Kriminalitätsbekämpfung

Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 1)

 

 

2 Rechtliche Grundlagen


Die audiovisuelle Vernehmung findet ihre gesetzliche Legitimation in § 58a StPO.27 Ziel des Zeugenschutzgesetzes aus dem Jahr 1998 war es, die Stellung des Zeugen im Strafverfahren zu verbessern und dafür Sorge zu tragen, dass die Belastungen insbesondere für kindliche und schutzbedürftige Opfer durch den Einsatz audiovisueller Vernehmungsmethoden reduziert werden.28 Doch nicht nur der Opferschutz, auch die Bedeutung der Bild-Ton-Aufzeichnung für die Beweiskraft der Aussage wurde vom Gesetzgeber erkannt als „eines der wichtigsten strafprozessualen Beweismittel“29. Durch eine bessere Dokumentation der Vernehmungssituation sollte Beweisverlusten entgegengewirkt werden.30Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren wurde 2009 der § 58a StPO derart erweitert, dass die Aufzeichnung von Vernehmungen in Bild und Ton nun auch im Ermittlungsverfahren durch Polizeibeamte möglich war.31

Zudem wurde die Altersschutzgrenze des Opfers auf 18 Jahre angehoben.32 § 58a Abs. 1 S. 2 StPO sah vor, dass die audiovisuelle Vernehmung eines Zeugen immer dann erfolgen soll, wenn dieser minderjährig und besonders schutzbedürftig ist oder die Gefahr besteht, dass er in der Hauptverhandlung nicht mehr aussagen kann. In den folgenden Jahren schlossen sich weitere Gesetzesänderungen zur Intensivierung und Ausweitung der Norm an.33 So legte das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 fest, dass nun gleichermaßen erwachsene Opfer, die aber während der Tat minderjährig waren, richterlich vernommen und dabei in Bild und Ton aufgezeichnet werden müssen.34 In der Gesetzesbegründung wurde insbesondere auf eine gesteigerte Geständnisbereitschaft des Beschuldigten durch das Vorspielen der Opferaussage hingewiesen.35 Das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens trat am 13.12.2019 in Kraft und normiert § 58a Abs. 1 S. 3 StPO.36 Die Vernehmung muss seither bei Opfern von Sexualdelikten nach Würdigung der Gesamtumstände durch einen Richter erfolgen und hierbei audiovisuell aufgezeichnet werden. Diese Regelung erteilt dem Richter die Entscheidungshoheit in Bezug auf die Notwendigkeit einer erneuten Vernehmung des Opfers in der Hauptverhandlung.37 Gem. § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO muss eine Zeugenaussage audiovisuell aufgezeichnet werden bei minderjährigen Opferzeugen oder solchen, die zur Tatzeit unter 18 Jahre alt waren. Die Vorschrift bezieht sich auf Opfer solcher Taten, die im § 255a Abs. 2 StPO aufgeführt sind. Hierbei handelt es sich um Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Leben oder die persönliche Freiheit. Aus dem Wortlaut des § 58a Abs. 1 S. 2 StPO geht hervor, dass sich die Notwendigkeit der audiovisuellen Aufzeichnung darauf stützt, dass durch sie die Wahrung der „schutzwürdigenden Interessen“ des Opfers erfolgen kann. Als besonders schutzwürdige Personen sind im Gesetzesentwurf „Opfer von Gewalttaten, alte Menschen oder gefährdete Zeugen, denen bereits aus der Zeugeneigenschaft erhebliche Belastungen erwachsen können“38 aufgeführt. Das schützenswerte Interesse dieser Personen kann durch eine Belastungsreduzierung gewahrt werden. Diese kann einzelfallabhängig entweder durch die Ersetzung der Aussage in der Hauptverhandlung durch die zuvor aufgezeichnete Vernehmung des Opfers, die Reduzierung von Mehrfachvernehmungen, die größerer Geständnisbereitschaft des Beschuldigten oder anhand der höhere Beweiskraft der Opferaussage durch die audiovisuelle Dokumentation erfolgen.39 Gemäß § 58a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO soll eine Aussage audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn zu befürchten ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr aussagen kann. Die Besorgnis besteht bei Vorliegen einer schwerwiegenden Krankheit und hohem Alter des Betroffenen, aber auch bei Opfern von Sexualdelikten oder anderen Gewaltdelikten, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht zu einer erneuten Aussage in der Lage sind.40 Somit beschränkt sich § 58a Abs. 1 S. 2 StPO nicht nur auf Minderjährige, sondern soll, insbesondere wenn es um den Opferschutz geht, auch bei Erwachsenen angewendet werden.41 Die Aufzeichnung der Vernehmung dient in diesem Fall insbesondere als Beweissicherung der Aussage.42 § 58a Abs. 1 S. 2 StPO sieht vor, dass der Zeugen durch einen Richter vernommen wird, weil gem. §§ 255a Abs. 2 StPO nur eine richterliche und nicht eine polizeiliche Vernehmung die Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung ersetzen kann. Die Durchführung und Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton durch die Polizei ist hier jedoch nicht ausgeschlossen und kann nach Würdigung der Umstände ebenfalls erfolgen.43 Gleichwohl es sich bei der Rechtsnorm aus § 58a Abs. 1 S. 2 StPO um eine Soll- und keine Mussvorschrift handelt, bestätigt die Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber hierin bereits eine Verpflichtung zur audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung geschaffen hat.44Eine konsequente Umsetzung findet in der Praxis indessen nicht statt.45 Der neu eingeführte § 58a Abs. 1 S. 3 StPO ergänzt die bisherigen Bestimmungen der Rechtsnorm und schreibt vor, dass die Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten nach Gesamtwürdigung der vorherrschenden Umstände und unter Beachtung der Schutzbedürfnisse des Betroffenen durch einen Richter vorzunehmen ist und dabei per Gesetz audiovisuell aufgezeichnet werden muss. Dies bedarf des Einverständnisses des Opfers.46 Die angefertigte Videoaufzeichnung ist gem. § 58a Abs. 4 StPO ausschließlich im Rahmen eines Strafverfahrens zu verwenden und nur rechtmäßig, solange sie zur Wahrheitserforschung notwendig ist. Dies ist sie immer dann, „wenn die Verwendung der Aufzeichnung ergiebiger ist als die reine Verlesung der Niederschrift der Vernehmung“47. Da bei der audiovisuellen Dokumentation die wortgenaue Aussage des Zeugen, seine Emotionen und seine Regungen sowie seine geistige Verfassung unverändert und ungefiltert aufgezeichnet werden, ist davon auszugehen, dass das Abspielen eines Vernehmungsvideos in der Regel ergiebiger ist als die Verlesung einer Niederschrift.48 Über die audiovisuelle Vernehmung ist gem. §§ 168 ff. StPO ein Protokoll anzufertigen. In der Literatur wird auf die Problematik der Vollverschriftlichung der Videoaufzeichnung hingewiesen, welche sich als zeitaufwendig und äußerst umfangreich darstellt.49 Das Gesetz schreibt eine solche Vollverschriftung jedoch nicht vor. Artkämper und Schilling verweisen darauf, dass die Anfertigung eines Inhaltsprotokolls, in dem die wichtigsten Kernpunkte zusammengefasst sind, als Protokoll ausreicht.50 Über die Überlassung der audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung im Rahmen der Akteneinsicht kann der Zeuge gem. § 58a Abs. 2 S. 6 StPO bestimmen. Zeigt er sich nicht damit einverstanden, dass beispielsweise dem Verteidiger des Angeklagten eine Kopie der Vernehmungsaufzeichnung zur Verfügung gestellt wird, so erfolgt gem. § 58a Abs. 3 S. 1 StPO die Einsichtnahme der Videoaufzeichnung entweder durch den Verteidiger bei der StA oder diesem wird eine Abschrift der Vernehmung ausgehändigt.51 Über die Möglichkeit des Widerspruchs ist der Zeuge gem. § 58 a Abs. 3 S. 4 StPO zu belehren. Der Opferzeuge hat gem. § 255a Abs. 2 S. 1 bis 3 StPO das Recht, anzugeben, dass er mit dem Abspielen der Videokonserve in der Hauptverhandlung nicht einverstanden ist. Hierauf ist ebenfalls hinzuweisen.

