Kriminalitätsbekämpfung

Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 1)

3 Opfer von Sexualdelikten


Der viktimologische Opferbegriff bezieht sich auf Opfer von Gewalttaten, also auf die Personen, denen unmittelbar Gewalt durch einen anderen Menschen beigebracht wurde.61 Dabei sind Opfer von Sexualdelikten solche, die von einer Sexualstraftat des 13. Abschnitt des StGB betroffen sind. Unabhängig von Geschlecht oder Alter kann jede Person einem Sexualdelikt zum Opfer fallen. Die Zahlen der PKS zeigen jedoch, dass ein Großteil im Hellfeld weiblich ist, männliche Betroffene bringen dieses in den meisten Fällen eher nicht zur Anzeige.62

Der Prozess des Opferwerdens wird als Viktimisierung bezeichnet. Dieser Vorgang wird dadurch ausgelöst, dass der Betroffene ein eintretendes Ereignis als unkontrollierbar und dem eigenen Willen entgegenstrebend wahrnimmt.63 Insgesamt lassen sich vier Stufen der Viktimisierung unterscheiden, die inkrementell ablaufen. Die primäre entsteht durch die Tat selbst und die damit verbundenen körperlichen und seelischen Verletzungen.64 Von sekundärer Viktimisierung wird gesprochen, wenn Personen des nahen Umfeldes, wie Familienmitglieder, Freunde oder Angehörige von Institutionen in einer vom Opfer als unangebracht empfundenen Weise reagieren, sodass sich dadurch eine erneute Schädigung entwickelt.65 Dies kann auch eine unangemessene Behandlung durch die Polizei bei der Anzeigenaufnahme sein oder Beeinträchtigungen durch das Verfahren vor Gericht, insbesondere wenn dem Opfer nicht geglaubt oder dieses nicht ernst genommen wird. Die Übernahme des Opferstatus in das persönliche Selbstbild wird als tertiäre Viktimisierung bezeichnet.66 Darunter werden jedoch auch traumatische Reaktionen subsummiert.67 Unter quartärer Viktimisierung werden Schädigungen durch das bewusste oder unbewusste Negieren der Opfereigenschaft verstanden.68 Ist einer Person eine Straftat widerfahren, so ist sie nicht nur Opfer, sondern auch Zeuge. Swoboda bezeichnet diesen als „zentrales Beweismittel des Strafprozesses“69und weist dem Zeugen eine außerordentliche Rolle zu, wenn es um die Aufklärung von Straftaten und die Wahrheitsfindung geht.

Untersuchungen zu Belastungsfaktoren von Opfern von Sexualdelikten im Verlauf des Strafverfahrens haben ergeben, dass nahezu alle Opfer bereits von einer großen Belastung sprechen, die sich während der Anzeigenaufnahme und den Vernehmungen durch die Polizei ausbildet. So schilderten die Betroffenen, dass sie während und nach der Anzeigenerstattung mehrfach durch unterschiedliche Beamte befragt und vernommen worden sind, was von ihnen deutlich als negativ empfunden wurde. Dadurch, das Opfer ihre Aussage mehrmals in verschiedenen Situationen wiederholen mussten, wurde ihnen das Gefühl gegeben, nicht glaubhaft zu sein und dass die Beamten an dem von ihnen geschilderten Tatgeschehen zweifeln. Zudem erweckte das Drängen der Polizisten zur Wiederholung der Aussage den Anschein, als wenn diese zu Beginn nicht richtig dokumentiert wurde und deshalb erneut zu Protokoll gegeben werden musste. Einige Opfer berichten darüber, dass die durch die Vernehmer gefertigten Niederschriften nur teilweise das beinhalteten, was durch sie im Vorfeld von der Tat berichtet worden war.70

Auch das Strafverfahren kann mit einigen belastungsinitiierenden Herausforderungen für die Geschädigten verbunden sein. Besonders kindliche Opfer können, ausgelöst durch die unbekannte Situation vor Gericht, enorme Stressbelastungen empfinden. Durch mangelndes Wissen über den Ablauf und den Ausgang des Verfahrens sowie damit einhergehende lange Wartezeiten verspüren die Opfer innerlichen Druck und bilden zudem aufgrund ihrer Unsicherheit zusätzliche Ängste aus.71 Auch der Umstand, dass das Opfer in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten durch den Richter vernommen wird, ist als großer Belastungsfaktor zu nennen. Während der Befragung und den damit teilweise einhergehenden Mehrfachvernehmungen muss sich das Opfer das Geschehene, den Tatablauf und die damit verbundenen Emotionen und Schmerzen aktiv zurück ins Gedächtnis rufen. Dies stellt eine große Herausforderung für die Geschädigten dar, kann aber nicht vermieden werden. Swoboda nennt dieses Dilemma einen „Zielkonflikt zwischen Zeugenschutzbelangen, Verteidigungsinteressen und dem Gebot einer Wahrheitsermittlung“72. Weis spricht von einer „doppelten Opferrolle“73, begründet darin, dass vielen Vergewaltigungsopfern vor Gericht eine Mitschuld an dem Geschehen gegeben oder diese zumindest durch die Fragen des Verteidigers impliziert wird. Eine solche Behandlung, kann eine sekundäre Viktimisierung auslösen.74

