Recht und Justiz

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Teil 1)

Von Prof. Dr. Dennis Bock und Cathrin Lebro, Kiel

1.2 Grundtatbestand: Sexueller Übergriff, § 177 I StGB

Einen sexuellen Übergriff begeht gem. § 177 I StGB, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder vor einem Dritten bestimmt. Anders als es dem Wortlaut der Vorschrift zu entnehmen ist, muss der „erkennbare Wille“ aus Sicht eines objektiven Dritten vom Opfer ausdrücklich oder konkludent (z.B. durch Weinen oder Weggehen) geäußert worden sein.21 Bestimmen ist jedes (Mit-)Verursachen des gesetzlich umschriebenen Verhaltens.22 Erforderlich ist ein mentales und kommunikatives Einwirken auf das Opfer, das sich in einem Überreden erschöpfen kann.23 In der Praxis bereitet die Frage, wann ein erkennbarer entgegenstehender Wille vorliegt, erhebliche Probleme.

1.3 Ausnutzen sonstiger Umstände und Nötigung, § 177 II StGB

§ 177 II StGB stellt der Missachtung des „erkennbaren“ Willens einer anderen Person verschiedene Situationen gleich, in denen ein entgegenstehender Wille vom Opfer nicht gebildet, geäußert oder durchgesetzt bzw. dies dem Opfer nicht zugemutet werden kann. Diese besonderen Umstände muss der Täter in den Nr. 1-4 ausnutzen, d.h. die Lage erkennen und sich zunutze machen.24

§ 177 II Nr. 1 StGB setzt die absolute Unfähigkeit des Opfers zur Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens im Zeitpunkt der Tat voraus, z.B. durch Beibringung von K.O.-Tropfen.25 Unerheblich ist, ob dieser Zustand vom Täter geschaffen oder lediglich vorgefunden und sodann ausgenutzt wurde.26

Gem. § 177 II Nr. 2 StGB muss das Opfer zunächst aufgrund seines körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung seines Willens erheblich eingeschränkt sein, z.B. infolge von Alkohol- oder Drogeneinfluss. Erheblich ist die Einschränkung, wenn sie aus objektiver Sicht offensichtlich auf der Hand liegt und sich einem aufdrängt.27 Nach § 177 II Nr. 2 Hs. 2 StGB scheidet indes vor dem Hintergrund des sog. „Nur ja heißt ja“-Konzepts28 eine Strafbarkeit aus, wenn sich der Täter der Zustimmung des Opfers „versichert“ hat. Angesichts der tatbestandlich vorausgesetzten Einschränkung der Willensbildungs- oder -äußerungsfreiheit des Opfers scheint diese Regelung widersprüchlich und wirft in der Rechtsanwendung erhebliche Probleme auf.29

§ 177 II Nr. 3 StGB erfasst Fälle der „Überrumpelung“ oder des „Grapschens“, in denen das Opfer sich einer sexuellen Handlung nicht versieht und aus diesem Grund nicht rechtzeitig eine entsprechende Ablehnung erkennbar zum Ausdruck bringen kann.30

§ 177 II Nr. 4 StGB ist erfüllt, wenn der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel i.S.v. § 240 I StGB droht. Hierbei muss der Täter weder selbst Gewalt anwenden noch dem Opfer drohen, sodass es genügt, wenn er sich ein bestehendes „Klima der Gewalt“ zunutze macht.31Bsp.: T hat in der Vergangenheit mehrfach seine Frau geschlagen, wenn diese nicht den Beischlaf mit ihm vollziehen wollte. Um weitere Schläge zu vermeiden, leistet F nun keinen Widerstand mehr.

§ 177 II Nr. 5 StGB enthält die eigentliche Nötigung zu sexuellen Handlungen, der Täter muss also tatsächlich mit einem empfindlichen Übel drohen.

1.4 Qualifikationen

In den Abs. 4, 5, 6 und 8 werden Taten nach § 177 I oder II StGB jeweils zum Verbrechen qualifiziert. Beim kumulativen Vorliegen des jeweiligen Grundtatbestandes nach § 177 I oder II StGB und der qualifizierenden Umstände erhöht sich damit der Strafrahmen.

1.4.1 § 177 IV StGB

§ 177 IV StGB qualifiziert eine Tat nach § 177 II Nr. 1 StGB, wenn die fehlende Widerstandsfähigkeit auf einer Krankheit oder Behinderung (§ 2 SGB IX) des Opfers beruht. Damit scheiden jene Fälle aus, in denen das Opfer durch die Einnahme von Alkohol oder K.O-Tropfen keinen entgegenstehenden Willen bilden oder äußern kann.

 

 

1.4.2 § 177 V StGB

§ 177 V StGB stuft erzwungene und gewaltsame sexuelle Handlungen zum Verbrechen auf. Im Gegensatz zu § 177 I StGB a.F. müssen Gewalt, qualifizierte Drohung und Ausnutzung einer schutzlosen Lage nicht mehr als Nötigungsmittel eingesetzt werden, sodass die qualifizierenden Umstände bereits vorliegen, wenn der Täter bei der sexuellen Handlung Gewalt oder eine qualifizierte Drohung einsetzt oder eine sexuelle Handlung unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage vornimmt. Das Delikt kann somit auch einaktig begangen werden.32Bsp.: O lehnt verbal ab, von T berührt zu werden. T streichelt ihr dennoch im Intimbereich und schlägt zur Luststeigerung auf sie ein.Die Situation des schutzlosen Ausgeliefertseins entspricht der der hilflosen Lage i.S.d. § 221 StGB und besteht, wenn das Opfer aus Furcht vor möglichen körperlichen Einwirkungen des Täters in seinen Abwehrmöglichkeiten beschränkt und von dritter Seite keine Hilfe zu erwarten ist.33 Ein Ausnutzen dieser Lage verlangt objektiv, dass sie dem Täter zumindest die Gelegenheit zur Tat bietet und deren Ausführung erleichtert.34 Subjektiv muss der Täter dies erkannt und sich zunutze gemacht haben.35Bsp.: T nimmt nachts im einsamen Park sexuelle Handlungen an O vor, obwohl er zuvor eindrücklich von ihr abgewiesen wurde.