Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 2)


Von POK`in Ann-Kristin Langletz M.A. und Prof. Dr. Rita Bley, Cloppenburg/Güstrow

 

Von der inzwischen seit mehr als 20 Jahren bestehenden Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung wird auch heute, trotz der stetigen Ausdehnung des Anwendungsrahmens, kaum Gebrauch gemacht. In diesem Artikel soll ergründet werden, wie den offensichtlich bestehenden Hindernissen entgegengewirkt werden kann, um die Akzeptanz zu erhöhen und Videovernehmungen als Routinevorgang in die Bearbeitung von Sexualdelikten zu tradieren. Aus den gewonnenen Ergebnissen wurde eine Handreichung entwickelt, welche die wichtigsten Rechtsvorschriften zur audiovisuellen Vernehmung und Grundsätze zur Durchführung zusammenfasst. Im ersten Teil wurden die rechtlichen Voraussetzung und viktimologischen Grundlagen dargestellt, in diesem nachfolgend der empirische Teil mit der entwickelten Handreichung.1

 

5 Interviews mit Vernehmern


Zur Erhebung der Erfahrungen und Einstellungen von Vernehmungsbeamten wurden fünf Experteninterviews von Kriminalbeamten im 1. FK des Zentralen Kriminaldienst unterschiedlicher Polizeiinspektionen durchgeführt. Aus den Schilderungen der befragten Praxisexperten geht hervor, dass ein großes Hindernis darin begründet ist, dass die durchgeführten Videovernehmungen keine Beachtung vor Gericht finden. Dies weckt bei den Vernehmungsbeamten ein Gefühl der geringen Würdigung und Anerkennung ihrer Arbeit. Die Bild-Ton-Aufzeichnung finden keinen Eingang in die Hauptverhandlung „weil einfach die Gerichte noch nicht so eingestellt sind“, es gibt „Berührungsängste“. Gerichte und Staatsanwälte finden es „furchtbar“, eine verschriftete Videovernehmung zu lesen. Die Experten geben an, dass es „ein Muss braucht“, damit die Vernehmungen bei Opfern von Sexualdelikten zukünftig öfter audiovisuell aufgezeichnet werden. Die Akzeptanz der audiovisuellen Vernehmung würde deutlich gesteigert werden, wenn diese durch die Staatsanwaltschaft und den Richter Beachtung finden. Einige Vernehmer sehen die Zusammenarbeit mit der Justiz als verbesserungswürdig an, in anderen Dienststellen ist sie derart, dass richterliche Vernehmungen auf Bitten des Gerichts in den Räumen der Polizei stattfinden. Alle Praxisexperten führen aus, dass sie selbst über die Art und Weise der Vernehmungsdurchführung und Dokumentation bestimmen. Es liegt in ihrem eigenen Ermessen, ob eine Vernehmung audiovisuell aufgezeichnet wird oder nicht. Eine Videovernehmung bei Erwachsenen wird „ein bisschen nach Bedarf“ durchgeführt. Kindliche Opfer von Sexualdelikten werden eher audiovisuell vernommen als erwachsene. Bei schwerwiegenden Delikten kommt es trotzdem vor, dass über die Vernehmung des Kindes lediglich Wortprotokolle angefertigt werden. Besonders sensible Zeugen und Opfer von erheblichen Straftaten werden immer audiovisuell vernommen.