Opfer von Sexualdelikten erfahren nach der Tat ein „Perpetuum mobile der Viktimisierung“75. Viele von ihnen berichten über massive körperliche und seelische (Langzeit)Schäden, bis hin zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung.76 Zudem ist es möglich, dass aufgrund des großen Angstgefühls während der Tat, Reaktionen im Gehirn einsetzen, die die Wahrnehmung beeinträchtigen. Dies geschieht als eine Art Schutzfunktion des Körpers. Durch Verdrängungsreaktionen kann es ebenso vorkommen, dass Erinnerungen an die Tat bruchstückhaft und zusammenhangslos sind.77 Diese Umstände sollten während einer Vernehmung des Opfers stets berücksichtigt werden.

 

4 Vorteile und Probleme der audiovisuellen Vernehmung


Die Vorteile einer audiovisuellen Vernehmung sind darin zu sehen, dass es sich um eine umfängliche, wortgetreue Dokumentation handelt. Es kann eine tatnahe Konservierung der Aussage78 ohne Erinnerungsbeeinflussung gelingen. Die Überprüfbarkeit der Aussageentstehung führt dazu, dass der Vernehmung ein höherer Beweiswert zukommt. Suggestionen werden erkannt und dokumentiert79, Vernehmungsfehler und Missverständnisse werden festgestellt. Die Dokumentation „trägt nicht die sprachliche Handschrift der Verhörperson“80 und auf Eindrucksvermerke der Vernehmer kann verzichtet werden. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass eine höhere Geständnisbereitschaft des Beschuldigten gegeben ist. „Opferzeuginnen und Opferzeugen zeigen in der richterlichen Vernehmung oftmals deutlich mehr Emotionen als im Gerichtssaal, was zur Folge hat, dass eine höhere Geständnisbereitschaft von Beschuldigten besteht.“81 Ein Beispiel für die Erinnerungsbeeinflussung stellt der Nachinformationseffekt dar, d.h. Informationen, die das Opfer nach der Tat durch Gespräche mit anderen Personen, das Lesen von Medienberichten oder anderen Umständen erlangt werden durch Vorgänge im Gehirn mit den alten, ursprünglichen Erinnerungen zusammengeführt. Die eigenen Erinnerungen werden hierbei von den neuen Informationen überlagert und verändert.82 Durch das Abspielen des Videos in der Hauptverhandlung (§ 255a Abs. 2 StPO) wird sekundäre Viktimisierung vermindert, d.h. dem Betroffenen wird die belastende Situation erspart, detailliert über die Tat und alle damit einhergehenden Erniedrigungen vor Gericht unter den Augen des Angeklagten auszusagen.83 Hält sich der Vernehmer an die Grundsätze der Zeugenvernehmung und zeichnet die Vernehmung audiovisuell auf, wird dem Opfer zum einen gezeigt, dass es ernst genommen wird, zum anderen kann eine Mehrfachvernehmung verhindert werden.

Probleme mit der Bild-Ton-Aufzeichnung zeigen sich zumeist in der praktischen Umsetzung und Durchführung. Der Vernehmer regt über den Staatsanwalt eine richterliche Vernehmung an und vereinbart einen Termin. Das Opfer muss bei der Anzeigeerstattung schon über die Tat berichten, denn die Polizei ist verpflichtet, erste Erkenntnisse aus der Aussage zum Zwecke der Täterergreifung und der Spurensuche zu erlangen. Sollte diese Vernehmung bereits audiovisuell aufgezeichnet werden, wird das Opfer bei der richterlichen Vernehmung erneut videografiert und muss das Geschehene wiederholen und durchleben. Dies stellt eine Mehrfachvernehmung dar, die im Sinne des Opferschutzes zu verhindern ist. Die richterliche Vernehmung wird in der Regel in einem größeren zeitlichen Abstand zur Tat stattfinden.84 Darüber hinaus verfügen Richter nicht immer über die notwendigen Schulungen und Erfahrungen im Bereich der Opferzeugenvernehmung. Richter stehen nahezu alltäglich unter Zeitdruck, eine audiovisuelle Vernehmung durchzuführen bedeutet Mehrbelastung. Dies kann dazu führen, dass sich die Opfer während der richterlichen Vernehmung nicht ausreichend wahrgenommen fühlen, was wiederum eine geringere Aussagebereitschaft hervorbringt.85 Die richterliche Vernehmung muss unter Einhaltung der Mitwirkungsrechte des Beschuldigten durchgeführt werden, was ein erneutes Zusammentreffen zwischen Opfer und Täter bedeuten kann. Selbst wenn der Beschuldigte der Vernehmung nicht direkt beiwohnt, schildert das Opfer in dieser Situation die Umstände der Tat mit dem Wissen, dass der Beschuldigte sich im Nebenraum befindet und die Vernehmung verfolgt. Ein weiterer Nachteil wird in dem großen Aufwand bei der Durchführung der audiovisuellen Vernehmung, die oft mit technischen Problemen oder mangelnder Ausstattung verbunden ist, gesehen.86