Coronakrise und die Auswirkungen auf Polizei, Kriminalität und Freiheitsrechte

Interviewreihe. Von Prof./Ltd. Regierungsdirektor a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms


Wir leben in einer schwierigen Zeit. Das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und vielen Menschen auf allen Kontinenten das Leben gekostet. Bis zum 12.08.2020 wurden durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 20.120.919 Infizierte und 736.766 Todesfälle gemeldet. Deutschland ist dabei noch relativ glimpflich davongekommen. Das Robert Koch-Institut (RKI) hat bundesweit 218.519 Infizierte gezählt. 9.207 Menschen sind davon ums Leben gekommen. Der Altersmedian der Sterbefälle liegt bei 82 Jahren. Eine erschreckende Zwischenbilanz, auch wenn die vorgenannten Zahlen sicher interpretationsbedürftig sind.

Zugleich stellt sich die Frage, ob mit dem Virus eine neue Zeitrechnung begonnen hat und nichts mehr so bleibt wie es einmal war, oder ob es sich nur um eine Episode handelt, die in wenigen Jahren vergessen ist.

Neben vielen persönlichen Schicksalen sowie unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen auf das gesamte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, hat die Corona-Pandemie auch die Polizeiarbeit deutlich beeinflusst. Einige Mitarbeiter sind schwer erkrankt, andere mussten ins Homeoffice geschickt werden. Neue Kriminalitätsformen und Einsatzschwerpunkte sind entstanden und an den polizeilichen Bildungseinrichtungen wurde vom Präsenzunterricht auf Online-Vorlesungen umgestellt.

„Die Kriminalpolizei“ hat Verantwortliche aus den Bereichen Polizei, Hochschule, Bürgerrechte und Kinderschutz zu ihrer Einschätzung der aktuellen Lage sowie der kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen von „COVID-19“ befragt. Nachfolgend werden ihre wesentlichen Aussagen vorgestellt.


Bildrechte: B 1 RKI Berlin, B 2 PP Hamburg, B 3-5 Redaktion.


 

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer: „Es geht um andere Aufgaben und neue Prioritäten“

Die Corona-Pandemie beeinflusst die Aufgabenwahrnehmung der Polizeien des Bundes und der Länder seit Wochen deutlich. Vor diesem Hintergrund wurde am 8. Mai 2020 ein Gespräch mit dem Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer geführt.

Kriminalpolizei: Sehr geehrter Herr Meyer, das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und viele tausend Menschen das Leben gekostet. Das RKI hat für Hamburg bis heute (Stand 8.5.2020) 4.753 Infizierte und 201 Todesfälle gemeldet. Bezogen auf die Häufigkeitszahl liegt die Hansestadt damit an vierter Stelle in Deutschland – eine erschreckende Bilanz. Sind auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hamburger Polizei unmittelbar betroffen?

Ralf Martin Meyer: Die Ursache für die starke Betroffenheit Hamburgs dürfte vor allem an den Skiferien im März und der Tatsache liegen, dass etliche Hamburger aus Urlaubsorten zurückgekehrt sind, die aus heutiger Sicht als besondere Hotspots galten. Darunter befanden sich auch Polizeibedienstete. Wir haben mit Stand 8.5.2020 allerdings überschaubare 39 bestätigte COVID-19-Fälle in der Polizei und davon sind bereits 36 Kollegen wieder genesen. Zwei Beamte befinden sich noch in ärztlicher Behandlung und fallen durch Nachsorgemaßnahmen noch etwas länger aus. Ein Beamter ist leider verstorben.Bemerkenswert ist, dass die allgemeine Erkrankungsquote der 11.090 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei Hamburg während der letzten Zeit deutlich gesunken ist. Wir liegen zurzeit bei 6,7%. Diese recht gute Quote kann auch durch die bestehenden Hygieneregeln zu erklären sein.

 


B 1: „SARS-CoV-2“ unter dem Elektronenmikroskop

Kriminalpolizei: Wie in allen Ländern sind in Hamburg durch Rechtsverordnung Kontaktbeschränkungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, die Schließung bestimmter Betriebe und Einrichtungen sowie Betretungsverbote und Quarantänemaßnahme angeordnet worden. Werden die angeordneten Beschränkungen durch die Hamburger Polizei regelmäßig kontrolliert und – wenn ja – wie hoch ist der zusätzliche Personalaufwand?

Ralf Martin Meyer: Wir haben in Hamburg sehr schnell eine dem Krisenstab der Innenbehörde nachgeordnete BAO der Polizei gebildet und uns vergewissert, welche Erwartungshaltung der Senat an uns hat. Diese Erwartung lag in der Tat u.a. in der Überprüfung der durch Allgemeinverfügung und nachfolgende „SARS-CoV-2-EindämmungsVO“ angeordneten Beschränkungen. Für diesen Auftrag hatten wir praktisch sofort die Landesbereitschaftspolizei zur Verfügung, da deren sonstige Aufgaben in wesentlichen Teilen weggefallen waren. Das liegt z.B. an der Absage der Fußballspiele, den entfallenen Einsätzen am Wochenende auf der Reeperbahn aufgrund von geschlossenen Bars und Gaststätten sowie dem komplett abgesagten Veranstaltungsgeschehen. Mit der Bereitschaftspolizei und den ja ebenfalls zur Verfügung stehenden Revierkräften hatten wir damit ausreichend Personal zur Verfügung, um die angeordneten Kontaktverbote zu kontrollieren. Insofern möchte ich nicht von einem zusätzlichen Personalaufwand sprechen, sondern es geht um andere Aufgaben und neue Prioritäten

Kriminalpolizei: Stehen alle Mitarbeiter der Polizei auf den Dienststellen vor Ort zur Verfügung oder befinden sich einige im Homeoffice?