Auch in der Struktur und Organisation der Polizei zeigen sich Hürden, die durch das mangelnde Vorhandensein von Ressourcen, wie etwa qualifiziertes, geschultes Personal und die notwendige und geeignete technische Ausstattung entstehen. Problematisch sind immer noch die Verschriftung und die damit einhergehende Produktion enormer Textmengen. Alle Videovernehmungen werden vollständig durch eine Schreibkraft in Schriftform übertragen, verbunden mit einem enormen zeitlichen und personellen Aufwand. „Und wenn ich das im Vorfeld weiß, dass ich damit eine Schreibkraft zwei Tage lahmlegen kann, dann mach ich das nicht, wenn es nicht ein schwerwiegender Tatvorwurf ist.“ Einer Zusammenfassung der Aussage stehen die Praxisexperten skeptisch gegenüber. Vernehmungsbeamten sind gezwungen die Vernehmung zu lesen, zu korrigieren und nicht verschriftete, weil von der Schreibkraft nicht verstandene Textpassagen aufzufüllen, was von den Experten als sehr zeitaufwendig und belastend empfunden wird. Technische Probleme, das Fehlen technischer Ausstattung und die Unsicherheit in Bezug auf die Bedienung dieser Technik hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass audiovisuelle Vernehmungen nicht durchgeführt wurden. Die Dienststellen verfügen, mit einer Ausnahme, alle über ein sogenanntes Videovernehmungszimmer, welches vom LKA ausgestattet wurde, eines ist jedoch nie genutzt worden, nicht zuletzt, weil es kein Beamter für notwendig erachtet hat, sich mit der Technik zu beschäftigen. In jüngster Vergangenheit wurde weitere Technik in Form von Vernehmungstablets und Vernehmungskoffern angeschafft. Mit diesen wurden aufgrund der Mobilität, der Schnelligkeit und der Unkompliziertheit in der Anwendung positive Erfahrungen gesammelt. Die Experten berichten jedoch, dass bislang nicht alle Vernehmer mit der vorhandenen Technik umgehen können. Es bestehen Unsicherheiten, wenn es um die technische Umsetzung, beziehungsweise Ausgestaltung der Aufnahmemodalitäten geht. Es ist erforderlich, dass geschultes Personal vorhanden ist. Eine „gewisse Routine“ und Erfahrung wird als Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung angesehen. Während der Vernehmung ist besonders darauf zu achten, das Opfer möglichst zielführend zu befragen, um das Kerngeschehen der Tat herauszuarbeiten. Fragestellungen sollen nicht suggestiv wirken und an das Sprachniveau des Opferzeugen angepasst sein. Es soll darauf geachtet werden, dass Fragen nicht durch Gestik und Mimik, sondern durch das gesprochene Wort beantwortet werden. Da es sich bei einer Opfervernehmung immer auch um einen dynamischen Prozess handelt, muss der Vernehmer in der Lage sein mit heiklen Situationen umzugehen, was eine gewisse Vernehmungserfahrung voraussetzt. Als Grund für mangelnde Erfahrung und Routine äußern die Experten, dass aufgrund der geringen Anwendung und der fehlenden Fortbildung keine Handlungssicherheit entwickelt und das Gelernte nicht verinnerlicht werden kann. Es wird für wichtig erachtet, dass bereits im Studium erlernt wird, wie eine audiovisuelle Vernehmung durchzuführen ist.


Es wurden auch personenabhängigen Faktoren wie die Haltung der Polizeibeamten, deren Motivation und die bislang gesammelten Erfahrungen erfragt. Hierbei lässt sich feststellen, dass alle Praxisexperten der Bild-Ton-Aufzeichnung der Opferaussage grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt sind, die Vorteile werden nicht nur für den Opferschutz, sondern auch für die Beweiskraft der Aussage gesehen. Die Tablets sind schnell und mobil einsetzbar und einfach zu bedienen, ein Grund dafür, dass sie häufig eingesetzt werden. „Wieso haben wir das nicht schon eher gemacht?, ganz ehrlich!“ Der Mehrwert für das Opfer wird in der exakten Dokumentation der Aussage gesehen, was wiederum Missverständnissen vor Gericht vorbeugen kann und eine höhere Beweiskraft besitzt. Es gibt fortdauernde Berührungsängste innerhalb des Kollegenkreises, wodurch eher von der mutmaßlich unkomplizierteren, traditionellen Methode Gebrauch gemacht wird. Dass bei der traditionellen Methode die Aussage des Opfers durch das unbewusste Zusammenfassen des Beamten verändert wird, wird problematisch gesehen. „Wie lange haben wir schon die Möglichkeit eigentlich, per Video etwas zu begleiten, und wie kommen wir darauf, es nicht zu tun, es nicht zu nutzen, wenn es doch eine andere Aussagekraft hat?“ Die Möglichkeiten sollten intensiver genutzt werden. Als positiv wird empfunden, dass Rechtsanwälte vor dieser Art der Vernehmung großen Respekt haben und in einigen Fällen die Bild-Ton-Aufzeichnung der durchgeführten Opfervernehmung maßgeblich zur Verurteilung des Beschuldigten beigetragen hat. Andererseits werden Videovernehmungen vor Gericht nur in den größten Ausnahmefällen beachtet. Die Bild-Ton-Aufzeichnung wird von den Beamten auch als Arbeitserleichterung gesehen, da Vernehmer selbst nicht mehr diktieren. Außerdem ist die traditionelle Vernehmung einfacher und verständlicher zu lesen.



