Recht und Justiz

Anwalt der ersten Stunde

Von ORR Ass. jur. Frank Grantz, Altenholz



Losgelöst von einem Antrag wird dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger in den Fällen der notwendigen Verteidigung bestellt, wenn die in § 141 II StPO genannten Voraussetzungen vorliegen. Gem. § 141 II Nr.1 StPO wird dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger von Amts wegen bestellt, sobald er einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll. Das bedeutet, dass sobald eine Pflicht zur Vorführung vor den Haftrichter besteht, auch die Pflicht besteht, dem Beschuldigten einen Verteidiger von Amts wegen beizuordnen. Wann sich eine Pflicht zur Vorführung des Beschuldigten vor den Haftrichter ergibt richtet, sich nach § 140 I Nr. 4 StPO. Ist bereits ein Haftbefehl erlassen, entsteht die Verpflichtung zum Zeitpunkt der Ergreifung des Beschuldigten, wie sich schon aus §§ 115 I, 115a I StPO ergibt.45


Bei einer vorläufigen Festnahme, zum Beispiel durch die Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft, steht die Verpflichtung zur Vorführung vor den Haftrichter unter dem Vorbehalt der Entscheidung der Ermittlungsbehörden gegen eine Freilassung, wie sich aus § 128 I S. 1 StPO ergibt. Erst mit der Entscheidung der Ermittlungsbehörden gegen eine Freilassung und für die Vorführung des vorläufig festgenommenen Beschuldigten, liegt daher ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 140 I Nr. 4 StPO und daran anknüpfend eine Verpflichtung zur amtswegigen Pflichtverteidigerbestellung gem. § 141 II S. 1 Nr. 1 StPO vor.46 Aus der Aufklärungspflicht der §§ 160, 163 StPO folgt, dass, bezogen auf das Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit, hier die Ermittlungsbehörden gehalten sind, zur Vorbereitung der eigenen Entscheidung über die Freilassung oder Vorführung des Beschuldigten und der sich anschließenden Entscheidung des Haftrichters, sachdienliche weitere Ermittlungen durchzuführen und eine möglichst umfassende Entscheidungsgrundlage zu schaffen.47 Die Möglichkeit des Beschuldigten, in diesem Entscheidungszeitraum selbst einen Antrag auf Pflichtverteidigung oder Bestellung eines Wahlverteidigers zu betreiben, bleibt allerdings unbenommen.48


Eine Ausnahme von der Pflicht zur amtswegigen Bestellung eines Pflichtverteidigers besteht gem. § 141 II S. 2 bei Vorführungen zur richterlichen Entscheidung über das beschleunigte Verfahren im Sinne des § 127b StPO, da es sich hier regelmäßig um eine einfache Rechtslage mit Sanktionen im unteren Bereich handelt und die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ggf. sogar die Dauer des Freiheitsentzuges verlängern könnte.49 Auch in Fällen der Hauptverhandlungshaft gem. §§ 230 II, 329 III StPO verbleibt es bei der antragsgebundenen Bestellungsplicht.50


Eine Bestellung ist auch in Fällen der sonstigen Freiheitsentziehungen gem. § 140 I Nr. 5 StPO von Amts wegen erforderlich, sofern der Tatvorwurf bereits eröffnet worden und es sich nicht mehr um ein nicht offen geführtes Ermittlungsverfahren handelt.51 Die Bestellung kann indes gem. § 141 II S. 3 StPO unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registereinkünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen (formale Ermittlungshandlung ohne Außenwirkung).52


§ 141 II S. 1 Nr. 3 StPO verpflichtet die Behörden, einem besonders schutzbedürftigen Beschuldigten, der sich nicht selbst verteidigen kann, einen Pflichtverteidiger grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren von Amts wegen zu bestellen, sobald sich die fehlende Verteidigungsfähigkeit nach Eröffnung des Tatvorwurfs zeigt. Auch hier gilt jedoch, dass in den Fällen des § 141 II S. 3 eine Ausnahme von der Pflicht zur Verteidigerbestellung von Amts besteht.53


Schließlich besteht eine amtswegige Verpflichtung in den Fällen des § 141 II S. 1 Nr. 4 StPO auch spätestens nach Anklageerhebung, also im Rahmen des Zwischenverfahrens. Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn bspw. durch den Amtsrichter eine Vorlegung gem. § 209 II StPO an das Schöffengericht erfolgt.54


Für die Bestellung ist im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft sachlich zuständig, sobald die genannte Situation eintrifft. Sie stellt – wenn nicht im Eilverfahren gem. § 142 IV StPO selbst – einen Antrag bei den in § 142 III Nr. 1 und 2 StPO genannten Gerichten, bzw. nach Anklageerhebung beim Vorsitzenden des Gerichts des Hauptverfahrens, § 142 III Nr. 3 StPO.

