Linke Identitätspolitik und Meinungsfreiheit

Von Dr. Udo Baron, Hannover

1 Einleitung

 

Der ausgewiesene Afrikaforscher Helmut Bley wird von einer Veranstaltung in Hannover im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ ausgeladen, weil eine Antirassismus-Initiative meint, man könne mit ihm nicht über Rassismus reden, da er als „alter, weißer Mann“ nicht beurteilen könne, wie sich schwarze Menschen fühlen.2 Die Berliner Politikerin Bettina Jarasch muss sich entschuldigen, weil sie als Kind Indianerhäuptling habe werden wollen.3 Der Soziologe und Polizist Frank-Holger Acker soll keine kriminologisch-soziologische Einführung über Polizei und Kriminalität an der Leibniz-Universität in Hannover geben, da er angeblich als Polizist keine kritische Distanz zur Organisation Polizei einnehme könne.4 Diese Beispiele, die sich mühelos erweitern ließen, rücken eine Entwicklung in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, die sich seit einiger Zeit in Deutschland, Europa und den USA bis weit in die Mitte der Gesellschaft ausbreitet: eine Identitätspolitik von links, auch Cancel Culture („Ausschlusskultur“) genannt. Cancel Culture meint damit den systematischen Boykott von Personen, deren Aussagen als diskriminierend eingeordnet werden, damit ihre Meinungen aus dem öffentlichen und veröffentlichten Raum verschwinden. Anhand von Beispielen aus dem In- und Ausland wie der Kontroverse um die Äußerungen des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse oder der Spitzenpolitikerin der Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, aber auch unter Rückgriff auf internationale Entwicklungen wie der Herausbildung einer in Frankreich sehr aktiven sogenannten „Islam-Linken“ oder der Auseinandersetzung um das Gedicht der dunkelhäutigen US-Poetin Amanda Gromann will der Beitrag folgenden Fragen nachgehen und damit zu einer politischen Einordnung dieses Phänomens beitragen: Was verbirgt sich hinter den Begriffen „linke Identitätspolitik“ bzw. „Cancel Culture“? Welche Ziele verfolgen Identitätslinke? Wie gehen sie vor, um diese zu erreichen? Welche Rolle spielt die Sprache für die linke Identitätspolitik? Welche Gefahren entstehen durch dieses Phänomen für den demokratischen Rechtsstaat? Welche internationale Dimension hat diese Entwicklung?

 

2 Linke Identitätspolitik – eine Begriffsbestimmung

 

Identitätspolitik im Allgemeinen stellt die Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen nach Anerkennung, Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und Stärkung ihres Einflusses in den Mittelpunkt. Dahinter steht das Konzept einer Politik, die nicht mehr primär die soziale, sondern die kulturelle Zugehörigkeit zu speziellen Gruppen in den Fokus rückt und deren Interessen vertritt.5 Vor allem Rechtsextremisten betreiben mit ihrem völkischen Gedanken und ihrem Gebot der Rassenreinheit eine ethnisch-kulturell basierte Identitätspolitik. Ihr Ziel ist es, ethnisch reine und somit homogene politische Gemeinschaften zu schaffen, um mit ihnen die Vorherrschaft gegenüber anderen Gruppen und Ethnien anzustreben. Ihren Ausdruck findet dieser Ethnopluralismus vor allem in der Neuen Rechten, an deren Identitätsverständnis die rechtsextremistische „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD) anknüpft.6