Eine Praxisexpertin sieht einen großen Vorteil darin, dass sämtliche Informationen aus der Vernehmung sofort weitergeleitet und für Folgemaßnahmen genutzt werden können, ohne dass die Befragung dafür unterbrochen werden muss. Die Aussage des Opfers wird durch die Videoaufzeichnung authentischer festgehalten, als es ein Bericht jemals könnte. Ihr wird eine „bessere Wahrheitsfindung bei Opfern von Vergewaltigungen durch die exakte Dokumentation der Aussage, die anschließend im Rahmen einer psychologischen Begutachtung verwendet werden kann“, zugeschrieben. Als weiteren Vorteil wird empfunden, dass die Beamten vor Vorwürfen in Bezug auf die Verwendung unangemessener Vernehmungsmethoden geschützt werden. Andere sehen die Vorteile vor allem in Bezug auf den Opferschutz. Die Durchführung ist zunächst ungewohnt, bei regelmäßiger Anwendung geht sie aber „in Fleisch und Blut“ über. Da man sich nicht mehr auf das einzelne Wort konzentrieren muss wird auf der einen Seite eine Arbeitserleichterung gesehen, auf der anderen Seite ist sie praktische Umsetzung sehr aufwendig, vor allem der hohe organisatorische, zeitliche und personelle Aufwand wird belastend wahrgenommen.Während der Videovernehmung sind immer zwei Kollegen gebunden, einer vernimmt, der zweite überwacht diese aus dem Technikraum und reicht Fragen in das Vernehmungszimmer rein. Im Anschluss daran wird die Vernehmung wortgetreu durch eine Schreibkraft vollständig verschriftet und daraufhin durch die Vernehmungsbeamten überprüft. Hierbei werden die Lücken, die durch die von der Schreibkraft akustisch nicht verstandenen Passagen entstanden sind, durch die Beamten anhand der Einsichtnahme in die Videoaufzeichnung aufgefüllt. In dringlichen Fällen wird in Absprache mit der Staatsanwaltschaft eine kurze Zusammenfassung mit den Kernpunkten der Opferaussage erstellt. An der traditionellen Methode der Vernehmungsprotokollierung wird festgehalten „wenn man heranwachsende Opferzeugen hat, die sich gut ausdrücken können“. Als Grund für die Nichtdurchführung einer audiovisuellen Vernehmung wird der geringere Aufwand genannt und, dass ja die Fehler des Vernehmungsbeamten oder andere Unzulänglichkeiten auf dem Video sichtbar sind. „Es gibt schon Nachteile [..], weil eine Videovernehmung das authentische Geschehen der Gesamtsituation aufnimmt. [...] Und manchmal ist es so, wenn man nicht in so guter Verfassung ist, dass man auch Suggestivfragen stellt, die man nicht stellen sollte. […] Und das ist natürlich dann ein ganz klarer Spiegel.“ Bei der traditionellen Vernehmung wird versucht, „es möglichst mit den Worten des Opfers aufzusprechen, obwohl man fairerweise sagen muss, dass das nicht eine authentische Wiedergabe der eigentlichen Vernehmungssituation ist.“ Dass eine audiovisuelle Vernehmung im Hauptverfahren abgespielt wurde, hat eine befragte Vernehmerin in 20 Jahren erst zweimal erlebt. „Also das heißt, man strampelt sich in Anführungsstrichen hier ab und gibt sich Mühe und dann guckt sich das keiner an.“ Sie wünscht sich für die Zukunft: „Dass sie eingebracht werden müssen ins Verfahren. Also oder dass die Staatsanwaltschaft und auch die Richter vor der Verfahrensöffnung, Eröffnung, gesetzlich dazu verpflichtet wären, da mal reinzuschauen, ganz einfach damit die Akte ein Gesicht bekommt und das Opfer ein Gesicht bekommt und nicht nur einen geschriebenen Namen.“


