Kriminalität

Sind Kinder als Betroffene von Gewalt in unserem Strafgesetzbuch eigentlich nur minderwertig?

Von PD a.D. Rainer Becker, Güstrow

 

5 Was sagt die EU dazu?


Der Verfasser stellt sich die Frage, ob unsere Bundesjustizministerin bei ihren in keiner Weise ausreichenden und die Innenministerkonferenz missachtenden Nicht-Aktivitäten an die Forderungen der EU-Kommission gedacht hat? Am 25. Juli 2019 hieß es, dass die Kommission in 17 Fällen rechtliche Schritte gegen Deutschland einleitet (https://ec.europa.eu/germany/news/20190725-vertragsverletzungsverfahren_de, kopiert am 26.3.2020). Hält ein Mitgliedstaat das EU-Recht nicht ein, kann die Kommission beschließen, den betreffenden Mitgliedstaat vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen. Stellt der Gerichtshof in seinem Urteil fest, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, so muss dieser Staat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um dem Urteil nachzukommen. Hat ein Mitgliedstaat die Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien nicht innerhalb der vom EU-Ministerrat und vom Europäischen Parlament gesetzten Frist getroffen, kann die Kommission den Gerichtshof ersuchen, bereits mit seinem ersten Urteil in dieser Rechtssache eine Geldstrafe gegen den betreffenden Staat zu verhängen.

Mir stellt sich die Frage, ob und vor allen Dingen warum es unsere Bundesjustizministerin hierauf ankommen lassen will? Oder glaubt sie etwa, dass ihre Aktivitäten bezüglich des sog. Up-Skirting oder das Zulassen computergenerierter Bilder für verdeckte Ermittler auch nur ansatzweise die EU-Kommission zufriedenstellen könnten? Was will sie ihren zukünftigen Wählerinnen und Wählern hiermit (noch) beweisen? Entweder hat sie die Zusammenhänge noch immer nicht erkannt oder sie will sie – warum auch immer – bewusst ignorieren.

Es bedarf erheblich mehr und spezialisierter Ermittlungsbeamter, aber auch Staatsanwälte und Richter, um auf Bild- und Tonträger aufgezeichnete sexuelle Gewalt gegen Kinder auszuwerten und zu verfolgen. Hierfür sind sowohl die Länder als auch der Bund zuständig. Diese müssen hierfür technisch erheblich besser ausgestattet werden. Dies könnte und kann zwar auf Länderebene erfolgten, was teilweise schon der Fall ist, wäre aber auf Bundesebene sinnvoller, weil es kostengünstiger wäre und weniger Kommunikation erfordern würde. Und es bedarf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das Provider verpflichtet, sog. kinderpornografisches Material an das Bundeskriminalamt zu melden.Dies soll ja nun endlich kommen – mit zu meldender auf Bild- und Tonträger aufgezeichneter sexueller Gewalt von Kindern quasi als „Abfallprodukt“, denn dafür war es ja gar nicht vorgesehen. Dies nützt jedoch wieder nichts oder fast nichts ohne eine Erhebung von Verkehrsdaten gemäß den § 96 Abs. 1 TKG und 113 TKG in Verbindung mit § 100g StPO, die die sog. Vorratsdatenspeicherung in Deutschland regeln, die zurzeit vor dem EuGH geprüft wird. Hier ist festzustellen, dass § 100g StPO schwere handwerkliche Fehler enthält und so auf keinen Fall akzeptiert werden wird. Nur ein Fehler eines Juristen aus dem Bundesjustizministerium oder eines ganzen Teams oder vielleicht auch politisch angewiesenen, warum auch immer?

Die verstärkte Bekämpfung von auf Bild- und Tonträger aufgezeichnete sexueller Gewalt gegen Kinder lässt sich nicht sofort lösen und darüber hinaus nur als Gesamtpaket. Alles, was bisher erfolgt ist, ist ein Hin- und Herschieben von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten und etwas salopp formuliert „Gestoppel“. Ich wünsche mir, dass unser Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz endlich mit dem „Gestoppel“ aufhört und anfängt, seine Arbeit zu machen, so schnell und „handwerklich genau“ wie es schon in anderen Fällen wie dem sog. Up-Skirting- oder dem „Gaffer-Gesetz“ unter Beweis gestellt hat und dies ebenso effizient. Es geht doch. Warum nur nicht beim Kinderschutz?

Und mir stellt sich die Frage, ob die am Ende zu zahlende Geldstrafe dann aus dem Haushalt des hierfür verantwortlichen Ministeriums zu zahlen ist oder etwa „nur“ aus dem Bundeshaushalt. Angemessen wäre eine Kürzung des Haushaltes für das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, um die von der EU-Kommission verhängte Geldstrafe, denn warum sollten die Steuerzahler für die sich niemandem erschließende Verweigerungshaltung einer einzelnen Ministerin aufkommen?