2.3.4 § 141a StPO – Ausnahmetatbestände

Eine für die polizeiliche Praxis besonders interessante Vorschrift stellt der § 141a StPO dar, der besondere Ausnahmekonstellationen in den Fokus nimmt, in welchen Vernehmungen und Gegenüberstellungen des Beschuldigten auch ohne Pflichtverteidigung vorgenommen werden können. Dieses bleiben jedoch Ausnahmetatbestände. In den antragsabhängigen Fällen des § 141 I muss dafür jedoch eine ausdrückliche Zustimmung des Beschuldigten bestehen, die nach § 168b I StPO als wesentliche Förmlichkeit zu protokollieren ist.55


Gem. § 141a I Nr. 1 StPO können derartige Maßnahmen durchgeführt werden, wenn sie zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich sind. Eine gegenwärtige Gefahr liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Wahrscheinlichkeit begründen, dass ohne die sofortige Vernehmung oder Gegenüberstellung vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers die bezeichneten Rechtgüter sicher oder doch höchstwahrscheinlich geschädigt werden.56 Dringend erforderlich ist die Maßnahme, wenn sofortiges Handeln gefordert und der notwendige Zeitraum für eine Bestellung nicht abgewartet werden kann.57 Dieses können z.B. laufende terroristische Angriffe oder Geiselnahmen sein. Dann darf vor der Bestellung des Pflichtverteidigers auch eine Vernehmung oder Gegenüberstellung vorgenommen werden, für den Fall, dass der Beschuldigte einen Verteidiger ausdrücklich beantragt hat, jedoch nur, wenn der Beschuldigte damit einverstanden ist.58


Gem. § 141a I Nr. 2 StPO kann eine entsprechende Bestellung auch zunächst unterbleiben, wenn dieses zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend geboten ist. Ein Strafverfahren ist erheblich gefährdet, wenn bestimmte Tatsachen die Wahrscheinlichkeit begründen, dass ohne die sofortige Vernehmung oder Gegenüberstellung vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers die Ermittlung der Wahrheit erheblich erschwert werden wird.59 Dieses ist allgemein bei drohendem Beweismittelverlust anzunehmen, aber z.B. auch, wenn weitere Mittäter auf der Flucht sind. 60 Auch eine akute Vernichtung von Beweismitteln oder Beeinflussung von Zeugen durch Mittäter wird von dieser Vorschrift erfasst.61 Zwingend geboten ist die Maßnahme, wenn der Gefährdung nicht anders – z.B. durch eine Eilentscheidung gem. § 142 IV StPO – begegnet werden kann.62 In den Fällen des § 141 I StPO ist zudem ein – nach Belehrung – ausdrückliches Einverständnis erforderlich, welches als wesentliche Verfahrensvorschrift zu dokumentieren ist, § 168b III S 2 StPO. 63


Verstöße gegen § 141a StPO führen nicht zu einem absoluten Verwertungsverbot für die aus der Ermittlungsmaßnahme gewonnenen Erkenntnisse, sondern sind nach den allgemeinen Grundsätzen der Abwägungslehre im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung zu beurteilen.64

2.3.5 § 142 StPO – Das eigentliche Bestellungsverfahren

Die Bestellung einer Pflichtverteidigung erfolgt verfahrenstechnisch gem. § 142 StPO. Sie entspricht im Wesentlichen dem alten Recht65, jedoch ist eine Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft neu in § 142 IV StPO aufgenommen worden. § 142 I StPO unterscheidet zwischen dem Verfahren bei einem Antrag des Beschuldigten und einer Bestellung von Amts wegen.


Der Antrag des Beschuldigten ist im Ermittlungsverfahren grundsätzlich bei den Behörden oder den Beamten des Polizeidienstes anzubringen. Hierzu gehören auch das BKA, die verschiedenen LKÄ sowie die Bundespolizei, aber auch die Finanzermittlungsbehörden wie Steuer- und Zollfahndung.66 Ein mündlicher Antrag reicht aus.67 Die Polizei hat in diesem Falle dann unverzüglich die Staatsanwaltschaft zu informieren, die – wenn kein Eilfall i.S.d. § 142 IV StPO vorliegt – diesen Antrag dem nach § 142 III StPO zuständigen Gericht vorlegt. Unverzüglich bedeutet, dass der Antrag so bald wie möglich, ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung vorzulegen ist, wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist.68 Im Falle einer von Amts wegen zu bestellenden Pflichtverteidigung gem. § 141 II S. 1 Nr. 1-3 StPO stellt die Staatsanwaltschaft ebenfalls unverzüglich einen Antrag beim jeweils zuständigen Gericht, sofern Sie keinen Eilfall annimmt. Gem. § 142 III Nr. 1 StPO entscheidet im Ermittlungsverfahren grundsätzlich das örtlich zuständige Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft oder das nach § 162 I S. 3 StPO zuständige Gericht für dort genannte Amtshandlungen. In den Fällen des § 140 I Nr. 4 StPO entscheidet das Gericht über eine Pflichtverteidigerbestellung, dem der Beschuldigte vorzuführen ist. Nach Anklageerhebung gilt § 142 III Nr. 3 StPO. Eine entsprechende gerichtliche Entscheidung ist gem. § 142 VII S. 1 StPO regelmäßig mit der sofortigen Beschwerde angreifbar, sofern kein Fall des § 142 VII S. 2 StPO vorliegt.