„Ich habe sehr wohl gemerkt, dass viele Kollegen Vorbehalte haben, weil es einfach ungewohnt ist.“ Dies rührt aus fehlendem rechtlichem Wissen und den damit einhergehenden Befürchtungen. Die Praxisexperten betonen, dass sie anfangs große Bedenken und sogar Hemmungen hatten vor laufender Kamera zu sprechen und dabei aufgezeichnet zu werden, weil die Arbeit des Vernehmers durch die Aufzeichnung überprüfbar und angreifbar ist. Weitere Hürden lassen sich in Bezug auf die Bedienung der Technik ausmachen. „Man muss es einfach mal gemacht haben, um den Unterschied für sich selbst festzustellen und auch festzustellen: Stimmt, es geht ja!“

 

6 Zusammenfassung


Die in den Interviews genannten Vor- und Nachteile werden wie folgt veranschaulicht:

 



Alle befragten Praxisexperten sind mit der Durchführung audiovisueller Vernehmungen vertraut. Eine Bild-Ton-Aufzeichnung der Aussage erfolgt regelmäßig, wenn die Schutzbedürftigkeit beim Opfer erkannt oder dem Delikt eine besondere Schwere beigemessen wird. Diese Vorgehensweise ist konsistent mit den rechtlichen Voraussetzungen aus § 58a Abs. 1 S. 2 StPO, nach welchen die Gesamtumstände und die schutzwürdigen Interessen des Opfers über die Durchführung der audiovisuellen Vernehmung entscheiden. Die Tatsache, dass die von den Experten durchgeführten Videovernehmungen im Rahmen des Strafverfahrens keinerlei Beachtung durch einen Staatsanwalt oder Richter finden, wird als besonders negativ empfunden. Die Ergebnisse decken sich mit den vorhandenen Forschungsbefunden. Diesbezüglich ist offensichtlich in den letzten Jahren keine Änderung eingetreten. Darüber hinaus sieht die rechtliche Regelung vor, dass ausschließlich richterliche Vernehmungen Einzug in die Hauptverhandlung finden, wenn es darum geht die erneute Aussage des Opfers vor Gericht zu verhindern. Eine von der Polizei durchgeführte Videovernehmung kann nur mit dem Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten abgespielt werden. Diesem Hindernis kann nur im Rahmen einer Gesetzesänderung, durch welche die Einführung der polizeilich durchgeführten audiovisuellen Vernehmung in die Hauptverhandlung erleichtert wird, entgegengewirkt werden. Die Neueinführung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO im Dezember 2019 verpflichtet zur audiovisuellen Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten durch einen Richter. Laut BGH2 weist § 58a Abs. 1 S. 2 StPO bereits einen verpflichtenden Charakter auf. Aus der geäußerten rechtlichen Unsicherheit der Experten lässt sich erkennen, dass bezüglich der Rechtslage und den rechtlichen Voraussetzungen Fortbildungsbedarf besteht. Zudem sind zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung alle befragten Praxisexperten der Meinung, dass das Opfer zwingend mit der Bild-Ton-Aufzeichnung einverstanden sein muss, anderenfalls wurde die Vernehmung nicht audiovisuell aufgezeichnet. Diese Annahme der Praxisexperten war zum Zeitpunkt der Befragung rechtlich falsch, heute ist sie – nach der Gesetzesänderung – richtig. Das Erlangen von Rechtssicherheit stellt sich als notwendiges Faktum dar, um die Hürden in Bezug auf die Anwendung von Videovernehmungen abzubauen. In diesem Zusammenhang braucht es verbindliche rechtliche Vorgaben, die den Beamten als Handlungsanleitung dienen. Insbesondere im Hinblick auf die neusten Gesetzesänderungen ist eine regelmäßige Weiterbildung der Vernehmungsbeamten unverzichtbar. Die Einstellung der Gerichte und die Zusammenarbeit mit der Justiz wurden als weiteres Hindernis erkannt.