Ralf Martin Meyer: Zunächst ging es um die grundsätzliche Frage, wie wir uns auf die Lage einzustellen hatten. Die Diskussion darüber war schwierig und auch emotional, denn einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren verunsichert – andere nicht. Letztlich haben wir uns für einen Schutz besonders vulnerabler Kolleginnen und Kollegen, aber gegen eine Kohortenbildung entschieden. Wir haben unseren Auftrag darin gesehen, die Polizei erkennbar auf die Straße zu bringen. Im Ergebnis haben wir für unsere gefährdeten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Homeoffice ermöglicht, ansonsten jedoch starke Präsenz gezeigt. Etwa 200 Telearbeitsplätze vor der Coronakrise haben wir nun deutlich um 400 Arbeitsplätze aufgestockt und wir können diese Zahl lagebildabhängig noch weiter erhöhen. Daneben haben wir auch den Schutz an den Dienststellen durch bauliche Maßnahmen verbessert. Ich denke hier z.B. an den Einbau von Plexiglasscheiben.

Kriminalpolizei: Haben die geänderten polizeilichen Aufgaben konkrete Auswirkungen auf den Regeldienst?

Ralf Martin Meyer: Ja, aber im Einzelfall durchaus auch positive. Wir haben die Krise zugleich als Chance begriffen, zurückgestellte Vorgänge in den Fokus genommen und inzwischen teilweise abgebaut. Dies gilt u.a. für das LKA. Zudem sehen wir die Frage der subjektiven Sicherheit besonders tangiert. Wenn die Straßen durch Kontaktbeschränkungen leer sind, ist es für die Bürger auch wichtig, dass die Polizei sichtbar unterwegs ist.

Kriminalpolizei: In den Medien wird berichtet, dass sich Straftäter zum Teil mit dem Hinweis auf eine Corona-Infektion der Festnahme entziehen wollten. Ist dieses Phänomen neu oder auch bereits im Zusammenhang mit anderen Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis aufgetreten?

Ralf Martin Meyer: Ja, dieses Verhalten ist nicht neu und wir kennen es insbesondere aus der beginnenden Welle der Aidserkrankungen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind mir nur Einzelfälle bekannt,
die hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung aber unbestätigt blieben. Unmittelbar mit der Pandemie zusam-menhängende und bedeutsame Kriminalitätsphänomene sind beispielsweise betrügerische Fake-Shops und Angriffe auf die Unterstützungszahlungen der Investitions- und Förderbank. Zum Teil wurde auch versucht, unter Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Gesundheitsbehörde und einen erforderlichen Corona-Test in die Wohnung älterer Menschen zu gelangen, um diese dort um ihr Hab und Gut zu bringen. Unsere Ermittlungen waren bisher stets schnell und häufig erfolgreich. Andererseits haben wir positiv feststellen können, dass bestimmte Deliktsformen stark zurückgegangen sind. Ich möchte hier exemplarisch Taschendiebstähle, Wohnungseinbrüche und Körperverletzungen im öffentlichen Raum wie der Reeperbahn nennen.

Kriminalpolizei: Hamburg hat rund um die „Rote Flora“ eine sehr umtriebige linksautonome Szene. Haben sich die dortigen Akteure bisher an die angeordneten Versammlungsverbote gehalten?

Ralf Martin Meyer: Von den Bewohnern der „Roten Flora“ selbst gingen keine problematischen Aktivitäten aus. Von den dort zugehörigen Personen haben wir einen zurückhaltenden und rationalen Umgang mit den bestehenden Einschränkungen unter Betonung der Gesundheit erlebt. Am 1. Mai kam es zwar zu Aktionen auf der Reeperbahn und auch im Schanzenviertel, diese gingen aber von einer anderen, ebenfalls linksextremen Gruppierung aus. Dabei haben die Akteure scheinbar bewusst den aus der Vergangenheit bekannten unmittelbaren Körperkontakt zu den Polizeikräften vermieden. Das war natürlich auch unser Anliegen, so dass wir Distanzmittel wie Wasserwerfer im Einsatz hatten und auch mit starker Präsenz schnell zu einer Lageberuhigung beigetragen haben. Zudem sind uns damit einige qualifizierte Festnahmen gelungen.

Kriminalpolizei: Im Einzelfall können durch die zu Ihrem Regiebereich gehörende Versammlungsbehörde Ausnahmen von dem grundsätzlichen Versammlungsverbot zugelassen werden, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar erscheint. Ist dies in den zurückliegenden Wochen erfolgt?

Ralf Martin Meyer: Ja, wobei sich dies im Verlaufe der Zeit im Rahmen der Möglichkeiten ausgiebiger entwickelt hat – stets unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Flächen, der voraussichtlichen Teilnehmerzahlen und der Bereitschaft des Veranstalters, erforderliche Hygieneregeln zu berücksichtigen. Bei den zugelassenen Ausnahmen ging es nicht allein um versammlungsrechtliche Fragen, sondern gleichermaßen um die Erfordernisse des Infektionsschutzes, die in Allgemeinverfügungen und regelmäßig fortgeschriebenen „SARS-CoV-2-EindämmungsVO“ konkretisiert wurden. Entscheidungen ergingen stets in enger Abstimmung mit der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz. Inzwischen hat sich eine Praxis entwickelt, in der die Ausnahme zur Regel geworden ist, sobald sich die Hygieneanforderungen beherrschen ließen. Mit Stand 6.5.2020 haben wir in Hamburg 130 Versammlungen zugelassen und nur 35 verboten. Das ist aus meiner Sicht ein beachtliches und die Freiheitsrechte besonders betonendes Verhältnis. Alle Entscheidungen werden unter Berücksichtigung des versammlungsrechtlichen Kooperationsgebots getroffen. In intensiven Gesprächen mit den Veranstaltern werden die Rahmenbedingungen einschließlich des Hygieneschutzes erörtert. Wir haben stets die hochrangige Versammlungsfreiheit im Auge – und dies aus gutem Grund. Aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Gefahren für höchste Rechtsgüter müssen aber andere Grundrechte temporär zurückstecken. Dies gilt für die Handlungsfreiheit, das Persönlichkeitsrecht, die Berufsfreiheit und eben auch für die Versammlungsfreiheit. Diese Wechselwirkung haben die Gerichte bisher auch bestätigt.