Liegen die gesetzlichen Vorgaben zur Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton vor und muss diese durch einen Richter durchgeführt werden, ist sie durch den Polizeibeamten über die Staatsanwaltschaft anzuregen.52 Dem Beschuldigten und seinem Rechtsbeistand wird gem. § 168c Abs. 2 StPO die Möglichkeit gegeben, anwesend zu sein und im Anschluss Fragen an das Opfer zu richten.53 Der § 168e S. 4 StPO ermöglich die Vernehmung in Abwesenheit des Beschuldigten. Üblich ist, dass dieser sich mit seinem Verteidiger in einem Nebenraum befindet, in welchen die Anhörung in Echtzeit übertragen wird.54 Ablauf und Ausgestaltung einer audiovisuellen Vernehmung werden in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) modifiziert.55 Gem. Nr. 19 Abs. 2 RiStBV werden während der Durchführung der Bild-Ton-Aufzeichnung sowohl die zu vernehmende Person, als auch der Vernehmer von der Kameraperspektive eingefangen, um etwaige Beeinflussungen des Opfers auszuschließen. Aus der Praxis wird empfohlen Datum und Uhrzeit mit in das Bild zu bringen. Da die audiovisuelle Vernehmung auch die Rechtmäßigkeit der Vernehmung zu dokumentieren hat, soll sich die Aufzeichnung über die gesamte Dauer der Vernehmung erstrecken, die Belehrung des Zeugen sowie sämtliche Fragen und Antworten sind aufzuzeichnen.56

Die Einführung der audiovisuellen Zeugenvernehmung in die Hauptverhandlung wird u.a. in §§ 250-255a StPO geregelt. Stützt sich die Beweiserbringung auf die Aussage eines Zeugen, so ist dieser gemäß dem Grundsatz der persönlichen Vernehmung in der Verhandlung anzuhören. Seine Aussage darf gem. § 250 Abs. 1 S. 2 StPO nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht durch das Abspielen der audiovisuellen Vernehmung ersetzt werden.57

Der § 251 StPO nennt Ausnahmen: So ist die Verlesung des Protokolls und somit auch das Vorspielen der audiovisuellen Vernehmung gem. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestattet, sofern alle Verfahrensbeteiligten zustimmen. Der Angeklagte, sein Verteidiger und der Staatsanwalt müssen sich also mit der Einsichtnahme einverstanden zeigen.58 Außerdem darf der Zeuge dem Abspielen der Videovernehmung in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar nach seiner Vernehmung widersprochen haben. Kann sich ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vollständig erinnern oder kommt es zu Widersprüchen in Bezug auf frühere Aussagen, so können zur Gedächtnisunterstützung gem. § 253 StPO Teile der aufgezeichneten Vernehmung abgespielt werden. Voraussetzung ist, dass die Vernehmung in der Hauptverhandlung auch unter Vorhalt, also die Verlesung einzelner Abschnitte des Protokolls, nicht zielführend war.59 Der Richter hat zudem zu prüfen, ob das Einsehen der audiovisuellen Vernehmung des Zeugen ergiebiger sein kann als das Verlesen des Vernehmungsprotokolls. Über die vollständige Ersetzung der Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung durch das Abspielen der Vernehmungsaufzeichnung bestimmt § 255a Abs. 2 StPO, danach ist es möglich, dem Zeugen eine erneute Aussage vor Gericht zu ersparen, wenn seine Vernehmung zuvor durch einen Richter vorgenommen und audiovisuell aufgezeichnet worden ist. Die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wird in diesem Fall mit dem Schutz des Opfers vor den Belastungsfaktoren des Strafverfahrens, insbesondere mit der Vermeidung von Mehrfachvernehmungen, begründet.60