Wissenschaft  und Forschung

Risikoeinschätzung extremistischer Straftäter

Zwei Instrumente im Vergleich

2.1.2 Risikokategorien und -merkmale




Tab. 1: Risikokategorien und -faktoren des VERA-2(R).


Quelle: VERA-2R-Manual

 

2.2 Extremism Risk Guidance (ERG 22+)

2.2.1 Diskussion

Die 2009 entstandene Liste „Structured Risk Guidance” war das erste entwickelte SPJ-Instrument zur Risikobewertung extremistischer Bestrebungen.2 Die Folgeversion ERG 22+ (weiter: ERG) wird in England und Wales sowie seit kurzem in Minnesota eingesetzt (Herzog-Evans 2018). In Schottland findet demgegenüber VERA-2R Anwendung. Im Gegensatz zu der auf Schreibtischrecherchen basierenden VERA-Suite entstand ERG, wie die Indikatorenliste nach dem Abschluss entsprechender Evaluationsmaßnahmen seit 2011 heißt, anhand einer methodischen Triangulation: der Fallarbeit mit insgesamt über 40 verurteilten extremistischen Straftätern, von denen mindestens 20 auch interviewt worden sein sollen; eines Vergleichs zwischen 20 inhaftierten Extremisten und 12 wegen Terrorismusdelikten verurteilten Gefangenen; der internationalen Literaturrecherche; der Expertenkonsultation und wissenschaftlichen Begleitung durch ein Beratungsgremium, zu dem auch Terrorismusexperten gehörten. Im Rahmen der begleitenden Evaluationsmaßnahmen fanden insgesamt 15 Tiefeninterviews mit „strategischen Stakeholdern“ und Anwendern der noch nicht rubrizierten Checkliste mit zum damaligen Zeitpunkt 21 identifizierten Risikofaktoren statt, was nicht repräsentativ für alle mit dem Instrument bewerteten Straftäter ist, wie die Autoren zu Recht betonten (Webster et al. 2017, S. 1, 6).

Unter Heranziehung des „Offender Assessment System“ (OASys) leiteten die Autoren zudem relevante Unterschiede zwischen den extremistischen und nicht extremistischen Straftätern ab (Herzog-Evans 2018, S. 6). Die Systematisierung der 22 Prädiktoren entlang dreier für extremistische Verlaufspfade relevanten Dimensionen – des Engagements als Affiliation mit der Gruppe und/oder Identifikation mit der „Sache“, der Absicht als Bereitschaft, sich zu engagieren, und der relevanten Fähigkeiten – erfolgte durch 35 Strafvollzugsbeamte mit Erfahrungen im Umgang mit extremistischen Gefangenen (Lloyd/Dean 2015, S. 46). Des Weiteren fand ein „Peer-review“-Verfahren innerhalb des Gefängnis- und Bewährungsdienstes (NOMS) statt, unterstützt durch zwei Experten auf dem Gebiet der Risikobewertung aus dem Beratungsgremium. 2015 wurden nach Eigenangaben etwa 150 Straftäter aus den Bereichen Rechtsextremismus, Einzelstreitfragenextremismus und Bandenkriminalität mit dem Instrument bewertet. Der ERG ist nah am SPJ-Verfahren im eigentlichen Sinn. Dieses dreidimensionale Modell stellt ein Instrument an der Schwelle zur vierten Generation bzw. zu einem RNR-Modell (Risk-Need-Responsivity) dar, das mit den Maßnahmen von „Healthy Identity Intervention“ (HII) korrespondiert.