Kriminalpolizei: Bürgerrechtler haben mit Blick auf die angeordneten Beschränkungen eindringlich auf die hohe Bedeutung der Freiheitsrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen. Mehrfach gab es im Bundesgebiet Protestdemonstrationen. Haben Sie angesichts der bedrohten höchstwertigen Rechtsgüter Verständnis für diese kritische Haltung?

Ralf Martin Meyer: Für uns alle ist es von größter Bedeutung, dass wir uns mit auftretenden Fragen auch kritisch auseinandersetzen können. Die Meinungsfreiheit ist ohne Zweifel ein Wert an sich. Aber wir müssen die Freiheitsrechte auch den zurzeit gefährdeten höchsten Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit gegenüberstellen. Dies gilt für alle Positionen gleichermaßen. Ich denke da z.B. an die Einschränkung der Berufsfreiheit durch häufig sogar existenzbedrohende Maßnahmen. Vor dem Hintergrund, dass alle Einschränkungen nur temporär erfolgen, sehe ich die bisher vorgenommenen Abwägungen als gelungen an.

 


B 2: Polizeipräsidium Hamburg.

Kriminalpolizei: In die Zeit der Corona-Pandemie fiel auch die im „Michel“ geplante öffentliche Trauerfeier zu Ehren des im Dienst ums Leben gekommenen Hamburger Zielfahnders Klaus-Ulrich H. Konnte die Trauerfeier stattfinden oder ist sie ein Opfer des Coronavirus geworden?

Ralf Martin Meyer: Die Trauerfeier konnte nicht wie geplant stattfinden, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht die ganz einschneidenden Einschränkungen auf den engsten Familienkreis galten und die Zahl der Trauergäste auf 100 begrenzt war. Ich fühlte mich ganz persönlich betroffen, denn bei dem im Dienst ums Leben gekommen Kollegen handelt es sich um einen langjährigen Weggefährten von mir. Schließlich konnte trotz der Corona-Lage eine angemessene Trauerfeier stattfinden, und zwar in der Kapelle und am Ehrenrund an der Blutbuche des Ohlsdorfer Friedhofes. Die Feier fand im Kreise der Familie, der Freunde und dem engen Kreis von Begleitern des getöteten Kollegen statt. Eine größere Gedenkfeier soll aber zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.

Kriminalpolizei: Gibt es besondere Erkenntnisse aus der jüngeren Vergangenheit, die aus Ihrer Sicht für die künftige Polizeiarbeit unbedingt berücksichtigt werden sollten?

Ralf Martin Meyer: Zweifellos. So haben wir in der Vergangenheit das Thema „Homeoffice“ noch zu skeptisch betrachtet, was sich ja aus der bereits genannten Zahl von ursprünglich nur 200 Telearbeitsplätzen für mehr als 11.000 Mitarbeiter ergibt. Inzwischen kann ich sagen, dass wir damit in der aktuellen Lage keine negativen Erfahrungen gemacht haben. Insofern werden wir ähnliche Modelle sicher schrittweise weiter ausbauen. Zudem wollen wir unsere IT-Ausstattung mobiler gestalten, so dass wir noch flexibler agieren können. Vorantreiben werden wir auch die Digitalisierung der Lehre in Aus- und Fortbildung, bei der wir notwendige erste Schritte gemacht haben. Allerdings müssen wir abwarten, welche Möglichkeiten uns bei der kommenden, sicher nicht unkritischen Haushaltslage eingeräumt werden. Schließlich möchte ich noch einmal auf die Situation des Krankenstands hinweisen. Er betrug bei meinem Dienstantritt als Polizeipräsident vor sechs Jahren 10,3%. Nach aufwändigen Maßnahmen im Rahmen eines gezielten Gesundheitsmanagements konnten wir diese Quote auf 9,3% senken. In dieser besonderen Zeit liegen wir plötzlich bei 6,7%. Dieses beeindruckende Ergebnis muss genau analysiert werden, und wenn dafür Hygieneregeln ausschlaggebend sind, ergibt sich doch der Ansatz, hiervon auch zukünftig bestimmte Aspekte stärker zu berücksichtigen.


Anmerkung

Ralf Martin Meyer ist seit 1979 Angehöriger der Hamburger Polizei. Nach verschiedenen Tätigkeiten im mittleren, gehobenen und höheren Dienst ist Herr Meyer seit dem 1. Mai 2014 Polizeipräsident in der Hansestadt.


Landespolizeidirektor Michael Wilksen: „Wir sind und bleiben in Schleswig-Holstein eine Bürgerpolizei und setzen auf den Dialog mit der Bevölkerung“

 

Am 21. Juli 2020 ging es in einem Interview mit Landespolizeidirektor Michael Wilksen um die Auswirkungen der Coronakrise auf die Arbeit der Landespolizei Schleswig-Holstein.

Kriminalpolizei: Sehr geehrter Herr Wilksen, das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und vielen tausend Menschen das Leben gekostet. Das RKI hat für Schleswig-Holstein bis heute (Stand 21.7.2020) 3.278 Infizierte und 155 Todesfälle gemeldet. Sind auch Mitarbeiter der Landespolizei unmittelbar betroffen?