Doch es gibt nicht nur eine rechte Identitätspolitik, sondern auch eine linke. Die Identitätslinke zielt auf die Gleichstellung und Emanzipation von Gruppen, die wegen ihrer geschlechtlichen, kulturellen oder religiösen Identität als benachteiligt gelten. Dazu zählen gegenwärtig insbesondere ethnische Minderheiten wie People of Color, Flüchtlinge, die Afroamerikaner und die Hispanics in den USA, religiöse Minderheiten (Muslime), genderbezogene Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Trans- und Intersexuelle), ferner Obdachlose und Behinderte. Linke Identitätspolitik zielt im Gegensatz zur klassischen linken Politik nicht mehr primär auf die Lösung der sozialen Frage und somit der klassischen sozio-ökonomischen Verteilungskonflikte, sondern rückt die jeweilige Gruppen, deren Identität und individuelle sowie strukturelle Diskriminierung in den Mittelpunkt. Aus diesem Grunde betrachtet sie Minderheiten pauschal als einheitliche Gruppen von diskriminierten Opfern, die von der Mehrheitsgesellschaft als Dominanzkultur objektiv benachteiligt werden.7 Nur Mitglieder von Opfergruppen dürfen ihrer Ansicht nach im Namen diskriminierter Minderheiten sprechen. Dabei handelt es sich bei der linken Identitätspolitik nicht um eine Partei, einen Verein, eine Gruppierung, Publikation oder ein konkretes Projekt mit einer klaren Ideologie oder einem entwickelten Programm. Vielmehr versteht sich linke Identitätspolitik als ein Diskurskonstrukt, als eine Bezeichnung für bestimmte Positionen, die eine öffentliche Wirkung entfalten wollen.8 Da Identitäten als homogen betrachtet werden und somit nicht teilbar sind, polarisiert Identitätspolitik. Sie weist Menschen eine Schuld oder eine Opferidentität zu. Zudem argumentiert sie moralisch und nicht inhaltlich und zeichnet sich durch Kompromisslosigkeit und Diskriminierung aus, wie die Fälle Bley und Acker zeigen. Betroffene werden gezielt von bestimmten Diskursen ausgeschlossen und durch Shitstorms über die Sozialen Netzwerke stigmatisiert. Wer Kritik übt und auf Widersprüche hinweist, wird als „Nazi“, „Rassist“ oder auch „Sexist“ diskreditiert. Linke Identitätspolitik übernimmt dabei unter umgekehrten Vorzeichen selbst rassistische und sexistische Deutungsmuster: „weiße“ Männer wie Bley werden, nur weil sie weiß und männlich sind, pauschal als strukturell rassistisch und sexistisch und damit als ungeeignet für jeglichen Diskurs zu Themen wie Rassismus, Kolonialismus etc. betrachtet. Diese Muster werden von den Anhängern linker Identitätspolitik auf alle gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Gruppen übertragen. In dieser Logik ist auch ein Polizist wie Frank-Holger Acker ungeeignet, kritisch über die Polizei im Rahmen eines Hochschulseminars zu reden, da auch die Polizei als eine homogene Einheit (in diesem Falle als eine von den Identitätslinken als negativ definierte Gruppe) wahrgenommen wird.


Linke Identitätspolitik findet ihren Ausdruck neben der Symbolik auch in einer gegenderten Sprache. Hatte diese ursprünglich die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie aller Geschlechter in gesprochener und geschriebener Sprache zum Ziel, so hat sie sich zunehmend zu einem Herrschaftsinstrument linker Identitätspolitik entwickelt. So benannte der Backwarenhersteller Bahlsen seine 1953 eingeführte Marke „Afrika“ jüngst in „Perpetum“ in der Hoffnung um, dadurch den Vorwurf des Alltagsrassismus zu entkräften.9 Damit auch Kinder frühzeitig lernen, sich politisch korrekt zu verhalten, sind Kinder- und Jugendbücher wie Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren oder Tom Sawyer von Mark Twain schon seit längerem nicht mehr in der Originalversion verfügbar. Sind Begriffe wie „Zigeunerschnitzel“, „Mohrenkopf“ oder „Negerkuss“ vor dem Hintergrund dieser Entwicklung nicht ganz zu Unrecht aus dem offiziellen Sprachgebrauch mittlerweile verschwunden, so gibt die Stigmatisierung bestimmter Begriffe oder das Sternchen hinter dem Wort ebenso wie der Unterstrich oder der Doppelpunkt Auskunft über eine bestimmte Denkweise und daraus resultierend über ein bestimmtes Identitätsverständnis. Linksidentitäre versuchen so, die Sprache zu reglementieren und zu verordnen. Sprache wird dadurch elitär und kann somit zum Herrschaftsmittel der Identitätslinken werden, denn wer bestimmt, was gesagt und geschrieben werden darf, hat Macht über die Gesellschaft.