Zur Verdeutlichung an dieser Stelle Auszüge aus der Ziffer 6 des Schreibens der EU-Kommission: „Kinderschutz: Kommission fordert Deutschland … zur Durchsetzung der EU-Vorschriften zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf …Die EU hat strenge Vorschriften erlassen, die gewährleisten, dass diese Formen des Missbrauchs in ganz Europa unter Strafe stehen, Täter hart bestraft werden und Opfer im Kindesalter geschützt werden, und die zur Verhütung dieser Straftaten beitragen. Die Richtlinie umfasst auch besondere Maßnahmen zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet. In fast allen Mitgliedstaaten ist es zu Verzögerungen bei der Umsetzung der neuen Maßnahmen gekommen…Die Kommission hat daher beschlossen, Vertragsverletzungsverfahren… wegen der nicht ordnungsgemäßen Überführung der Richtlinie in nationales Recht einzuleiten. Die betroffenen Mitgliedstaaten haben jetzt zwei Monate Zeit, um gegenüber der Kommission Stellung zu nehmen. Andernfalls kann die Kommission beschließen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln.“

Die Forderungen der Kommission sind dem Grunde nach eine Ohrfeige für unser zivilisiertes Land, in dem sexuelle Gewalt in welcher Form auch allmählich immer zu einem Massendelikt zu werden scheint, und im politischen Jargon muss hier offen die Frage gestellt werden, ob jemand, der zum Minister ernannt wurde und für die Einhaltung der Rechtsordnung unseres Landes zuständig sein soll, unter derartigen Umständen überhaupt (noch) ministrabel ist.

 

6 Unser schwer gestörtes Verhältnis zu Gewalt


Bereits bei körperlicher Gewalt gegen Kinder wird unser oftmals gestörtes Verhältnis zur Gewalt und insbesondere zu Kindern noch ein weiteres Mal deutlich. So wird die sog. Kindesmisshandlung gemäß § 225 StGB nicht einmal als Körperverletzung oder gar als Gewalt bezeichnet, sondern lediglich als eine Misshandlung. Darum werden so oft auch fälschlich einfache Körperverletzungen gegen ein Kind mit hierunter subsumiert und darum scheinen die Zahlen bezüglich Gewalt gegen Kinder mit rund 4000 Betroffenen jährlich auch durchgängig relativ niedrig zu sein. Dabei geht es bei der sog. Kindesmisshandlung gemäß § 225 StGB um schwere und schwerste Gewalt, die einem Kind mehrfach und über einen längeren Zeitraum und besonders quälend angetan wird. Es werden Knochen gebrochen, Zähne herausgeschlagen, es wird verbrüht, verbrannt, verätzt und weitere kaum beschreibbare Grausamkeiten begangen und das alles ist nicht einmal die korrekte Bezeichnung „Schwere Gewalt gegen ein Kind“ wert – warum? Und die derzeitige Mindeststrafandrohung wird allmählich nicht mehr verwundern, sie beträgt auch hier wieder nur 6 Monate Freiheitsstrafe und ist somit wieder nur ein Vergehen und damit kein besonders schwerer Rechtsbruch, aber es scheint ja nur um Kinder zu gehen.

Dabei beinhaltet Gewalt darüber hinaus sowohl gegen Kinder oder Erwachsene gerichtet aber weit mehr als so schwerwiegende Fälle rein körperlicher Gewalt wie die beschriebenen, und es gibt auch Fälle extremer psychischer Gewalt und gleichzeitig so mittelbare und subtile Drohungen, dass niemand deswegen rechtkräftig verurteilt werden könnte. Dies alles wurde und wird m.E. in unserem Land viel zu lange verdrängt und beginnt, uns heute „auf die Füße zu fallen“, denn nachdem am Anfang das Wort war, folgte dem dann bereits die eine oder andere Tat bis hin zum Mord oder Mordversuchen an Politikern selbst auf der kommunalen Ebene.

Es ist ohne Frage ein schwer lösbares juristisches Problem, sich mit den verschiedenen Formen von Gewalt und insbesondere psychischer Gewalt auseinanderzusetzen, aber wann, wenn nicht jetzt, sollten wir damit beginnen, mehr und offensiver dagegen zu halten als bisher. Schlechter als bisher kann es auf keinen Fall werden, und die Lösungsansätze sollten und müssen präventiv bei den jüngsten Betroffenen, unseren Kindern, beginnen, denn sie sollen einmal zu den „rechtstreuen“ Erwachsenen von morgen heranwachsen und uns selber einmal achtsam und liebevoll pflegen – so wie wir mit ihnen umgegangen sind. Und diese ersten Schritte hierzu sollten in unserem Strafgesetzbuch beginnen.