Michael Wilksen: Ja, allerdings. Glücklicherweise hat es in der Mitarbeiterschaft aber keinen Todesfall im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gegeben. Es gab sowohl Infektionsfälle als auch Erkrankungen. Insgesamt konnten wir feststellen, dass die Betroffenheit von Erkrankungen und Quarantäne-Anordnungen doch deutlich geringer ausfiel, als dies zu Beginn der Pandemie zu befürchten war. Dies ist nicht zuletzt dem verantwortlichen Handeln aller Kolleginnen und Kollegen und dem umsichtigen und engagierten Umgang der Dienststellen mit möglichen Infektionsgefahren zu verdanken. Wir haben sehr sorgfältig unsere Einsatzleitlinien und internen Maßnahmen an die jeweilige Lageentwicklung angepasst. In der Rückschau bestätigen die positiven Erfahrungen und Entwicklungen unser Vorgehen.

Kriminalpolizei: Durch Rechtsverordnungen sind Kontaktbeschränkungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, die Schließung bestimmter Einrichtungen sowie Betretungsverbote angeordnet worden. Erfolgt hier eine Kontrolle durch die Landespolizei und – wenn ja – wie hoch ist der Personalaufwand?

Michael Wilksen: Vorrangigsind die Gesundheits- und Ordnungsbehörden für die entsprechenden Kontrollenzuständig. Die Polizei unterstützt im Rahmen der Amts- und Vollzugshilfe. Diese Maßnahmen waren teilweise fordernd, beispielsweise in der Phase der Zugangsbeschränkungen für einige Inseln. Außerdem stellen wir auch in Schleswig-Holstein ein reges Versammlungsgeschehen fest und haben in den letzten Wochen, insbesondere an den Wochenenden, die Präsenz deutlich verstärkt. Eine abschließende Bilanz zum Personalaufwand kann noch nicht gezogen werden. Aber alleine am Himmelfahrtstag haben wir rund 500 zusätzliche Kräfte in den Dienst gesetzt.

Kriminalpolizei: Haben die Kontrollen negative Auswirkungen auf den Regeldienst und die Wahrnehmung der sonstigen polizeilichen Aufgaben?

Michael Wilksen: Alles in allem eher nicht. Insgesamt ließ sich ein kooperativer, verantwortungsvoller Umgang mit den Beschränkungen in der Bevölkerung feststellen, so dass den Maßnahmen der Ordnungsbehörden und auch der Polizei ganz überwiegend mit Verständnis begegnet wurde und wird. Während des weitgehenden gesellschaftlichen „Lockdowns“ hat sich der polizeiliche Fokus aber etwas verändert. Es gab deutliche weniger Verkehrsdelikte und -unfälle und ein temporäres Absinken des Kriminalitätsniveaus in bestimmten Deliksfeldern. Dafür musste an anderer Stelle der Aufwand erhöht werden, wie z.B. durch zusätzliche Kontrollen und eine stärkere Präsenz. Ein positiver Nebeneffekt war, dass im Rahmen des Homeoffice aufgestaute Vorgänge in einem standardisierten Verfahren gezielt bearbeitet werden konnten. Diese „Halden“ wurden teilweise komplett abgebaut.

Kriminalpolizei: Was ist mit der Aus- und Fortbildung? Ruhen alle Bildungsmaßnahmen und wie werden die Lehrkräfte, die Studierenden und Auszubildenden in dieser Zeit beschäftigt?


B 3, 4: „Vermummungsgebot“ bei Versammlungen in Kiel während der Coronakrise.

 

Michael Wilksen: Um unnötigen Infektionsrisiken zu begegnen, hat die Landespolizei eine Reihe interner Maßnahmen ergriffen. Der Aus- und Fortbildungsbetrieb in der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung und für die Bereitschaftspolizei Eutin (PD AFB) und der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung Altenholz (FHVD) fand nicht mehr in der gewohnten Weise statt. Die Dienstanfänger erarbeiteten sich den Unterrichtsstoff abgestuft im Selbststudium und wurden dabei von den Dozentinnen und Dozenten intensiv unterstützt und begleitet. Wichtig ist aber, dass es keinen Stillstand geben durfte und darf. Wir sind auf die gut und umfassend ausgebildeten Nachwuchskräfte angewiesen. Es ist dank des Engagements und der Kreativität der Beteiligten gelungen, sowohl die Ausbildung als auch das Studium situationsgerecht und rechtssicher zu gestalten und zum 1.8.2020 in den jeweiligen Jahrgängen abzuschließen. Dabei haben wir in sehr kurzer Zeit durchaus positive Erfahrungen mit digitalem Lernen gemacht, welches sicherlich mittelfristig und auch zukünftig einen höheren Stellenwert in der Landespolizei erhalten dürfte. Diese Facette der Corona-Pandemie begreifen wir als Chance und Motor, den eingeschlagenen Weg auch künftig fortzusetzen.

Kriminalpolizei: In einigen Ländern werden für die Überwachung der Beschränkungen besondere technische Einsatzmittel wie Drohnen eingesetzt. Ist dies auch in Schleswig-Holstein ein Thema?

Michael Wilksen: Wir sind und bleiben in Schleswig-Holstein eine Bürgerpolizei und setzen auf den Dialog mit der Bevölkerung und das Verständnis für die getroffenen Anordnungen und Maßnahmen. Das ist aus meiner Sicht sinnvoller, als mit Drohnen bei der Bevölkerung einen subjektiven Überwachungsdruck zu erzeugen. In Schleswig-Holstein ist dieses Vorgehen auch schlicht nicht erforderlich gewesen. Vielmehr haben wir unsere Präsenz und Kontakte vor Ort verstärkt.

Kriminalpolizei: Stehen alle Mitarbeiter der Polizei auf den Dienststellen zur Verfügung oder befinden sich einige im Homeoffice? Wenn ja, welche Erfahrungen hat die Landespolizei mit Telearbeitsplätzen gemacht?