 

3 Die Debatte um eine linke Identitätspolitik


Die Debatte um eine linke Identitätspolitik strahlt mittlerweile bis in die Mitte der Gesellschaft. So kritisierte der frühere Bundestagspräsident und Sozialdemokrat Wolfgang Thierse in einem Namensbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass „subjektive Betroffenheit“ und „biografische Prägungen“ statt „Vernunftgründe“ und „begründete Argumente“ zunehmend die gesellschaftlichen Debatten bestimmen. Für ihn sind die Identitätslinken „neue Bilderstürme[r]“, die „die Mühsal von Diskussionen“ scheuen und denen der „unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein“ fehle.10 Statt sich mit ihm zu solidarisieren, haben sich die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert umgehend von ihrem Parteifreund distanziert und ihm ein „rückwärtsgewandtes Bild“ vorgeworfen.11 Wie heftig umstritten dieses Thema auch innerhalb der radikalen Linken ist, zeigt die Kontroverse um Sarah Wagenknecht. Sie kritisiert in ihrem neuesten Buch „Die Selbstgerechten“ die linke Identitätspolitik und ihre Vertreter, die sie als „Lifestyle-Linke“ charakterisiert. Ihnen wirft sie vor, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie „zu leben, zu denken, zu reden haben.“ Statt sich für den sozialen Ausgleich zu engagieren, fokussieren sie sich auf Randgruppen, richten ihr „Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ und spalten so die Linke.12 Marxisten kritisieren, dass die Identitätslinken „nicht mehr die Analyse der ökonomischen Ausbeutungsstrukturen und der Klassenherrschaft in den Mittelpunkt stellen, sondern ihre Gesellschaftskritik auf das Gebiet der Kultur und des `Diskurses´ verlagern.“13


Diese Kontroversen offenbaren einen zunehmenden Riss innerhalb der politischen Linken: Linke, für die die soziale Frage und nicht die Frage der Identität im Vordergrund steht, grenzen sich von der Cancel Culture der Identitätslinken ab und warnen vor ihr. Bereits im Sommer 2020 beklagten 153 Intellektuelle aus verschiedenen Ländern wie Noam Chomsky, Daniel Kehlmann und Salman Rushdie in einem öffentlichen Aufruf zur Toleranz eine moralische Entrüstung, die die offene Debatte und Toleranz von Unterschieden zugunsten ideologischer Konformität schwäche und nach sofortiger Vergeltung für als Entgleisung wahrgenommene Reden und Gedanken verlange.14


In den USA, aber auch in Frankreich, Italien und Großbritannien ist diese Entwicklung insbesondere an den Hochschulen schon so weit vorangeschritten, dass sie Formen eines modernen Kulturkampfes angenommen hat. Lautstarke, sich als linksidentitär verstehende Gruppierungen sind mancherorts so stark geworden, dass sie mit jakobinischem Eifer Hochschullehrer mit ihrer Cancel Culture einschüchtern und sie mit verbalen Angriffen vor allem über das Internet überziehen, um dadurch eine kritische Auseinandersetzung z.B. mit Werken internationaler Geistesgrößen zu verhindern. Nicht selten folgen Universitäten diesen Forderungen mit übertriebenen Maßnahmen. So werden beispielsweise die Schriften von Platon, Kant, Hegel und selbst von Goethe oftmals nicht mehr gelesen, weil diesen Denkern unter Ausblendung ihres historischen Kontexts von linksidentitärer Seite rassistische und sexistische Auffassungen in ihren Texten unterstellt werden, waren sie doch alle „weiße Männer“. Italienische Linksintellektuelle haben vor diesem Hintergrund eine Facebook-Kampagne unter der Überschrift „Sputiamo su Hegel“ (Wir spucken auf Hegel) gestartet.15 Cancel Culture trifft aber nicht nur „weiße Männer“, sondern auch „weiße Frauen“. So gab beispielsweise die niederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rinjevid den Auftrag zurück, das Gedicht der dunkelhäutigen US-Poetin Amanda Gromann, welches diese bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden vorgetragen hat, ins Niederländische zu übersetzen. Ihr war vorgehalten worden, als angeblich privilegierte „weiße“ Frau könne und dürfe sie nicht den Text einer formell benachteiligten „schwarzen“ Dichterin übersetzen.16


