Kriminalitätsbekämpfung

Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 2)



Eine Praxisexpertin sieht einen großen Vorteil darin, dass sämtliche Informationen aus der Vernehmung sofort weitergeleitet und für Folgemaßnahmen genutzt werden können, ohne dass die Befragung dafür unterbrochen werden muss. Die Aussage des Opfers wird durch die Videoaufzeichnung authentischer festgehalten, als es ein Bericht jemals könnte. Ihr wird eine „bessere Wahrheitsfindung bei Opfern von Vergewaltigungen durch die exakte Dokumentation der Aussage, die anschließend im Rahmen einer psychologischen Begutachtung verwendet werden kann“, zugeschrieben. Als weiteren Vorteil wird empfunden, dass die Beamten vor Vorwürfen in Bezug auf die Verwendung unangemessener Vernehmungsmethoden geschützt werden. Andere sehen die Vorteile vor allem in Bezug auf den Opferschutz. Die Durchführung ist zunächst ungewohnt, bei regelmäßiger Anwendung geht sie aber „in Fleisch und Blut“ über. Da man sich nicht mehr auf das einzelne Wort konzentrieren muss wird auf der einen Seite eine Arbeitserleichterung gesehen, auf der anderen Seite ist sie praktische Umsetzung sehr aufwendig, vor allem der hohe organisatorische, zeitliche und personelle Aufwand wird belastend wahrgenommen.Während der Videovernehmung sind immer zwei Kollegen gebunden, einer vernimmt, der zweite überwacht diese aus dem Technikraum und reicht Fragen in das Vernehmungszimmer rein. Im Anschluss daran wird die Vernehmung wortgetreu durch eine Schreibkraft vollständig verschriftet und daraufhin durch die Vernehmungsbeamten überprüft. Hierbei werden die Lücken, die durch die von der Schreibkraft akustisch nicht verstandenen Passagen entstanden sind, durch die Beamten anhand der Einsichtnahme in die Videoaufzeichnung aufgefüllt. In dringlichen Fällen wird in Absprache mit der Staatsanwaltschaft eine kurze Zusammenfassung mit den Kernpunkten der Opferaussage erstellt. An der traditionellen Methode der Vernehmungsprotokollierung wird festgehalten „wenn man heranwachsende Opferzeugen hat, die sich gut ausdrücken können“. Als Grund für die Nichtdurchführung einer audiovisuellen Vernehmung wird der geringere Aufwand genannt und, dass ja die Fehler des Vernehmungsbeamten oder andere Unzulänglichkeiten auf dem Video sichtbar sind. „Es gibt schon Nachteile [..], weil eine Videovernehmung das authentische Geschehen der Gesamtsituation aufnimmt. [...] Und manchmal ist es so, wenn man nicht in so guter Verfassung ist, dass man auch Suggestivfragen stellt, die man nicht stellen sollte. […] Und das ist natürlich dann ein ganz klarer Spiegel.“ Bei der traditionellen Vernehmung wird versucht, „es möglichst mit den Worten des Opfers aufzusprechen, obwohl man fairerweise sagen muss, dass das nicht eine authentische Wiedergabe der eigentlichen Vernehmungssituation ist.“ Dass eine audiovisuelle Vernehmung im Hauptverfahren abgespielt wurde, hat eine befragte Vernehmerin in 20 Jahren erst zweimal erlebt. „Also das heißt, man strampelt sich in Anführungsstrichen hier ab und gibt sich Mühe und dann guckt sich das keiner an.“ Sie wünscht sich für die Zukunft: „Dass sie eingebracht werden müssen ins Verfahren. Also oder dass die Staatsanwaltschaft und auch die Richter vor der Verfahrensöffnung, Eröffnung, gesetzlich dazu verpflichtet wären, da mal reinzuschauen, ganz einfach damit die Akte ein Gesicht bekommt und das Opfer ein Gesicht bekommt und nicht nur einen geschriebenen Namen.“


