wege der Gesetzeskonkurrenz Taten nach § 174 I Nr. 1 und 2 StGB von solchen nach § 174 I Nr. 3 StGB, Taten nach § 174 I Nr. 2 StGB von solchen nach § 174 I Nr. 1 StGB und Taten nach § 174 III StGB von solchen nach § 174 I Nr. 1 und 3 StGB verdrängt (Subsidiarität).30 Tateinheit kann mit §§ 173, 174a, 174b, 176, 177 oder 240 StGB bestehen.31 Wird eine Zwangslage gerade durch das Abhängigkeitsverhältnis begründet, tritt § 182 I Nr. 1 StGB hinter § 174 I Nr. 2, II Nr. 2 StGB im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück.32
5 Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, § 180 StGB
§ 180 StGB stellt die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger unter Strafe.
5.1 Tatbestand
5.1.1 Geschützte Person
Opfer der Tat können nur Personen unter 16 (§ 180 I StGB) bzw. 18 (§ 180 II, III StGB) Jahren sein.
5.1.2 Tathandlung
Das Delikt enthält drei eigenständige Begehungsweisen.
5.1.2.1 Förderung sexueller Handlungen, § 180 I StGB
Nach § 180 I StGB muss der Täter sexuellen Handlungen des Opfers an oder vor einem Dritten oder sexuellen Handlungen eines Dritten an dem Opfer durch seine Vermittlung (Nr. 1) oder durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit (Nr. 2) Vorschub leisten.
Vermitteln ist das Herstellen eines persönlichen Kontakts zwischen der minderjährigen Person und einem Partner.33 Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit meint die Bereitstellung auf Verlangen oder die sonstige Herbeiführung äußerer Umstände, unter denen die sexuelle Handlung unmittelbar erleichtert wird.34 Hierzu zählt etwa das Zurverfügungstellen von Räumlichkeiten35 oder das Verbringen der geschützten Person an einen Ort, wo diese dann der Prostitution nachgehen kann.36 Vorschubleisten ist die Schaffung günstigerer Bedingungen für eine sexuelle Handlung, ohne dass es tatsächlich zu sexuellen Handlungen gekommen sein muss.37
Sorgeberechtigte handeln gem. § 180 I 2 StGB im Falle des Gewährens oder Verschaffens von Möglichkeit tatbestandslos, soweit sie ihre Erziehungspflicht durch das Vorschubleisten nicht gröblich verletzen.
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