Wissenschaft  und Forschung

Risikoeinschätzung extremistischer Straftäter

Zwei Instrumente im Vergleich


Der ERG-Leitfaden dient als Orientierungshilfe bei der Fallarbeit bzw. Fallformulierung. Daher findet keine Skalierung der Risikofaktoren statt; das Kombinieren von Variablen soll eine „Risikogeschichte erzählen“ (ebd., S. 46). Das Item „Sonstige Faktoren“ (dafür steht „+“ in der Instrumentenbezeichnung) macht es möglich, andere psychologisch relevante Vulnerabilitätsfaktoren einzubeziehen: fehlende emotionale Resilienz, biographische Brüche, Beziehungsprobleme, Hedonismus, Heroismus, Verschwörungsdenken, Imponiergehabe u.a. (Herzog-Evans 2018, S. 19).

Die methodische Vorgehensweise erinnert in etwa an die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse. Die Anwender sollen die Liste qualitativ in Hinblick auf eine Reihe von relevanten Fragen bearbeiten: Welche kontextuellen Umstände trugen oder können zu extremistischen Straftaten beitragen? Welche persönlichen Merkmale (Bedürfnisse, Prädispositionen) taten/tun dies? Welche Bedeutung hatte bzw. kann die Straftat für die betroffene Person haben? Welche Umstände und Eigenschaften können sie davon abhalten bzw. sie davor schützen, Straftaten zu begehen? Hinsichtlich der letzten zu beantwortenden Frage fällt negativ ins Gewicht, dass das Instrument keine Schutzfaktoren enthält. Diese Inkonsistenz scheint jedoch durch das Interventionsprogramm „Healthy Identity Intervention“ ausgeglichen worden zu sein.

Zusammenfassend sei hervorgehoben, dass das ERG-Instrument aufgrund theoretischer Konstrukte (Selbstkategorisierungstheorie, Theorie des geplanten Handelns) und der Fallarbeit inkl. wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation als RNR-Modell entwickelt wurde. Dessen Verfahren der erklärungsorientierten Fallformulierung ließe sich mit MIVEA vergleichen, auch wenn die letztere Methode auf einer deutlich solideren empirischen Basis entstanden ist. Im Gegensatz zur VERA-Checkliste, die ursprünglich eklektisch in Anlehnung an den HCR-20 als Grundlage für Interventionen beschrieben wurde, wohnt dem ERG-Verfahren der Präventions- und Interventionsgedanke inne. Dessen Ausdruck ist das entworfene HII-Interventionskonzept. Zugleich ist es nicht summativ, sondern eher idiographisch angelegt, auch wenn sich die Urteilsbildung an vorgegebenen Kriterien orientiert. Auch wenn der ERG überzeugender erscheint, ist dennoch dem Urteil von Herzog-Evans (2018, S. 20) zuzustimmen: „The capacity of both of these tools [VERA und ERG, M. L.] to truly assess risk is currently unknown and debatable.“

 

2.2.2 Risikokategorien und -merkmale



Tab. 2: Risikokategorien und -faktoren des ERG 22+.

Quelle: Lloyd/Dean (2015, S. 46)

 

3 Bilanz

 

Die diskutierten RBeG-Instrumente wurden nur mangelhaft validiert, in der Regel von Personen und/oder Institutionen, die am Entwicklungsprozess beteiligt waren. VERA fußt hauptsächlich auf anekdotischen Evidenzen in Form von Urteilen von konsultierten Anwendern. Statistisch signifikante Korrelationen oder radikalisierungsrelevante Kausalitäten konnten von den Instrumentenentwicklern nicht aufgezeigt werden. Als Heiliger Gral der RBeG wird daher das SPJ-Verfahren dargeboten, auch wenn sich das Verfahren in Ermangelung empirisch fundierter Risikofaktoren als stumpfes Schwert erweist. Der Test des Instruments beschränkte sich auf die Einschätzung von einigen wenigen, gut bekannten sowie recherchierten Fällen und auf die Kontrolle der Interrater-Reliabilität. Weitergehende Tests von VERA-2 scheiterten bspw. an organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten, da unter anderem einer der Autoren für Schulungen der Anwender nicht bezahlt und somit die Checkliste nicht erworben werden konnte (Hart et al. 2017, S. 20).