In Frankreich findet diese Entwicklung ihren Ausdruck u.a. in einer zunehmenden Zusammenarbeit zwischen Islamisten und radikalen Linken, sog. „Islam-Linken“ (frz. „Islamo-Gauchisme“). Dahinter verbirgt sich eine Bündnisbereitschaft von Linken gegenüber Islamisten bis hin zu gemeinsame Aktionen z.B. gegen Israel und die USA. Migranten, vor allem aber Muslime haben bei diesen Identitätslinken mittlerweile den Arbeiter als revolutionären Subjekt in den Hintergrund gedrängt. So protestieren in Frankreich immer wieder Studenten der extremen Linken gemeinsam mit militanten Islamisten gegen Verfechter einer universalistischen, feministischen und säkularen Linken. Kritik am Islam, selbst seine Analyse, wird von ihnen mit Gotteslästerung gleichgesetzt. In den Sozialwissenschaften soll die „Islam-Linke“ schon so dominant geworden sein, dass sie jeglichen Diskurs, der ihrer Meinung widerspricht, unmöglich macht.17 90 Professoren und Forscher forderten deshalb jüngst in einem offenen Brief in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.18

 

4 Linke Identitätspolitik und wehrhafte Demokratie


Was im Mittelalter die Konfession war und im 20. Jahrhundert die Ideologien, ist heutzutage die Identität. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so würde die Befreiung des Individuums aus den Fesseln des Kollektivs, eine der zentralen Errungenschaften seit der Französischen Revolution von 1789, durch den antiindividualistischen Kollektivismus der Identitätslinken aufgehoben. Der Einzelne müsste wieder zugunsten der homogenen Gemeinschaft in den Hintergrund treten. Gäbe unsere Gesellschaft widerstandslos dieser Entwicklung nach, wären die Folgen linker Identitätspolitik für unseren freiheitlichen Rechtsstaat und seine Bürger gravierend. Vor allem die individuellen Menschenrechte und somit die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen, die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Wissenschaftsfreiheit, aber auch jede Form von Gemeinsinn und Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft würden in Frage gestellt werden. Kollektive Gruppenidentitäten stünden dann über den individuellen Menschenrechten. Ein Menschenrechtsrelativismus wäre die Folge.19 Nicht mehr Qualität und Vernunft eines Arguments, sondern Geschlecht, Hautfarbe und Religion würden die Diskussionen prägen. Nur noch Personen aus homogenen Gruppen dürften sich zu Fragen und Problemen dieser Gruppen in der von ihnen vorgegebenen Sprache äußern. Die Befindlichkeiten einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Minderheiten und nicht mehr der Inhalt stünden im Vordergrund. Verteidigt würde dann jemand, weil er einer aus der homogenen Gruppe, also einer „von uns“ ist, und nicht, weil er richtig argumentiert oder gehandelt hat. Nicht mehr der freie Austausch unterschiedlicher Positionen und Ansätze würde den Diskurs bestimmen, sondern ein dichotomes Weltbild homogener Gruppen, dass die Welt schematisch in „Gut“ und „Böse“ einteilt. Die Selbstzensur, die berühmte „Schere im Kopf“, würde wieder wie in vormodernen Zeiten die Diskussionen prägen und jeglichen wissenschaftlichen Diskurs faktisch aushebeln. Ein Rückschritt in voraufklärerische Zeiten wäre vorprogrammiert. Eine Verschärfung der Polarisierung, Zersplitterung und Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer, religiöser und genderbezogener Trennlinien wäre die Folge. Die fortschreitende moralische Aufladung der Politik durch linksidentitäre Positionen würde eine rationale Gestaltung zentraler Politikfelder wie Zuwanderung, Integration und innere Sicherheit nicht nur verhindern, sondern unmöglich machen. Eine (Un-)kultur aus Angst, Scheinheiligkeit und Heuchelei wäre die Folge. Nutznießer dieser Entwicklung wären am Ende vor allem rechtspopulistische und rechtsextremistische Formationen. Sie bringen sich schon jetzt als Wahrer der Interessen der „kleinen Leute“ gegen eine linksgerichtete Political Correctness geschickt in Stellung, um verunsicherte Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Ihnen werden die sich abgewertet fühlenden Wähler zugetrieben. In Frankreich, aber auch in Großbritannien, Italien und den USA ist dieses Phänomen bereits mit Händen zu greifen. Es wäre naiv zu glauben, Deutschland bliebe davon verschont.