Michael Wilksen: Wo es geboten und möglich war bzw. ist, sind zunächst auf den Dienststellen die notwendigen Entscheidungen getroffen worden, um eine räumliche Distanz oder den Schutz von Personen durch bauliche Maßnahmen zu schaffen und zu gewährleisten. Auch gibt es Funktionsbereiche in der Polizei, in denen eine Tätigkeit im Homeoffice schlicht unmöglich ist, der Streifendienst ist hier ein gutes Beispiel. Ansonsten habe ich aber wahrgenommen, dass sehr kurzfristig und sehr flexibel Möglichkeiten geschaffen wurden, um Heimarbeit sinnvoll umzusetzen. Neben dieser Möglichkeit haben viele Organisationseinheiten aber auch andere kreative Lösungen gefunden, um die potenziellen Kontakte zu reduzieren, gleichzeitig aber die wesentlichen Aufgaben zu erledigen. Das hat insgesamt gut funktioniert. Es wurden nach derzeitiger Betrachtung positive und ebenso einige differenzierte Erfahrungen mit der Aufgabenerledigung im Homeoffice gemacht. Hier werden wir zukünftig bestimmt von gewinnbringenden Erkenntnissen profitieren. Allerdings bestanden die Möglichkeiten der Wohnraumarbeit bereits vor der Corona-Pandemie und wurden in unterschiedlicher Intensität in der Polizei genutzt. Insbesondere im Umgang mit Angehörigen von Risikogruppen prüfen wir derzeit noch immer sehr sorgfältig, in welchen Fällen sich das Homeoffice aus Fürsorgegründen anbietet.

Kriminalpolizei: Hat sich die Kriminalitätslage im Norden durch die Pandemie geändert? Eine regionale Tageszeitung titelte vor einigen Tagen beispielsweise wie folgt: „Corona erschwert Einbrüche“.

Michael Wilksen: Im März und April war die Zahl der Straftaten in Schleswig-Holstein deutlich niedriger als im Vorjahreszeitraum, mittlerweile steigt diese aber wieder an. Die allgemeine Kriminalitätslage hat zwar noch nicht wieder das Niveau des Vorjahres erreicht, aber es gibt deutliche Zunahmen bei einzelnen Deliktsgruppen. Dies betrifft vor allem die Gruppe der Betrugsdelikte. Da viele Menschen im Zuge der Coronakrise vermehrt Waren online bestellen, besteht hier ein erhöhtes Risiko, Opfer eines Waren- oder Warenkreditbetrugs zu werden. So gehen bei der Polizei vermehrt Anzeigen zu sog. Fake-Shops ein. Die Fallzahlen der Eigentumsdelikte wie Ladendiebstahl, Einbrüche in Gewerbebetriebe oder Wohnungen sind dagegen weiterhin rückläufig. Auch die Fallzahlen im Deliktsfeld Häusliche Gewalt stagnieren seit Anfang März in Schleswig-Holstein. Bei der Betrachtung des Hellfeldes, also der polizeilich bekannten und angezeigten Fälle, muss man jedoch auch beachten, dass das Anzeigeverhalten durch weniger Sozialkontrolle in der derzeitigen Situation beeinflusst worden sein könnte. Darüber hinaus fehlen Ausweichmöglichkeiten für mögliche Betroffene. Auch diese Umstände hatten und haben durchaus Einfluss auf das Anzeigeverhalten.

Kriminalpolizei: Bürgerrechtler haben mit Blick auf die angeordneten Beschränkungen eindringlich auf die hohe Bedeutung der Freiheitsrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen. Haben Sie angesichts der bedrohten höchstwertigen Rechtsgüter Verständnis für diese kritische Haltung?

Michael Wilksen: Wenn über Grundrechtseingriffe nicht mehr diskutiert und gestritten werden würde, wäre dies kein gutes Zeichen für unseren demokratischen Rechtsstaat. Daher habe ich durchaus Verständnis für eine kritische Haltung, sofern diese friedlich ausgeübt wird. Insbesondere der niemals wegzudenkenden Meinungs- und Versammlungsfreiheit kommt hier eine hohe Bedeutung zu. Die Einschränkungen, die wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, waren wohl einmalig seit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Solche intensiven Eingriffe können immer nur unter sehr restriktiven Kautelen und temporär erfolgen. Es ging und geht vor allem darum, dass Infektionsgeschehen zu kontrollieren und damit höchste Rechtsgüter wie Leib und Leben zu schützen. Diese Aspekte und Abwägungen sind in Schleswig-Holstein nach meiner Einschätzung verantwortungsbewusst, verhältnismäßig und unaufgeregt vorgenommen und umgesetzt worden. Ich habe ein hohes Vertrauen in die bestehenden Institutionen und auch in die Grundwerte unserer Gesellschaft, die in dieser Form seit über 70 Jahren prägend, handlungsleitend und stabilisierend für uns sind.

Kriminalpolizei: Extremisten und sog. Verschwörungstheoretiker versuchen aktuell, die Ängste vieler Menschen für ihre fragwürdigen Ziele auszunutzen. In diesem Kontext wird u.a. immer wieder der „Demokratische Widerstand“ genannt. Sind aus Schleswig-Holstein problematische Aktionen dieser Kreise bekannt?

Michael Wilksen: Bislang liegen uns auf Grundlage der Auswertungen des Veranstaltungsgeschehens keine eindeutigen Erkenntnisse dafür vor, dass die bisherigen „Anti-Corona-Demonstrationen“ in Schleswig-Holstein von extremistischen Kreisen unterwandert worden sind. Gleichwohl erscheint es aus hiesiger Sicht nicht ausgeschlossen, dass insbesondere dem rechten Spektrum zuzuordnende Initiatoren/Gruppen eine solche Unterwanderung anstreben. Vor Ort konnte bislang registriert werden, dass die überwiegende Mehrheit der Versammlungsteilnehmer dem bürgerlichen Spektrum zuzuordnen ist.

Kriminalpolizei: Gibt es besondere Erkenntnisse aus der jüngeren Vergangenheit, die aus Ihrer Sicht für die künftige Polizeiarbeit unbedingt berücksichtigt werden sollten?

