Risikoeinschätzung extremistischer Straftäter

Zwei Instrumente im Vergleich

 

Von Dr. Michail Logvinov, Berlin1

 

Im Zusammenhang mit den voranschreitenden Radikalisierungsprozessen ist ein dynamischer Markt für Instrumente zur Risikobewertung extremistischer Gewalt entstanden. Allerdings bleibt in einigen Fällen nicht immer klar, welche Methoden, theoretischen Annahmen, empirischen Postulate und Testverfahren bei der Entwicklung der jeweiligen Tools eine Rolle spielten. Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen werden daher zwei Ansätze und Instrumente eingehend vorgestellt.

 

1 Prognoseansätze und -methoden


Risikoeinschätzung meint eine auf einen zu definierenden Zeitraum beschränkte prognostische Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten negativen bzw. schädigenden Ereignisses in einer Zielpopulation. Eine Kriminalprognose liegt nach fachlichen Kriterien vor, „wenn die wahrscheinlich verhaltensdeterminierenden Anteile von Personen- und Situationsfaktoren herausgearbeitet und durch (gegebenenfalls alternative) Wenn-dann-Aussagen auf denkbare zukünftige Situationen projiziert werden“ (Steller 2005, S. 13).

Der Terminus „Risiko“ (R) kennzeichnet nach Kraemer et al. (1997, S. 337) die Wahrscheinlichkeit (W) eines negativen Outputs bestimmter Intensität (Is). Im Blick auf die instrumentelle, extremistische Gewalt hängt die Intensität eines Schadens mit Fähigkeiten (F) und Intentionen (It) der jeweiligen Akteure zusammen. Personale (P) und situative (S) Risiko- und Schutzfaktoren erhöhen oder reduzieren die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr (R = W [P + S] x Is [F + It]).

In der Prognoseforschung wird unter Berücksichtigung der formalen Gesichtspunkte – bspw. des Grades der Item-Operationalisierung, der Auswertungsart und des Vorhandenseins von Regeln und Normen – zwischen den statistischen bzw. nomothetischen und einzelfallorientierten erklärungsbasierten bzw. idiografischen Prognoseansätzen unterschieden. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten benennt Gretenkord (2013, S. 21) darüber hinaus Kriterien wie die theoretische Verankerung der Verfahren, die Art der Items (statisch/dynamisch – Risiko-/Schutzfaktoren) und die Zielgruppen.

 

2 Zwei Risikoinstrumente

 

2.1 Violent Extremism Risk Assessment (VERA-2R)

 

2.1.1 Diskussion


VERA wurde zwecks Expertenkonsultation im November 2009 vorgestellt und anschließend nach mehreren Anpassungen zwischen 2010 und 2012 als kommerzielles RBeG-Instrument auf den Markt gebracht (Pressman 2009). Seitdem hat es weitere Überarbeitungen erfahren. 2015 erschien nach Beratungen mit namentlich nicht genannten Experten die Version VERA-2R. Im Gegensatz zur freien Testversion sind alle Nachfolger-Checklisten nicht frei zugänglich. Die Entwicklerin des Instruments nennt als Voraussetzung für die Anwendung eine zweitägige Schulung und die Teilnahme an Supervisionen. Die Anwender müssen überdies über Erfahrungen mit der Durchführung von Risikobewertungen verfügen. Diese Voraussetzungen gelten aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht für die vorherige Version (VERA), auch wenn es sich hierbei um eine noch weniger elaborierte Kriterienliste handelt (Hart et al. 2017, S. 11).