Nach dem Empfinden der Vernehmungsbeamten wird die traditionelle Form der Vernehmungsprotokollierung von der Justiz bevorzugt. Der fehlende Austausch wird von den befragten Experten als negativ empfunden. Weitere Probleme haben sich vornehmlich in mangelnden Ressourcen sowie Problemen bei der praktischen Durchführung von audiovisuellen Vernehmungen gezeigt. Den Praktikern sind keine einheitlichen Standards oder Vorschriften über die Durchführung von audiovisuellen Vernehmungen bekannt, vielmehr herrscht eine Vielzahl an Aufzeichnungsmodalitäten in Bezug auf audiovisuelle Vernehmungen. Andere wissen davon, aber es wird dennoch auf die herkömmliche Aufzeichnungsmethode zurückgegriffen. Die unkomplizierte Bedienung der Tablets führt zu einer schnelleren Entwicklung von Handlungssicherheit im Umgang mit der Technik. Die Bedienung und der Umgang mit der vorhandenen Technik in den Vernehmungszimmern stellen immer noch Hindernisse dar. In allen Interviews wurde mehrfach und in aller Deutlichkeit die Verschriftung der durchgeführten Videovernehmungen als Problem benannt. Entgegen den gesetzlichen Vorschriften findet immer eine Vollverschriftung der audiovisuellen Aufzeichnungen durch eine Schreibkraft statt. Dadurch fallen enorme Textmengen an, die aufgrund der schlechten Qualität der Niederschrift anschließend korrigiert werden müssen. Diese Vorgehensweise belastet sowohl die Vernehmungsbeamten als auch die Schreibkräfte. Per Gesetz ist keine Verpflichtung zur Vollverschriftung gegeben, eine schriftliche Zusammenfassung der Opferaussage, die die „elementaren Teile der Vernehmung“3 enthält, ist ausreichend. Rücksprache des Vernehmungsbeamten mit der Staatsanwaltschaft über die Ausdehnung der Verschriftung kann hier Abhilfe schaffen.4


Im Rahmen der Interviewauswertung konnte festgestellt werden, dass sich die Vernehmungsbeamten während der Durchführung von Videovernehmungen in besonderem Maße an die Grundsätze der Zeugenvernehmung halten. Alle Praxisexperten berichten über die speziellen Anforderungen, die an sie gestellt sind und einhalten werden. In Bezug auf die traditionelle Methode hat sich somit gezeigt, dass das Aufzeichnen der Vernehmung in Bild und Ton zu einer Steigerung der Qualität führt. Aufgrund der Tatsache, dass es sich speziell bei der Vernehmung kindlicher Opfer, aber auch bei Heranwachsenden und Erwachsenden stets um einen dynamischen Prozess handelt, muss der Vernehmungsbeamte kognitiv in der Lage sein, empathisch durch die Vernehmung zu führen, dabei den „roten Faden“ beizubehalten und dennoch darauf zu achten, dass der Zeuge nicht durch das eigene Verhalten oder die Frageweise beeinflusst wird. Diese Fähigkeiten bilden sich nach Expertenmeinung zum einen im Laufe der Zeit, zum anderen aber auch durch entsprechende Fortbildungen und eine fortwährende praktische Durchführung aus. Im Rahmen der Organisationsentwicklung wirkt es sich förderlich auf die Motivation und Bereitschaft zu Veränderungen innerhalb einer Organisation aus, wenn die Vorteile der Neuerung kommuniziert und verinnerlicht werden. Ein Erkennen der Notwendigkeit und die gemeinsame Entwicklung von Umsetzungsmöglichkeiten führen zu einer größeren Akzeptanz der Veränderung und bauen anfängliche Ressentiments und Berührungsängste ab.5


Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Praxisexperten der audiovisuellen Vernehmung positiv gegenüberstehen, lediglich einige Schwierigkeiten führen dazu, dass an alten Traditionen festgehalten wird. Sobald Vernehmer die Vorteile der audiovisuellen Vernehmung für das Opfer und die Beweiskraft der Aussage erkannt haben und in diesem Zusammenhang auch positive Erfahrungen sammeln konnten, haben sie diese angewandt. Die positive Haltung wirkt sich auf die Motivation der Beamten aus und führt dazu, dass andere Kollegen Interesse entwickeln, ihre Berührungsängste ablegen und sogar selbst audiovisuelle Vernehmungen durchführen. Ziel ist, dass sie als Routinetätigkeit Einzug in die Ermittlungsarbeit findet. Die aus dieser Forschung gewonnenen Ergebnisse ergänzen den bisherigen Forschungsstand um das Wissen über die subjektive Gesamtbewertung der Vernehmungsbeamten. In der Ausarbeitung wurde deutlich, dass es wichtig ist, dass die Durchführung von audiovisuellen Vernehmungen durch Vertreter der Justiz gewürdigt wird. Alle Praxisexperten wissen um die Fehleranfälligkeit der traditionellen Protokollierungsmethode. Die Vernehmer betonen, dass eine gesetzliche Verpflichtung zu audiovisuellen Vernehmungen dazu führen würde, dass sie diese auch tatsächlich umsetzen.


Einen erhöhten Nutzen für alle Parteien würde es hervorbringen, wenn die audiovisuellen Vernehmungen bei Opfern von Sexualdelikten in den Räumlichkeiten der Polizei von einem Richter in Zusammenarbeit mit den Vernehmungsbeamten durchgeführt werden könnten. Eine gezielte und verpflichtende Aus- und Fortbildung der Vernehmungsbeamten, die auch die praktische Bedienung der vorhandenen Aufzeichnungstechnik behandelt, würde die Akzeptanz dieser Vernehmungsmodalität erhöhen. Eine stetige Umsetzung der Möglichkeiten führt zur Entwicklung von Routine und Erfahrung. Die Neueinführung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO hat – wider Erwarten einiger Experten – nicht dazu geführt, dass die polizeilichen Möglichkeiten in diesem Zusammenhang ausgeweitet und die Anforderungen über die Einbringung der polizeilichen Videovernehmung in die Hauptverhandlung aufgeweicht werden, sondern sie verpflichtet nun zur audiovisuellen Aufzeichnung der Opfervernehmung, die durch einen Richter durchgeführt werden muss. Angesichts der mit dieser Neuregelung zusammenhängenden organisatorischen Probleme bleibt abzuwarten, wie in der Praxis damit umgegangen wird.

 

7 Handlungsanweisung


Die folgende Handlungsanleitung ist als Ergebnis der Arbeit anzusehen und soll den Praktikern zur Implementierung der audiovisuellen Vernehmung dienen.


§ 58a Abs. 1 Nr. 1 S. 1 StPO erlaubt die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung allgemein, d.h., grundsätzlich kann jede polizeiliche Vernehmung aufgezeichnet werden. Das Opfer/der/die Zeuge/Zeugin muss jedoch, damit einverstanden sein und der Aufzeichnung vor der Vernehmung zustimmen.


Gemäß § 58a Abs. 1 S. 2 StPO soll eine Vernehmung aufgezeichnet werden bei minderjährigen Opfern sowie Erwachsenen, die minderjährig Opfer eines Sexualdelikts geworden sind sowie wenn die Gefahr besteht, dass das Opfer in der Hauptverhandlung nicht aussagen kann (aufgrund des Alters, seelischer Zustand).


