Wissenschaft  und Forschung

Nach den Buchstaben des Gesetzes

Legalistische Islamisten in der Bundesrepublik Deutschland


Zahlenmäßig stärkste legalistische Organisation ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görus mit der Mutterorganisation „Glückseligkeits-Partei“ (Saadet Partisi) in der Türkei. Unterorganisationen sind die 1985 in Köln gegründete „Islamische Gemeinschaft Milli Görus“ (IGMG), die „IsmailAğaCemaati“, die „Deutschlandvertretung der ‚Saadet Partisi‘“, die „Europavertretung der Erbakan-Stiftung“ sowie die Zeitung „Milli Gazete“.7 Bei der IGMG muss man von erfolgreicher Einflussnahme auf die in der Bundesrepublik lebende türkische Gemeinschaft sprechen;8 verstärkt wird dies noch durch das bestehende islamistische Regime in Ankara, wenn auch nicht unter Beteiligung der Saadet Partisi.9 Zwischen den legalistischen Islamisten und türkischen Rechtsextremisten bestehen darüber hinaus seit Jahren Verbindungen,10 gleichwohl beide Ideologiefragmente schwer zueinanderpassen, steht doch für die türkische rechtsextremistische Szene die Idee einer „Turk-Rasse“ im Vordergrund.

Die zahlenmäßig kleine und seit 2018 neu als Aufklärungsobjekt des BfV aufgenommene 1994 in der Türkei gegründete türkisch-sunnitische Furqan-Gemeinschaft hat bereits in der Namensgebung ihr Programm: Ruft doch die Sure Furqan alle gläubigen Muslime zu scharfer Abgrenzung gegenüber Nichtgläubigen auf und warnt ausdrücklich vor der Beigesellung (shirq). Virulent ist insbesondere ein notorischer Antisemitismus, der zwar bei allen Islamisten anzutreffen ist, bei der Furqan-gemeinschaft jedoch noch einmal signifikant eliminatorischen Charakter trägt.11

Die 1926 in Indien gegründete Tabligi Jamaat schließlich stellt als indo-pakistanische Organisation gewissermaßen einen Exoten dar, doch auch sie verstand es, die Migrationskrise ab 2015 für ihre Zwecke zu nutzen; im Fokus stand hier insbesondere Migranten aus Afghanistan12. „Die Tablighi Jamaat hat es geschafft, über die so genannte ethnische Grenze zu springen. Ihr gelang es, in vielen Ländern eine Anhängerschaft zu bilden, die komplett lokalen Ursprungs ist. Da es eine Laienbewegung ist, die Muslime aus dem Alltag als Laienprediger gewinnt, können keine konkreten Zahlen genannt werden. Die Schätzungen schwanken zwischen weltweit zehn bis fünfzig Millionen. Auf der funktionalen Seite geht die Missionsbewegung wie die Zeugen Jehovas vor. Das heißt, sie gehen von Haus zu Haus, laden Leute zum Gebet in die Moschee ein, und machen Missionsreisen in andere Länder und andere Gemeinschaften. Eigentlich versuchen sie nicht, Menschen zum Konvertieren zu überreden, sondern sie wollen Muslime animieren, alle Vorschriften des Islams zu befolgen. Damit bilden sie de facto ein Netzwerk, das von ganz verschiedenen Leuten benutzt wird, die entweder liberale oder radikale Ansichten vertreten. Auch Studenten nutzen beispielsweise das System als Reisemöglichkeit, um die Welt kennenzulernen und nebenbei zu missionieren.“13

Bereits an dieser groben Überblicksdarstellung wird deutlich, dass die Szene ethnisch und religiös Spaltungen aufweist und die Kooperationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Im Folgenden werden die Organisationen im Einzelnen vorgestellt.