Der VERA-2 scheint eines der bekanntesten RBeG-Instrumente zu sein. Zumindest wird es international intensiv beworben und mit der finanziellen Förderung der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms „Horizon 2020“ in einer Reihe von EU-Staaten implementiert. Dies überrascht kaum. Hat doch seine Entwicklerin in vielen Publikationen zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Settings aufgezeigt – für die individuelle Risikoeinschätzung (Pressman/Flockton 2012), als methodische Blaupause für lokale CVE-Initiativen (Pressman 2016) und im Strafvollzug (Pressman/Flockton 2014). Seit 2016 existiert zudem eine Checkliste zur Beurteilung der Cyber-Risiken (CYBERA). Überdies soll das Instrument für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen valide sein. Zugleich werden in letzter Zeit Meinungen vertreten, die einen Nutzen für einige Länder ob der spezifischen Betroffenenpopulationen in Frage stellen (Herzog-Evans 2018). Nachfolgend soll der Frage nachgegangen werden, ob die VERA-Suite tatsächlich das halten kann, was ihre Autorin verspricht.

Vergleicht man die wissenschaftlichen Begleitpublikationen zum Instrument, fällt als erstes auf, dass sich weder das Verfahren noch die Auswertungsmethodik wesentlich ändern. Zugleich wird von Jahr zu Jahr der theoretische „Überbau“ jedoch komplexer und ausgeklügelter. Inzwischen ist von einem evidenzbasierten Ansatz sowie einer eigenständigen Risikobewertungsmethode oder sogar von der diesem Instrument angeblich innewohnenden „bayesschen Logik“ die Rede (Pressman 2016). VERA-2 soll sogar auf einem komplexen dynamischen Modell der Radikalisierung fußen, welches dem interessierten Leser jedoch nicht näher erläutert wird (Pressman 2014, S. 267). Auf eine ähnliche Weise gewann die Checkliste an Reliabilitätsgüte.

Neben den Vulnerabilitätsfaktoren wurde ein Leitfaden mit drei Itemkategorien entwickelt: Deradikalisierung, Herauslösung (Disengagement) und protektive Faktoren (Pressman 2009, S. 24). Diese Kriterien wurden in VERA-2 als protektive und risikomindernde Faktoren teils integriert. Zugleich blieb unkommentiert, wie die so verstandenen Schutzfaktoren das Risiko verringern. Der Zuwachs an Prädiktoren fiel vergleichsweise hoch aus: VERA bestand aus 28 Prädiktoren inkl. drei demographischer Faktoren wie bei HCR-20, während VERA-2 31 und VERA-2R 34 Faktoren plus zusätzliche Indikatoren – bspw. kriminelle Vorgeschichte, Persönlichkeitseigenschaften und Psychopathologie – beinhalten. VERA-2 soll ein „Catch-all“-Instrument“ und für alle extremistischen Spielarten aussagekräftig sein, auch wenn einige Prädiktoren diesem Postulat widersprechen. So scheint bspw. die zu messende Einstellung „Feindseligkeit gegenüber nationaler Identität“ mit der Itemformulierung für ein hohes Risiko – „Person hat kein Zugehörigkeitsgefühl und ist feindselig gegenüber der nationalen Identität“ – zumindest in Hinblick auf den Rechtsextremismus und ethno-nationalistischen sowie teils „revolutionären“ islamistischen Terrorismus deplatziert. Darüber hinaus fügte die Autorin sogar noch weitere Zielgruppen hinzu. Das Instrument soll bei angehenden Auslandskämpfern und Rückkehrern gleichermaßen eingesetzt werden können, um Kohorten zu beurteilen. Aber auch zur Früherkennung ließe sich VERA-2 anwenden. Ein so hehrer Anspruch lässt die Frage aufkommen, ob es einer einzigen Checkliste überhaupt möglich ist, alle Spielarten und Motivlagen der politisch-ideologisch-weltanschaulich motivierten Gewalt sowie alle denkbaren Radikalisierungsstadien – Affiliation, Konsolidierung, Fundamentalisierung – valide und reliabel zu messen (vgl. Möller/Schuhmacher 2007, Wagner 2014).