Michael Wilksen: Mit großer Freude erfüllt mich zu sehen, dass die Landespolizei auch unter den schwierigen Bedingungen einer bisher einmaligen Infektionslage sehr gut reagiert und funktioniert hat. Das Engagement und die Kompetenz, die unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch bei persönlichen Belastungen, den Sorgen um die Kinderbetreuung, die Eltern oder Großeltern zeigen, erfüllen mich mit Stolz. Das sind für mich ganz wichtige und wesentliche Erkenntnisse. Im Einzelnen werden wir nun in den nächsten Monaten viele Aspekte genauer betrachten. Einige Impulse wie beispielsweise die IT-Ausstattung, Digitalisierung, Aus- und Fortbildung sowie Onlineanzeigen bei der Polizei werden wir sicher als Chance für unsere Weiterentwicklung nutzen.


Anmerkung

Michael Wilksen ist seit 1978 Angehöriger der Landespolizei Schleswig-Holstein. Seit 2018 ist er Landespolizeidirektor.




KD Rolfpeter Ott: „COVID-19 wird auch die kriminalpolizeiliche Arbeitswelt nachhaltig verändern“


Am 26. Mai 2020 kam es zu einem Austausch mit dem Leiter der Abteilung 1 des LKA Schleswig-Holstein Rolfpeter Ott. Der Kriminaldirektor ist zentraler Ansprechpartner für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes für Fragen im Zusammenhang mit dem „Coronavirus SARS-CoV-2“.

 

Kriminalpolizei: In der Presse wird zum Teil über negative Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Kriminalität berichtet. Vor einigen Tagen hieß es z.B. in einer Tageszeitung: „Das LKA warnt: Betrüger nutzen Corona-Not aus“. Haben sich seit Februar 2020 neue Kriminalitätsschwerpunkte herausgebildet?

Rolfpeter Ott: Ja, allerdings haben sich diese neuen Schwerpunkte erst im Laufe der Pandemie entwickelt. Zunächst war das öffentliche Leben ja nahezu vollständig stillgelegt. In dieser Phase konnten wir naturgemäß keine relevanten Auswirkungen erkennen. Im Zusammenhang mit dem „Corona-Schutzschild“ und hier den Subventionen für kleinere Betriebe kam es in der Folgezeit jedoch zu Betrugsversuchen. Auch über sog. Fake-Seiten im Internet wurde durch Aussagen wie „… hier können Sie unberechtigt erhaltene Subventionszahlungen zurückgeben!“ versucht, an das Geld der Menschen zu kommen – im Einzelfall sogar erfolgreich. Zusammengefasst ist also festzustellen, dass uns insbesondere der Betrugssektor besonders beschäftigt hat.

Kriminalpolizei: Unter dem Motto „Kriminalität in der Krise“ wird die Frage aufgeworfen, ob sich bestimmte kriminelle Gruppen nicht selbst in einer Krisensituation befinden. Einbruchsdiebstähle, Raub- und Körperverletzungsdelikte sollen deutlich zurückgegangen sein. Können Sie diese Entwicklung bestätigen?

Rolfpeter Ott: Das kann ich vollkommen bestätigen. Die Zahlen sind gerade zu Beginn der Krise massiv zurückgegangen, zum Teil im zweistelligen Prozentbereich. Dies gilt insbesondere für die angesprochenen Delikte. Für mich war das aber eine logische Folge, denn die Menschen hielten sich eben nicht auf der Straße und in der Öffentlichkeit, sondern zu Hause auf. Damit waren schlichtweg weniger Tatgelegenheiten für Raub- und Körperverletzungsdelikte, aber auch für den Wohnungseinbruch vorhanden. Aktuell stellen wir fest, dass die Zahlen mit dem Ende des „Lockdowns“ und dem aufkommenden öffentlichen Leben wieder zunehmen. Wir haben allerdings noch nicht wieder das Kriminalitätsniveau erreicht, das wir vor der Pandemie hatten.

Kriminalpolizei: Straftäter wollten sich in den letzten Wochen zum Teil mit dem Hinweis auf eine Corona-Infektion der Festnahme entziehen. Ist dieses Phänomen neu oder auch bereits im Zusammenhang mit anderen Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis aufgetreten?

Rolfpeter Ott: Das ist in der Tat nicht neu. Vergleichbare Phänomene gab es beim erstmaligen Auftreten des HI-Virus in den 1980er und 1990er Jahren sowie im Zusammenhang mit Hepatis-Infektionen. Mit an Hepatitis-CErkrankten habe ich während meiner Tätigkeit im Kriminaldauerdienst auch persönlich Erfahrungen machen müssen. Ähnliche Erkenntnisse gibt es nun mit dem Coronavirus – jedoch keinesfalls in überbordendem Maße. Zu Beginn der Pandemie gab es einige Fälle, über die auch in der Presse berichtete wurde. Zuletzt haben wir dieses Phänomen jedoch nicht mehr festgestellt. Hinweisen möchte ich aber auf besondere Schwierigkeiten bei Einsätzen mit infizierten Personen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Festnahmen, Ingewahrsamnahmen oder sonstige Maßnahmen wie Blutprobenentnahmen oder Personendurchsuchungen handelt. Streifenwagen, Dienst- und Gewahrsamsräume müssen in diesen Fällen sorgfältig desinfiziert werden und Kollegen sich testen lassen. Durch mögliche Quarantänemaßnahmen können sie zudem zeitweise ausfallen.

Kriminalpolizei: Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die kriminalpolizeiliche Arbeit? Eine Tatortaufnahme oder Vernehmungen aus dem Homeoffice heraus sind doch kaum möglich.