 

5 Ausblick


Im Ergebnis stellen linksidentitäre Bestrebungen eine hochgradig intolerante Strömung der extremen Linken mit Auswirkungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft dar. In Gestalt von Cancel Culture brandmarken sie politisch missliebige Gruppen, Personen und Positionen und verweigern sich dem vernunftgeleiteten kritischen Diskurs. Linksidentitäre versuchen, durch eine ideologisch ausgerichtete Sprachzensur die Meinungsfreiheit auszuhöhlen, schaffen geistige Verbotszonen und bedrohen so auch die Freiheit von Forschung und Lehre an den Hochschulen. Durch ihre einseitige Fixierung auf Identitäten wie Ethnie, Religion oder Gender blenden sie die soziale Frage aus und erweitern so die Trennlinien in der Gesellschaft. Die von ihnen erzeugte Polarisierung kann dadurch zu einer weiteren Verunsicherung der westlichen Gesellschaften führen und somit zu einem Erstarken rechtsextremer Kräfte. Diese Entwicklung wird auch von der bundesrepublikanischen Bevölkerung sehr sensibel und kritisch wahrgenommen. So äußerten laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Mai/Juni 2021 nur noch 45% der Befragten die Ansicht, man könne in Deutschland seine Meinung frei sagen. 44% dagegen gaben an, aus Sorge vor gesellschaftlichen Sanktionen bei Verstößen gegen die „Political Correctness“ mittlerweile lieber vorsichtig zu sein. Seit dem Beginn dieser Erhebung im Jahre 1953 ist das der mit Abstand niedrigste Wert für das Freiheitsgefühl der bundesdeutschen Bürger.20


Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ein Engagement für gesellschaftliche Minderheiten ist richtig und wichtig. Diskriminierung und (Alltags-)rassismus haben in demokratischen Gesellschaften nichts zu suchen. Ebenso gehört die Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei aufgearbeitet. Doch wo dieser Einsatz zur Diskriminierung anderer und zur Stigmatisierung von Mehrheiten durch Minderheiten führt, verstößt er gegen die Würde des Einzelnen und somit gegen grundlegende Menschenrechte bzw. grundgesetzlich geschützte Bürgerrechte. Wohin die Forderungen nach homogenen Gemeinschaften führen können, haben wir in der deutschen Geschichte auf grausame Art und Weise erleben müssen. Allein aus diesem Grunde gilt es sowohl Rechts-, aber auch Linksidentitäre mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates zu bekämpfen. An dieser Stelle ist die wehrhafte Demokratie gefordert, die in der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung formulierten grundlegenden Werte wie Menschenrechte, Meinungs-, Presse-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit und somit die unantastbare Würde eines jeden Menschen gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die Extremismusprävention muss sich des Themas Identitätslinke annehmen und der von ihr ausgehenden freiheitsfeindlichen Zielrichtung durch Information und Aufklärung aktiv entgegenwirken. Es ist traurig, dass man im 21. Jahrhundert noch einmal ausdrücklich an die Werte der Aufklärung, der französischen Revolution und der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung erinnern muss. Aber die offene Gesellschaft und mit ihr die Freiheit des geschriebenen und gesprochenen Wortes müssen täglich neu gegen ihre Feinde von allen Demokraten verteidigt werden.