Später ging die Autorin einen Schritt weiter und erklärte, dass VERA-2 nun ein komplexes dynamisches kausales Modell zugrunde liege bzw. abbilde, das notwendige und hinreichende kausale Bedingungen berücksichtige (Pressman 2016, S. 253). Zugleich blieb sie die Antwort schuldig, welche Faktoren denn notwendig und/oder hinreichend sein sollen. Stattdessen schlug sie vor, die Prädiktoren des Instruments „umzustrukturieren“, um konjunktive bzw. kausale Prognosen vorzunehmen. Zugleich wurden keine logischen Regeln formuliert, nach denen den jeweiligen Bedingungen die Marker „notwendig“ und/oder „hinreichend“ zugewiesen werden sollen. Oder anders formuliert: Die Instrumentenentwicklerin legte keine logischen Zusammenhänge zwischen den Prädiktoren offen. Nicht zuletzt liegt der Eklektizismus des Verfahrens darin begründet, dass VERA ursprünglich nicht als kausales Modell oder als eine Taxonomie notwendiger und/oder hinreichender Bedingungen konzipiert wurde. Eine solche kausale Umstrukturierung der Indikatoren öffnet im Übrigen der Willkür Tür und Tor, denn es bleibt schlussendlich dem Anwender mit seinen subjektiven Erfahrungswerten überlassen, die jeweiligen Faktoren zu „gewichten“. Vorliegende kausale Modelle des Terrorismus legen einige methodische Defizite des dynamischen Modells von VERA-2 offen (vgl. Davis et al. 2015).

Die Anwendung von VERA-2R setzt eine gute Fallkenntnis voraus, die im Idealfall aus dem Studium verschiedener Informationsquellen resultieren soll. Die Autorin formulierte darüber hinaus Beispielfragen, die optional an die zu beurteilende Person gestellt werden können. Alle Indikatoren werden auf einer dreistufigen Skala – niedrig, moderat und hoch – bewertet, wobei für jede Merkmalsausprägung eine Operationalisierung hinterlegt ist. Anschließend nimmt der Anwender eine Gesamtbewertung auf einer ebenfalls dreistufigen Skala vor (Sadowski et al. 2017, S. 337; VERA-2R-Manual). Die Heuristiken dürften jenen vom HCR-20 ähnlich sein.

Nach Scarcella et al. (2016, S. 10) erfüllt VERA-2 nur wenige Anforderungen an die psychometrischen Eigenschaften eines Fragebogens: Lesbarkeit (++), kulturelle Übersetzbarkeit (+), Befragtenbelastung (++), Inhaltsvalidität (++) und Interrater-Reliabilität (++), also insgesamt fünf von 17 möglichen Kriterien. Die Prüfung der Interrater-Reliabilität von VERA an fünf Fällen – basierend auf offenen Quellen – und mit zwei Anwendern ergab jedoch eher eine moderate Objektivität (vgl. Hart et al. 2017, S. 17). Die „Inhaltsvalidität“ des Instruments basiert auf Expertenmeinungen, was bei den SPJ-Checklisten zwar nicht selten ist. Zugleich ist jedoch zu bedenken, dass die Zusammenstellung der jeweiligen Risikofaktoren nicht (immer) anhand empirischer und evidenzbasierter Studien erfolgte. Deshalb leitete die Autorin aus der Eigenschaft „Augenscheinvalidität“ eine Art Kriteriums- und Konstruktvalidität ab. Augenscheinvalidität liegt nach Pressman (2016, S. 262) vor, wenn es so aussehe, dass der Test funktionieren würde. Daraus zieht die Autorin jedoch eher fragwürdige Schlüsse. Trotz gegenteiliger Behauptungen handelt es sich bei dieser „auf Expertenmeinungen basierenden Augenscheinvalidität“ um eine anekdotische Evidenz erfahrungsbasierter Anwendung (Hart et al. 2017, S. 19).

Zusammenfassend sei hervorgehoben, dass die Entwickler der VERA-Suite beachtenswerte RBeG-Checklisten auf den Markt gebracht haben, deren Messgenauigkeit und methodischer Güte allerdings viel zu wenig Beachtung beigemessen wurde. Da die Autorin von VERA gewissermaßen den sprichwörtlichen Wagen vors Pferd spannte, bemüht sie sich im Nachhinein sichtlich um einen ernst zu nehmenden theoretischen Überbau. Dabei können die im dünnen Fundament versenkten Pfeiler diesem immer schwerer werdenden Theoriegebäude kaum standhalten. Daher sollten die entwickelten Instrumente einer eingehenden Prüfung unterzogen werden, bevor sie europaweit gestreut werden.