Rolfpeter Ott: Das ist ein wichtiges und zugleich sehr vielschichtiges Thema, mit dem ich mich in den letzten Wochen hauptsächlich beschäftigt habe. Wir hatten zu Beginn der Pandemie eine hohe Verunsicherung in der Kollegenschaft festgestellt. Das war auch verständlich, denn der Informationsfluss war diffus und keiner wusste, was da genau auf uns zukommt. Viele haben zunächst auf sich selbst geachtet, denn keiner wollte sich infizieren und unter Umständen schwer erkranken. Dann kam aus der Staatskanzlei das Signal an die Behörden und Dienststellen der Landesverwaltung, möglichst alle Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Dies ist für eine Organisation wie die Polizei aber kaum umsetzbar, denn wir können keine Wachen schließen und wir können auch nicht den Streifendienst einstellen. Die Bürger erwarten von uns berechtigt Präsenz und Hilfe auch in schwierigen Zeiten. Im LKA mit seinen knapp 800 Mitarbeitern haben wir aber tatsächlich auf das Homeoffice gesetzt und bis zu 25% der Kollegen nach Hause geschickt. Unter Homeoffice in diesem Sinne verstehen wir dabei eine Tätigkeit, die an mehr als zwei Tagen in der Woche in der eigenen Wohnung stattfindet. Damit waren dann zunächst erhebliche technische Probleme verbunden. Wir hatten nicht genügend Laptops und mussten zudem sichere Datenverbindungen schaffen. Das Polizeinetz war schnell überlastet und die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter dadurch stark eingeschränkt. Vernehmungen und Durchsuchungen haben wir soweit es ging geschoben und andere Schwerpunkte gesetzt.

Kriminalpolizei: Welche Schwerpunkte und Tätigkeitsfelder meinen Sie damit?

Rolfpeter Ott: Wir haben uns die Frage gestellt, welche Arbeiten zuletzt liegengeblieben und wo Halden entstanden sind. Diesen Halden haben wir uns nun intensiv gewidmet. Dabei ging es z.B. um die zeitintensive Auswertung sichergestellter elektronischer Medien – bis hin zur Priorität 3. Wir waren damit in einfacheren Betrugssachen teilweise mehrere Monate im Rückstand. Endlich hatten wir nun Zeit, diese Auswertetätigkeiten vorzunehmen. Und das konnten wir auch im Homeoffice erledigen – zumindest zum Teil, denn Original-Asservate konnten natürlich nicht mit nach Hause genommen werden. Insofern war die Abarbeitung liegengebliebener Vorgänge sogar ein positiver Effekt der Corona-Pandemie, wenngleich damit umfangreiche organisatorische Maßnahmen verbunden waren. Diese haben viel Kraft und Zeit gekostet. Zudem war dieser Ansatz natürlich nicht durchgehend umsetzbar. Ein kriminaltechnisches Labor kann eben nicht in das Homeoffice verlegt werden. Insofern war die Umsetzung des Homeoffice nicht so stark umsetzbar wie in anderen Verwaltungsbereichen, so dass im Schnitt 75% über den ganzen Tag verteilt präsent waren.

Kriminalpolizei: Wie wurde der Präsenzdienst organisiert und konnten die wichtigsten Verhaltensregeln zum Schutz vor dem Virus berücksichtigt werden?

Rolfpeter Ott: Wir haben im LKA, um die Büros möglichst nur durch eine Person zu nutzen, die regelmäßige Anwesenheitszeit auf 06.00 bis 22.00 Uhr ausgeweitet und dann in zwei Schichten gearbeitet – von 06.00 bis 13.59 Uhr und von 14.01 bis 22.00 Uhr. Das kam zumindest bei einigen Mitarbeitern sogar gut an, da dadurch die Kinderbetreuung besser zu gewährleisten war. Denn die Schulen, Kindergärten und Kitas hatten den Betrieb ja weitgehend eingestellt und auch heute stockt die Betreuung noch. Aktuell fahren wir, beraten durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsmediziner, den Regelbetrieb wieder langsam hoch, und es kehrt etwas mehr Normalität in den Arbeitsalltag ein. Allerdings sind dazu gezielte Schutzmaßnahmen erforderlich, wie z.B. der Einbau von Plexiglasscheiben in kleineren Büroräumen, die durch mehrere Personen genutzt werden sollen. Die Schutzpolizei hat indes ungleich größere Probleme, denn die Streifenwagen müssen nun einmal besetzt werden und ein Abstand von 1,50 Meter zwischen den Beamten ist dort einfach nicht möglich. Es gibt insofern keine Alternative. Festzustellen ist aber auch, dass noch heute – also Ende Mai – eine Verunsicherung der Kollegen zu spüren ist. Dies gilt insbesondere für Angehörige der von den Virologen definierten Risikogruppen.

Kriminalpolizei: Welche Erkenntnisse aus den letzten Wochen sind für Sie auch in Zukunft von Bedeutung?

Rolfpeter Ott: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Tätigkeiten bei gleicher Qualität im Homeoffice erledigt werden können und damit viel Flexibilität in der Arbeitswelt möglich ist. Dadurch kann zudem ein Motivationsschub entstehen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wesentlich gefördert werden. Das Homeoffice wurde von vielen Kollegen zunächst verteufelt, frei nach dem Motto: Ich muss als Polizist doch immer präsent sein! An vielen Stellen ist dies auch tatsächlich zwingend geboten, aber das gilt eben nicht für alle Bereiche gleichermaßen. Insofern werden wir hier umdenken müssen und dies sicher auch tun, wobei ein komplettes Arbeiten im Homeoffice kaum vorstellbar ist. Insgesamt sind hier einzelfallbezogene Lösungen gefragt, bei denen die Aspekte Geeignetheit der Aufgabe, persönliche Voraussetzungen des Mitarbeiters aber auch Ansprechbarkeit der Organisationseinheit abzuwägen sind.


Anmerkung

Rolfpeter Ott ist seit 1989 Kriminalbeamter. Nach einer sechsjährigen Tätigkeit beim BKA ist er 1995 zur Landespolizei Schleswig-Holstein gewechselt und dort zurzeit als Kriminaldirektor Leiter der Abteilung 1 des LKA.