Der ERG dient im Gegensatz zu VERA primär dazu, kriminovalente Bedürfnisse und Prädispositionen zu identifizieren, die eine Intervention notwendig erscheinen lassen. Der Bewertungsansatz basiert daher auf einer Fallformulierung, „Diagnoseerstellung“, Bildung von Hypothesen über die Rolle der Vulnerabilitätsfaktoren bei Straftaten und Ausarbeitung von Prognosen über die zukünftige extremistische Kriminalität. Ziel von ERG ist somit primär das Risikomanagement, während VERA vordergründig eher zwecks Risikobewertung entwickelt wurde. VERA hob dabei vor allem auf die Ideologie ab. Das zentrale Konstrukt von ERG ist „Identität“, wobei die Psychopathologie im Gegensatz zu VERA keine große Rolle spielt. Weitere Unterschiede betreffen die Skalierung der zu erfassenden Risikofaktoren (entfällt bei ERG) und das Ansprechbarkeitsprinzip (fehlt bei VERA) (vgl. Herog-Evans 2018, Lloyd-Dean 2015).

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass trotz gegenteiliger Verlautbarungen die extremismusrelevante Prognoseforschung erst am Anfang ihres langen Weges steht und im Blick auf ihre empirische Fundiertheit sowie theoretische Verankerung einen großen Nachholbedarf aufweist. Es verwundert schon sehr, dass die am meisten beworbenen und eine weite Verbreitung gefundenen SPJ-Checklisten den üblichen methodologischen und methodischen Anforderungen am wenigsten entsprechen. Die sicherheitsrelevante (Kriminal-)Prognose mit mehr als spürbaren Folgen für die betroffenen Personen sollte nicht auf vagen und kaum bzw. nur oberflächlich getesteten Annahmen beruhen. Unabhängig davon sollten die sich im Umlauf befindlichen kommerziellen Instrumente auf eine solidere theoretische und empirische Basis gestellt werden. Denn ihre Anwendung auf unterschiedliche Zielgruppen und Sub-Populationen in verschiedenen Settings birgt Tücken, die aus einem Über-, aber auch aus einem Untermaß resultieren können. Daher bleibt die Frage – Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein als gefährlich klassifizierter Extremist tatsächlich gefährlich wird? – von großer Wichtigkeit.

 

Anmerkungen

 

  1. Dr. Michail Logvinov ist Extremismusforscher und Fachkraft für Kriminalprävention. Er wirkt im Verbund wissenschaftlicher Mitarbeitender des BAMF-Forschungszentrums mit, der aus den Mitteln des Nationalen Präventionsprogramms gegen islamistischen Extremismus finanziert wird. Die Literaturliste zu diesem Fachbeitrag ist in der Online-Ausgabe der Zeitschrift unter www.kriminalpolizei.de abrufbar.
  2. Hart et al. (2017, S. 15) behaupten demgegenüber, dass ERG aufgrund einer „systematischen Analyse existierender Tools (inkl. VERA 2 und MLG)“ entstanden sei, was den Angaben der ERG-Entwickler widerspricht (Lloyd/Dean 2015).
  3. „[…] the first dimension concerns the process of engagement and includes the factors that motivate an individual to engage with a group, cause, or ideology. The second concerns the degree of intent or readiness to offend associated with the individual mindset, including what they would do and to what end. The third concerns the individual’s capability of carrying out an act of terrorism. […] Aspects of capability can also provide information about intent where individuals had clearly developed a capability for terrorism through, for example, amassing materials for bomb making or reconnoitring possible terrorist sites. Experience suggests that capability is perhaps the most difficult dimension to assess and requires clarity over what level of capability is of concern” (Lloyd/Dean 2015, S. 46).
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