2.1.2 Risikokategorien und -merkmale




Tab. 1: Risikokategorien und -faktoren des VERA-2(R).


Quelle: VERA-2R-Manual

 

2.2 Extremism Risk Guidance (ERG 22+)

2.2.1 Diskussion

Die 2009 entstandene Liste „Structured Risk Guidance” war das erste entwickelte SPJ-Instrument zur Risikobewertung extremistischer Bestrebungen.2 Die Folgeversion ERG 22+ (weiter: ERG) wird in England und Wales sowie seit kurzem in Minnesota eingesetzt (Herzog-Evans 2018). In Schottland findet demgegenüber VERA-2R Anwendung. Im Gegensatz zu der auf Schreibtischrecherchen basierenden VERA-Suite entstand ERG, wie die Indikatorenliste nach dem Abschluss entsprechender Evaluationsmaßnahmen seit 2011 heißt, anhand einer methodischen Triangulation: der Fallarbeit mit insgesamt über 40 verurteilten extremistischen Straftätern, von denen mindestens 20 auch interviewt worden sein sollen; eines Vergleichs zwischen 20 inhaftierten Extremisten und 12 wegen Terrorismusdelikten verurteilten Gefangenen; der internationalen Literaturrecherche; der Expertenkonsultation und wissenschaftlichen Begleitung durch ein Beratungsgremium, zu dem auch Terrorismusexperten gehörten. Im Rahmen der begleitenden Evaluationsmaßnahmen fanden insgesamt 15 Tiefeninterviews mit „strategischen Stakeholdern“ und Anwendern der noch nicht rubrizierten Checkliste mit zum damaligen Zeitpunkt 21 identifizierten Risikofaktoren statt, was nicht repräsentativ für alle mit dem Instrument bewerteten Straftäter ist, wie die Autoren zu Recht betonten (Webster et al. 2017, S. 1, 6).

Unter Heranziehung des „Offender Assessment System“ (OASys) leiteten die Autoren zudem relevante Unterschiede zwischen den extremistischen und nicht extremistischen Straftätern ab (Herzog-Evans 2018, S. 6). Die Systematisierung der 22 Prädiktoren entlang dreier für extremistische Verlaufspfade relevanten Dimensionen – des Engagements als Affiliation mit der Gruppe und/oder Identifikation mit der „Sache“, der Absicht als Bereitschaft, sich zu engagieren, und der relevanten Fähigkeiten – erfolgte durch 35 Strafvollzugsbeamte mit Erfahrungen im Umgang mit extremistischen Gefangenen (Lloyd/Dean 2015, S. 46). Des Weiteren fand ein „Peer-review“-Verfahren innerhalb des Gefängnis- und Bewährungsdienstes (NOMS) statt, unterstützt durch zwei Experten auf dem Gebiet der Risikobewertung aus dem Beratungsgremium. 2015 wurden nach Eigenangaben etwa 150 Straftäter aus den Bereichen Rechtsextremismus, Einzelstreitfragenextremismus und Bandenkriminalität mit dem Instrument bewertet. Der ERG ist nah am SPJ-Verfahren im eigentlichen Sinn. Dieses dreidimensionale Modell stellt ein Instrument an der Schwelle zur vierten Generation bzw. zu einem RNR-Modell (Risk-Need-Responsivity) dar, das mit den Maßnahmen von „Healthy Identity Intervention“ (HII) korrespondiert.