Der Kategorisierung des Radikalisierungsrisikos im ERG-Modell liegt eine Prämisse zugrunde, der zufolge es sich hierbei vordergründig um ein psychologisches Phänomen handelt, was unter einigen Experten als methodologischer Individualismus und psychologischer Reduktionismus bzw. Atomismus unter Kritik steht (Knudsen 2018, S. 3). Als Anwender kommen forensische Psychologen und erfahrene Bewährungshelfer, die an einem zweitägigen Training teilgenommen haben, in Frage. Zugleich wiesen die Instrumentenentwickler darauf hin, dass terroristische Karrieren durchaus politische und soziale Ursachen haben. Diese werden allerdings im Sinne der Theorie der Selbstkategorisierung und der Sozialisation in den Terrorismus vordergründig als psychologische Korrelate gedeutet (Lloyd/Dean 2015, S. 43 f.). Nach Scarcella et al. (2016, S. 10) erfüllt der ERG nur wenige relevante psychometrische Kriterien: Lesbarkeit (++), kulturelle Übersetzbarkeit (+), Befragtenbelastung (++), Inhaltsvalidität (++) und Interrater-Reliabilität (++).

Ziel war es, ein empirisch fundiertes Instrument zu entwickeln, das ein effizientes Risikomanagement und effektive Interventionen ermöglichen würde. Dafür war eine klinisch sensitive, empirische und ethisch vertretbare „Methodologie“ notwendig (Lloyd/Dean 2015, S. 41). Die Autoren orientierten sich an der in Großbritannien gängigen Extremismusdefinition, die nicht nur soziale, politische und ideologische Belange, sondern auch opportunistische und kriminelle Motivlagen umfasst. Bei der Entwicklung fand der postulierte Unterschied zwischen dem extremistischen und nicht extremistischen Denken im Kontext der (kognitiven) integrativen Komplexität Berücksichtigung. Demzufolge wohnen ersterem simplizistische, reduktionistische und dichotome Züge inne (vgl. das Konzept des „Motivated Reasoning“). Das ERG-Modell basiert auf der Theorie des überlegten Handelns bzw. des geplanten Verhaltens (auch als Modell von Ajzen/Fishbein bekannt), das besagt, dass das tatsächliche Verhalten von Verhaltensabsichten und Intentionen determiniert wird (der Ansatz der rationalen Handlungswahl, vgl. die Selbstbestimmungstheorie). Diese stellen ein Ergebnis der persönlichen Einstellung zum Verhalten und der normativen Überzeugungen inkl. Verhaltenskontrolle dar (Lloyd/Dean 2015, S. 43).

Eine weitere wichtige theoretische Prämisse des ERG-Ansatzes ist die Fokussierung der Affiliations- bzw. Engagementsebene. Die im SRG angelegte Risikokategorie „Überzeugungen und Motivation“ wurde in ERG durch „Engagement“ bzw. „Identifikation“ ersetzt, verstanden als eine dynamische Balance zwischen den Zug- und Druckfaktoren; weitere relevante Risikokategorien sind „Absicht bzw. Intention“ und „Fähigkeiten“.3

Einige aus der Terrorismusforschung übernommene Prämissen liegen diesem Verfahren zugrunde, die mit weiteren Fallbeobachtungen kombiniert wurden. Einerseits findet in der Population eine Überidentifikation mit einer Ideologie, Gruppe oder Sache statt, die zur Transformation der Ich-Identität führt. Andererseits akzeptieren Extremisten ein Erklärungsnarrativ für das beobachtete Weltgeschehen; sie teilen die Welt in Eigen- und Fremdgruppen und fällen moralische Urteile über die Anderen. Nicht minder relevant sind die sozialen Dominanzansprüche sowie Machtausübung und -kontrolle. Am wichtigsten erscheint allerdings der gemeinsame Nenner für alle extremistischen Akteure: die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Missstände (Lloyd/Dean 2015, S. 44 f.). Besonders hervorgehoben sei die Beobachtung, der zufolge es unterschiedliche Pfade der Radikalisierung im Blick auf das Verhältnis zwischen der revolutionären und transnationalen islamistischen Ideologie gibt. Es liegt nahe, dass diese Verlaufsmuster verschiedene Funktionen erfüllen und unterschiedlichen Bedürfnissen entspringen können.