Gemäß § 58a Abs. 1 S. 3 StPO muss eine Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten durch den Richter erfolgen, wenn damit die schutzwürdigen Interessen des Opfers besser gewahrt werden können. Die richterliche audiovisuelle Vernehmung dient dem Opferschutz und der Beweissicherung in besonderem Maße. Sie kann gem. § 255a Abs. 2 S. 1 StPO in der Hauptverhandlung abgespielt werden und dem Opfer eine erneute Aussage vor Gericht ersparen.


Bei der Würdigung der dafür maßgeblichen Umstände können die folgenden Faktoren die Entscheidung erleichtern:

  • Besteht eine besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers? In welchem Zustand befindet es sich?
  • Besteht die Gefahr einer sekundären Viktimisierung durch das Verfahren?
  • Soll die audiovisuelle Vernehmung die Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung ersetzen?
  • Ist die Aussage des Opfers entscheidungserheblich/alleinige Aussage?


Treffen diese Umstände zu, muss eine audiovisuelle Vernehmung durch einen Richter erfolgen. In dem Fall ist die erste polizeiliche Vernehmung möglichst kurz zu halten und die richterliche Vernehmung ist unverzüglich über den Staatsanwalt zu initiieren.


Während der audiovisuellen Vernehmung muss Folgendes beachtet werden:

  • Vernehmer und Opfer müssen während der Aufzeichnung gemeinsam und zeitgleich im Bild zu sehen sein,
  • Vertrauensperson (§ 406f StPO) oder psychosoziale Prozessbegleitung (§ 406g StPO) sowie Opferanwalt sind zuzulassen,
  • Der Verteidiger und der Beschuldigte verfolgen die audiovisuelle Vernehmung in einem Nebenraum. Beide bekommen die Gelegenheit von ihrem Fragerecht Gebrauch zu machen (die Fragen werden auf einem Zettel in den Vernehmungsraum gereicht),
  • Belehrung (Aussage- bzw. Zeugnisverweigerungsrecht) und Bereitschaft des Zeugen zur audiovisuellen Aussage müssen dokumentiert werden (Nr. 19 Abs. 2 RiStBV),
  • Nach der Belehrung erfolgt der freie Bericht des Opfers/Zeugen,
  • danach werden möglichst offener Fragen gestellt,
  • Verzicht auf Suggestivfragen,
  • das Opfer hat die Möglichkeit, unmittelbar nach der audiovisuellen Vernehmung der Einführung dieser Aufzeichnung in die Hauptverhandlung zu widersprechen (§ 255a Abs. 2 Nr. 1 StPO) und muss darüber belehrt werden; Entscheidung dokumentieren.


Nach der Vernehmung muss das Opfer betreut werden.


Bezüglich der Verschriftlichung der Aufzeichnung muss mit der Staatsanwaltschaft Rücksprache über den Umfang gehalten werden, in der Literatur wird eine Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte empfohlen.


Bei der Vernehmung eines Kindes muss darüber hinaus Folgendes beachtet werden:

  • Zustimmung der Eltern, bei Verdachtslage gegen die Eltern Ergänzungspfleger (wird über das Jugendamt beim Amtsgericht bestellt),
  • Altersgerichte Belehrung (im Beisein des Erziehungsberechtigten),
  • Vor der Vernehmung eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch einen Sachverständigen prüfen, ggf. hinzuziehen (Nr. 19 Abs. 4 RiStBV),
  • Mehrfachvernehmungen vermeiden.

 

Anmerkungen

 

  1. Die vollständige Literaturliste zu diesem Beitrag ist hier abrufbar.
  2. BGH-Beschluss vom 8.7.2004 - 1 StR 273/04.
  3. Artkämper/Schilling 2018: 471.
  4. Vgl. ebd.
  5. Vgl. Barthel 2004: 117.