 

Anmerkungen

 

  1. Der Autor ist seit 2008 als Referent beim Niedersächsischen Verfassungsschutz tätig.
  2. Vgl. Stillahn, Alina/Benne, Simon: „Man muss auch mal Haltung zeigen“, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 1.4.2021, S. 12.
  3. Vgl. o. A.: Grünen-Politikerin sagt „Indianerhäuptling“ – und empört damit Parteifreunde, in: Focus-Online, 23.3.2021, www.focus.de/politik/deutschland/unreflektierte-kindheitserinnerung-indianer-eklat-spitzenkandidatin-bettina-jarasch-erntet-bei-gruenen-parteitag-kritik_id_13108083.html, Stand: 18.3.2021.
  4. Vgl. Hilbig, Barbara: Asta lehnt Polizisten als Dozenten ab, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16.4.2021, S. 19.
  5. Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Die antiaufklärerische Dimension linker Identitätspolitik, 17.3.2021, in: hans-albert-institut.de/die-antiaufklaererische-dimension-linker-identitaetspolitik, Stand: 11.5.2021.
  6. Vgl. Meyer, Thomas: Identitätspolitik – worum es geht, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Ausgabe 10/2018, 1.10.2018, www.frankfurter-hefte.de/artikel/identitaetspolitik-worum-es-geht-2572/, Stand: 10.5.2021.
  7. Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Identitätslinke relativieren Menschenrechte, in: Neue Züricher Zeitung, 13.4.2021, S. 14.
  8. Vgl. Pfahl-Traugbher, Armin: Die „Identitätslinke“ – was ist das überhaupt?, 22.4.2021, in: hpd.de/artikel/identitaetslinke-ueberhaupt-19210, Stand: 17.5.2021.
  9. Vgl. Benne, Simon: Neuer Name für „Afrika“-Kekse, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.6.2021, S.17.
  10. Thierse, Wolfgang: Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.2021, www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html, Stand: 3.3.2021.
  11. Zitiert nach Gujer, Eric: Identitätspolitik hält für Deutschland eine Pointe bereit, in: Neue Züricher Zeitung, 12.3.2021, www.nzz.ch/meinung/wolfgang-thierse-hat-recht-identitaetspolitik-ist-gift-ld.1606241, Stand: 17.3.2021.
  12. Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt am Main 2021.
  13. Textor, Jona: Eine marxistische Kritik der „postmodernen Identitätslinken“ und des identitätspolitischen Antirassismus, 30.7.2020, in: kommunistische.org/diskussion/eine-marxistische-kritik-der-postmodernen-identitaetslinken-und-des-identitaetspolitischen-antirassismus/ , Stand: 14.6.2021.
  14. Vgl. A Letter on Justice and Open Debate, in Harper´s Magazine, 7.7.2020, in: harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/, Stand: 1.6.2021.
  15. Italienische Linksintellektuelle haben damit einen Buchtitel der italienischen Feministin Carla Lonzi aus dem Jahre 1974 aufgegriffen.
  16. Vgl. Lüdke, Steffen et al.: Zwischen Poesie und Politik, in: Der Spiegel Nr. 13, 27.3 2021, S. 102-105.
  17. Vgl. Hesse, Christoph: Sagten Sie „Islam-Linke“?, in: die tageszeitung, 15.3.2021, taz.de/Populismus-und-Islamismus/!57546, Stand: 20.3.2021.
  18. Vgl. Sandberg, Britta: Alle sind gleich – theoretisch, in: Der Spiegel Nr. 11, 13.3.2021, S. 84.
  19. Vgl. Pfahl-Traughber, Identitätslinke relativieren Menschenrechte, S.14.
  20. Petersen, Thomas: Die Mehrheit fühlt sich gegängelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.2021, S. 8.