Der Kategorisierung des Radikalisierungsrisikos im ERG-Modell liegt eine Prämisse zugrunde, der zufolge es sich hierbei vordergründig um ein psychologisches Phänomen handelt, was unter einigen Experten als methodologischer Individualismus und psychologischer Reduktionismus bzw. Atomismus unter Kritik steht (Knudsen 2018, S. 3). Als Anwender kommen forensische Psychologen und erfahrene Bewährungshelfer, die an einem zweitägigen Training teilgenommen haben, in Frage. Zugleich wiesen die Instrumentenentwickler darauf hin, dass terroristische Karrieren durchaus politische und soziale Ursachen haben. Diese werden allerdings im Sinne der Theorie der Selbstkategorisierung und der Sozialisation in den Terrorismus vordergründig als psychologische Korrelate gedeutet (Lloyd/Dean 2015, S. 43 f.). Nach Scarcella et al. (2016, S. 10) erfüllt der ERG nur wenige relevante psychometrische Kriterien: Lesbarkeit (++), kulturelle Übersetzbarkeit (+), Befragtenbelastung (++), Inhaltsvalidität (++) und Interrater-Reliabilität (++).

Ziel war es, ein empirisch fundiertes Instrument zu entwickeln, das ein effizientes Risikomanagement und effektive Interventionen ermöglichen würde. Dafür war eine klinisch sensitive, empirische und ethisch vertretbare „Methodologie“ notwendig (Lloyd/Dean 2015, S. 41). Die Autoren orientierten sich an der in Großbritannien gängigen Extremismusdefinition, die nicht nur soziale, politische und ideologische Belange, sondern auch opportunistische und kriminelle Motivlagen umfasst. Bei der Entwicklung fand der postulierte Unterschied zwischen dem extremistischen und nicht extremistischen Denken im Kontext der (kognitiven) integrativen Komplexität Berücksichtigung. Demzufolge wohnen ersterem simplizistische, reduktionistische und dichotome Züge inne (vgl. das Konzept des „Motivated Reasoning“). Das ERG-Modell basiert auf der Theorie des überlegten Handelns bzw. des geplanten Verhaltens (auch als Modell von Ajzen/Fishbein bekannt), das besagt, dass das tatsächliche Verhalten von Verhaltensabsichten und Intentionen determiniert wird (der Ansatz der rationalen Handlungswahl, vgl. die Selbstbestimmungstheorie). Diese stellen ein Ergebnis der persönlichen Einstellung zum Verhalten und der normativen Überzeugungen inkl. Verhaltenskontrolle dar (Lloyd/Dean 2015, S. 43).

Eine weitere wichtige theoretische Prämisse des ERG-Ansatzes ist die Fokussierung der Affiliations- bzw. Engagementsebene. Die im SRG angelegte Risikokategorie „Überzeugungen und Motivation“ wurde in ERG durch „Engagement“ bzw. „Identifikation“ ersetzt, verstanden als eine dynamische Balance zwischen den Zug- und Druckfaktoren; weitere relevante Risikokategorien sind „Absicht bzw. Intention“ und „Fähigkeiten“.3

Einige aus der Terrorismusforschung übernommene Prämissen liegen diesem Verfahren zugrunde, die mit weiteren Fallbeobachtungen kombiniert wurden. Einerseits findet in der Population eine Überidentifikation mit einer Ideologie, Gruppe oder Sache statt, die zur Transformation der Ich-Identität führt. Andererseits akzeptieren Extremisten ein Erklärungsnarrativ für das beobachtete Weltgeschehen; sie teilen die Welt in Eigen- und Fremdgruppen und fällen moralische Urteile über die Anderen. Nicht minder relevant sind die sozialen Dominanzansprüche sowie Machtausübung und -kontrolle. Am wichtigsten erscheint allerdings der gemeinsame Nenner für alle extremistischen Akteure: die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Missstände (Lloyd/Dean 2015, S. 44 f.). Besonders hervorgehoben sei die Beobachtung, der zufolge es unterschiedliche Pfade der Radikalisierung im Blick auf das Verhältnis zwischen der revolutionären und transnationalen islamistischen Ideologie gibt. Es liegt nahe, dass diese Verlaufsmuster verschiedene Funktionen erfüllen und unterschiedlichen Bedürfnissen entspringen können.