 

3 Prognose


Die oben aufgeführte Darstellung macht deutlich, wie verzweigt legalistische Islamisten in der Bundesrepublik operieren. Es stellt sich dabei die Frage, wie die Zukunft aussieht. Es steht zu erwarten, dass aufgrund der Migrationskrise 2015 die Legalisten, ähnlich wie die Salafisten, ihre Rekrutierungsbemühungen verstärken werden. Da es sich bei Letzteren demografisch eine eher jüngere Population handelt, dürften möglicherweise die Salafisten, auch von deutschen Konvertiten, stärker profitieren. Allerdings muss auch bedacht werden, dass zum Beispiel die Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft auch als Fundamentalopposition gegen das diktatorische Assad-Regime gewertet werden muss. Auf diesem Wege könnte sich die MB auch in der Bundesrepublik als scheindemokratische Alternative gegenüber Asylbewerbern anbieten. Eine neuere Entwicklung stellen verstärkte Kooperationen beziehungsweise fallweise Zusammenarbeit von Legalisten (hier insbesondere die Muslimbruderschaft) und Salafisten dar, wobei hier insbesondere der Verein „Ansaar e.V.“ im Fokus steht, der mutmaßlich zur Finanzierung der HAMAS im Gazastreifen dient und 2019 Gegenstand von polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen war.14 Es kommt hinzu, dass die derzeitige türkische Regierung eine islamistische Agenda verfolgt15 und außenpolitisch auch entsprechend tätig wird, etwa durch Waffenlieferungen an den djihadistischen Akteur HTS in der syrischen Provinz Idlib.16

Nachfolgend ein Blick in die einzelnen Organisationen und ihre prognostische Entwicklung:

Die Muslimbruderschaft in Form der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft erfährt seit Jahren Zulauf, ihre Vernetzung weltweit und auch in Europa, insbesondere Frankreich, ist vorbildblich.17 Die geringe Zahl von Anhängern darf dabei nicht über das qualitativ hohe Niveau der der Anhänger hinwegtäuschen, die einen hohen soziokulturellen Status aufweisen und häufig sehr gut vernetzt sind. Es kann erwartet werden, dass die DMG mit ihren vielfältigen und wenig bekannten Unterorganisationen weiter zielstrebig an der Vernetzung innerhalb arabisch-muslimischer Gemeinschaften arbeiten wird, dies gilt insbesondere auch in sozioökonomisch schwachen Stadtvierteln bzw. Regionen wie z.B. Teilen Berlins und dem Ruhrgebiet. Ggf. sind auch Bezüge zum OK-Bereich der Clans nicht auszuschließen, z.B. im Bereich der juristischen Streitschlichtung („Friedensrichter“).

Das schiitisch-persische IZH mit seinen Untergliederungen könnte aufgrund der Migration aus Afghanistan profitieren, bestünden dort doch unter den schiitischen, persischsprachigen Hazara gewisse Anknüpfungspunkte für eine Rekrutierung18. Seine Bedeutung wird jedoch gegenüber dem quantitativ übermächtigen „sunnitischen Block“ unter den Muslimen in Deutschland trotz der 2009 auf Betreiben des IZH erfolgten Gründung der „Islamischen Gemeinschaft der Schiiten in Deutschland“ marginal bleiben.19

Abzuwarten bleibt die Entwicklung der größten legalistischen Organisation, der Islamische GemeinschaftMilli Görus; die Sicherheitsbehörden vermögen hier eine Entwicklung vom Extremismus weg zum Radikalismus unter Akzeptanz der fdGO und Ablösung von der türkischen Mutterpartei Saadet Partisi zu erkennen.20 Ob dieser aus demokratietheoretischer und auch sicherheitspolitischer Sicht begrüßenswerte Trend dauerhaft sein wird, sei dahingestellt, es könnte sich hier auch eine taktische Kehre handeln.

Die türkisch-sunnitische Furqan-Gemeinschaft betreibt über die in der Türkei ansässige „Furqan-Stiftung“ unablässig Propaganda auch für ihre Anhänger in Deutschland,21 die Organisation wird die Bundesrepublik aber wohl weiter wie bereits in der Vergangenheit als Rekrutierungsgebiet für hier lebende türkischstämmige Menschen nutzen wollen,22 womit die Organisation neben der türkischen rechtsextremistischen Szene und dem starken Einfluss seitens türkischer Regierungsstellen (DITIB etc.) ein weiteres schwerwiegendes Integrationshemmnis darstellt.

Die TB wird in ihrer Bedeutung in Deutschland zu Unrecht unterschätzt, sie wird ihre Aktivitäten – abhängig von der Entwicklung der muslimischen Migration nach Deutschland absehbar weiter verstärken.