„Ich habe sehr wohl gemerkt, dass viele Kollegen Vorbehalte haben, weil es einfach ungewohnt ist.“ Dies rührt aus fehlendem rechtlichem Wissen und den damit einhergehenden Befürchtungen. Die Praxisexperten betonen, dass sie anfangs große Bedenken und sogar Hemmungen hatten vor laufender Kamera zu sprechen und dabei aufgezeichnet zu werden, weil die Arbeit des Vernehmers durch die Aufzeichnung überprüfbar und angreifbar ist. Weitere Hürden lassen sich in Bezug auf die Bedienung der Technik ausmachen. „Man muss es einfach mal gemacht haben, um den Unterschied für sich selbst festzustellen und auch festzustellen: Stimmt, es geht ja!“

 

6 Zusammenfassung


Die in den Interviews genannten Vor- und Nachteile werden wie folgt veranschaulicht:

 



Alle befragten Praxisexperten sind mit der Durchführung audiovisueller Vernehmungen vertraut. Eine Bild-Ton-Aufzeichnung der Aussage erfolgt regelmäßig, wenn die Schutzbedürftigkeit beim Opfer erkannt oder dem Delikt eine besondere Schwere beigemessen wird. Diese Vorgehensweise ist konsistent mit den rechtlichen Voraussetzungen aus § 58a Abs. 1 S. 2 StPO, nach welchen die Gesamtumstände und die schutzwürdigen Interessen des Opfers über die Durchführung der audiovisuellen Vernehmung entscheiden. Die Tatsache, dass die von den Experten durchgeführten Videovernehmungen im Rahmen des Strafverfahrens keinerlei Beachtung durch einen Staatsanwalt oder Richter finden, wird als besonders negativ empfunden. Die Ergebnisse decken sich mit den vorhandenen Forschungsbefunden. Diesbezüglich ist offensichtlich in den letzten Jahren keine Änderung eingetreten. Darüber hinaus sieht die rechtliche Regelung vor, dass ausschließlich richterliche Vernehmungen Einzug in die Hauptverhandlung finden, wenn es darum geht die erneute Aussage des Opfers vor Gericht zu verhindern. Eine von der Polizei durchgeführte Videovernehmung kann nur mit dem Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten abgespielt werden. Diesem Hindernis kann nur im Rahmen einer Gesetzesänderung, durch welche die Einführung der polizeilich durchgeführten audiovisuellen Vernehmung in die Hauptverhandlung erleichtert wird, entgegengewirkt werden. Die Neueinführung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO im Dezember 2019 verpflichtet zur audiovisuellen Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten durch einen Richter. Laut BGH2 weist § 58a Abs. 1 S. 2 StPO bereits einen verpflichtenden Charakter auf. Aus der geäußerten rechtlichen Unsicherheit der Experten lässt sich erkennen, dass bezüglich der Rechtslage und den rechtlichen Voraussetzungen Fortbildungsbedarf besteht. Zudem sind zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung alle befragten Praxisexperten der Meinung, dass das Opfer zwingend mit der Bild-Ton-Aufzeichnung einverstanden sein muss, anderenfalls wurde die Vernehmung nicht audiovisuell aufgezeichnet. Diese Annahme der Praxisexperten war zum Zeitpunkt der Befragung rechtlich falsch, heute ist sie – nach der Gesetzesänderung – richtig. Das Erlangen von Rechtssicherheit stellt sich als notwendiges Faktum dar, um die Hürden in Bezug auf die Anwendung von Videovernehmungen abzubauen. In diesem Zusammenhang braucht es verbindliche rechtliche Vorgaben, die den Beamten als Handlungsanleitung dienen. Insbesondere im Hinblick auf die neusten Gesetzesänderungen ist eine regelmäßige Weiterbildung der Vernehmungsbeamten unverzichtbar. Die Einstellung der Gerichte und die Zusammenarbeit mit der Justiz wurden als weiteres Hindernis erkannt.