Der ERG-Leitfaden dient als Orientierungshilfe bei der Fallarbeit bzw. Fallformulierung. Daher findet keine Skalierung der Risikofaktoren statt; das Kombinieren von Variablen soll eine „Risikogeschichte erzählen“ (ebd., S. 46). Das Item „Sonstige Faktoren“ (dafür steht „+“ in der Instrumentenbezeichnung) macht es möglich, andere psychologisch relevante Vulnerabilitätsfaktoren einzubeziehen: fehlende emotionale Resilienz, biographische Brüche, Beziehungsprobleme, Hedonismus, Heroismus, Verschwörungsdenken, Imponiergehabe u.a. (Herzog-Evans 2018, S. 19).

Die methodische Vorgehensweise erinnert in etwa an die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse. Die Anwender sollen die Liste qualitativ in Hinblick auf eine Reihe von relevanten Fragen bearbeiten: Welche kontextuellen Umstände trugen oder können zu extremistischen Straftaten beitragen? Welche persönlichen Merkmale (Bedürfnisse, Prädispositionen) taten/tun dies? Welche Bedeutung hatte bzw. kann die Straftat für die betroffene Person haben? Welche Umstände und Eigenschaften können sie davon abhalten bzw. sie davor schützen, Straftaten zu begehen? Hinsichtlich der letzten zu beantwortenden Frage fällt negativ ins Gewicht, dass das Instrument keine Schutzfaktoren enthält. Diese Inkonsistenz scheint jedoch durch das Interventionsprogramm „Healthy Identity Intervention“ ausgeglichen worden zu sein.

Zusammenfassend sei hervorgehoben, dass das ERG-Instrument aufgrund theoretischer Konstrukte (Selbstkategorisierungstheorie, Theorie des geplanten Handelns) und der Fallarbeit inkl. wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation als RNR-Modell entwickelt wurde. Dessen Verfahren der erklärungsorientierten Fallformulierung ließe sich mit MIVEA vergleichen, auch wenn die letztere Methode auf einer deutlich solideren empirischen Basis entstanden ist. Im Gegensatz zur VERA-Checkliste, die ursprünglich eklektisch in Anlehnung an den HCR-20 als Grundlage für Interventionen beschrieben wurde, wohnt dem ERG-Verfahren der Präventions- und Interventionsgedanke inne. Dessen Ausdruck ist das entworfene HII-Interventionskonzept. Zugleich ist es nicht summativ, sondern eher idiographisch angelegt, auch wenn sich die Urteilsbildung an vorgegebenen Kriterien orientiert. Auch wenn der ERG überzeugender erscheint, ist dennoch dem Urteil von Herzog-Evans (2018, S. 20) zuzustimmen: „The capacity of both of these tools [VERA und ERG, M. L.] to truly assess risk is currently unknown and debatable.“

 

2.2.2 Risikokategorien und -merkmale



Tab. 2: Risikokategorien und -faktoren des ERG 22+.

Quelle: Lloyd/Dean (2015, S. 46)

 

3 Bilanz

 

Die diskutierten RBeG-Instrumente wurden nur mangelhaft validiert, in der Regel von Personen und/oder Institutionen, die am Entwicklungsprozess beteiligt waren. VERA fußt hauptsächlich auf anekdotischen Evidenzen in Form von Urteilen von konsultierten Anwendern. Statistisch signifikante Korrelationen oder radikalisierungsrelevante Kausalitäten konnten von den Instrumentenentwicklern nicht aufgezeigt werden. Als Heiliger Gral der RBeG wird daher das SPJ-Verfahren dargeboten, auch wenn sich das Verfahren in Ermangelung empirisch fundierter Risikofaktoren als stumpfes Schwert erweist. Der Test des Instruments beschränkte sich auf die Einschätzung von einigen wenigen, gut bekannten sowie recherchierten Fällen und auf die Kontrolle der Interrater-Reliabilität. Weitergehende Tests von VERA-2 scheiterten bspw. an organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten, da unter anderem einer der Autoren für Schulungen der Anwender nicht bezahlt und somit die Checkliste nicht erworben werden konnte (Hart et al. 2017, S. 20).

Der ERG dient im Gegensatz zu VERA primär dazu, kriminovalente Bedürfnisse und Prädispositionen zu identifizieren, die eine Intervention notwendig erscheinen lassen. Der Bewertungsansatz basiert daher auf einer Fallformulierung, „Diagnoseerstellung“, Bildung von Hypothesen über die Rolle der Vulnerabilitätsfaktoren bei Straftaten und Ausarbeitung von Prognosen über die zukünftige extremistische Kriminalität. Ziel von ERG ist somit primär das Risikomanagement, während VERA vordergründig eher zwecks Risikobewertung entwickelt wurde. VERA hob dabei vor allem auf die Ideologie ab. Das zentrale Konstrukt von ERG ist „Identität“, wobei die Psychopathologie im Gegensatz zu VERA keine große Rolle spielt. Weitere Unterschiede betreffen die Skalierung der zu erfassenden Risikofaktoren (entfällt bei ERG) und das Ansprechbarkeitsprinzip (fehlt bei VERA) (vgl. Herog-Evans 2018, Lloyd-Dean 2015).

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass trotz gegenteiliger Verlautbarungen die extremismusrelevante Prognoseforschung erst am Anfang ihres langen Weges steht und im Blick auf ihre empirische Fundiertheit sowie theoretische Verankerung einen großen Nachholbedarf aufweist. Es verwundert schon sehr, dass die am meisten beworbenen und eine weite Verbreitung gefundenen SPJ-Checklisten den üblichen methodologischen und methodischen Anforderungen am wenigsten entsprechen. Die sicherheitsrelevante (Kriminal-)Prognose mit mehr als spürbaren Folgen für die betroffenen Personen sollte nicht auf vagen und kaum bzw. nur oberflächlich getesteten Annahmen beruhen. Unabhängig davon sollten die sich im Umlauf befindlichen kommerziellen Instrumente auf eine solidere theoretische und empirische Basis gestellt werden. Denn ihre Anwendung auf unterschiedliche Zielgruppen und Sub-Populationen in verschiedenen Settings birgt Tücken, die aus einem Über-, aber auch aus einem Untermaß resultieren können. Daher bleibt die Frage – Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein als gefährlich klassifizierter Extremist tatsächlich gefährlich wird? – von großer Wichtigkeit.

 

Anmerkungen

 

  1. Dr. Michail Logvinov ist Extremismusforscher und Fachkraft für Kriminalprävention. Er wirkt im Verbund wissenschaftlicher Mitarbeitender des BAMF-Forschungszentrums mit, der aus den Mitteln des Nationalen Präventionsprogramms gegen islamistischen Extremismus finanziert wird. Die Literaturliste zu diesem Fachbeitrag ist in der Online-Ausgabe der Zeitschrift unter www.kriminalpolizei.de abrufbar.
  2. Hart et al. (2017, S. 15) behaupten demgegenüber, dass ERG aufgrund einer „systematischen Analyse existierender Tools (inkl. VERA 2 und MLG)“ entstanden sei, was den Angaben der ERG-Entwickler widerspricht (Lloyd/Dean 2015).
  3. „[…] the first dimension concerns the process of engagement and includes the factors that motivate an individual to engage with a group, cause, or ideology. The second concerns the degree of intent or readiness to offend associated with the individual mindset, including what they would do and to what end. The third concerns the individual’s capability of carrying out an act of terrorism. […] Aspects of capability can also provide information about intent where individuals had clearly developed a capability for terrorism through, for example, amassing materials for bomb making or reconnoitring possible terrorist sites. Experience suggests that capability is perhaps the most difficult dimension to assess and requires clarity over what level of capability is of concern” (Lloyd/Dean 2015, S. 46).