 


Prof. Dr. Sabrina Schönrock: „Wir werden das Online-Semester stemmen, aber es wird Qualitätsverluste geben“


Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der polizei- und sicherheitsspezifischen Studiengänge an den Hochschulen des Bundes und der Länder. Seminare, Kolloquien, Vorlesungen und Prüfungen mussten ausgesetzt oder auf den Online-Betrieb umgestellt werden. Am 24. April 2020 äußerte sich die Dekanin am Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement der HWR Berlin, Frau Prof. Dr. Sabrina Schönrock, zu dieser Problematik.

 

Kriminalpolizei: Sehr geehrte Frau Schönrock, ist der Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement von der Corona-Pandemie unmittelbar getroffen worden? Gibt es infizierte Personen unter den Lehrkräften, Verwaltungsmitarbeitern und Studierenden?

Sabrina Schönrock: Mir sind keine Fälle von Corona erkrankten Personen am Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement bekannt. Allerdings befinden wir uns als Lehrende und Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter bereits seit dem 20. März 2020 im Homeoffice. Der Semesterstart wurde auf den 20. April 2020 verlegt – jedoch nicht in Präsenz, sondern zunächst als Online-Semester. Das bedeutet auch, dass Corona-Erkrankungen von Studierenden gar nicht unbedingt bekannt werden. Von Kolleginnen und Kollegen wie auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung des Fachbereichs sind mir keine Erkrankungsfälle bekannt. Dies gilt auch für die HWR Berlin insgesamt – allerdings weiß ich nicht, ob Personen mit Krankheitssymptomen auch immer auf das Coronavirus getestet werden.

Kriminalpolizei: Wie in allen Ländern der Bundesrepublik dürfen auch in Berlin zurzeit Hochschulen nicht für den Präsenzbetrieb sowie den Publikumsverkehr geöffnet sein. Gleiches gilt für die Bibliotheken. Was bedeutet diese Regelung konkret für Ihren Fachbereich?

Sabrina Schönrock: Für die Lehre bedeutet dies, dass wir von einem kompletten Online-Semester ausgehen. Sollte noch während des Semesters ein Unterricht in Präsenz möglich sein, können die Lehrenden entscheiden, ob sie die Lehre in Präsenz oder aber weiter online durchführen. Letzteres könnte sinnvoll sein, weil sie ihr didaktisches Konzept auf ein Online-Semester ausgerichtet haben. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung sieht es so aus, dass nach aktuellem Stand nur sog. Schlüsselpersonen die Hochschule betreten dürfen. Wenn sich dies ändern soll, haben wir Hygienevorschriften zu beachten und müssen auch zunächst ein entsprechendes Konzept erstellen. Nach der aktuellen „SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung“ (Vierte ÄnderungsVO vom 21. April 2020) können die Bibliotheken der Hochschulen wieder geöffnet werden. Auch hier sind natürlich die Hygienevorschriften – insbesondere Abstandsregelungen – zu beachten. Gerade die Öffnung der Bibliotheken ist sehr wichtig, da die gesamte Forschungs- und Lehrliteratur online gar nicht verfügbar ist.

Kriminalpolizei: Können ausgefallene Vorlesungen durch Instrumente der Online-Lehre aufgefangen werden? Wie ist die HWR Berlin in diesem Bereich aufgestellt und gibt es Qualitätsunterschiede im Vergleich zum klassischen Präsenzunterricht?

Sabrina Schönrock: In der Tat ist es so, dass nicht alle Vorlesungen, die eigentlich in Präsenz stattgefunden hätten, eins-zu-eins als Videolehre umgesetzt werdenkönnen und müssen. Vielmehr bleibt es den Lehrenden überlassen, auf welche Weise sie den im Curriculum vorgesehenen Lehrstoff übermitteln. Hier kommt die Lernplattform moodle zum Einsatz, aber auch Videokonferenzsysteme wie Yitsi, BigBlueButton, Microsoft Teams oder auch Zoom. Wir bekommen eine sehr gute Unterstützung durch unser E-Learning Zentrum der HWR Berlin (ELZ) und unsere IT-Abteilung. Zudem haben wir einen wissenschaftlichen Mitarbeiter an unserem Fachbereich, der sich die persönliche Unterstützung der Lehrenden bei der Online-Lehre zur Aufgabe gemacht hat. Insgesamt habe ich hier den Eindruck, dass wir uns als Kolleginnen und Kollegen gegenseitig sehr gut unterstützen.Natürlich gibt es Unterschiede in der Qualität zum klassischen Präsenzunterricht: Einige Lehrinhalte können online nicht hinreichend oder sogar gar nicht transportiert werden wie beispielsweise Verschlussangelegenheiten. Auch praktische Übungen müssen zum Teil in die Präsenzphase verschoben werden (Tatort-Seminar). Und nicht zuletzt fehlt uns Lehrenden und den Studierenden natürlich auch die lebendige Interaktion. Ich weiß auch nicht immer genau, ob die Studierenden den eingestellten Lehr- und Lernstoff wirklich lesen und verarbeiten, und ob sie mir in meiner Online-Vorlesung folgen. Auch die aktive Beteiligung ist nicht gleichermaßen möglich wie in einer Präsenzveranstaltung. Also: Wir werden das Online-Semester stemmen, aber es wird einige Qualitätsverluste geben.

Kriminalpolizei: Prüfungen können gemäß § 13 III SARS-CoV-2-
EndmaßnV Berlin durchgeführt werden, soweit ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen den anwesenden Personen gewährleistet ist. Ist diese Regelung für den Fachbereich umsetzbar?

Sabrina Schönrock: So einfach ist das leider nicht, da es nach richtiger Lesart mit der Einhaltung des Abstands nicht getan ist. Vielmehr muss ein Hygienekonzept nachgewiesen werden, in dem beispielsweise die geeigneten Räume ausgewiesen sind. Die genutzten Tische müssen auch desinfiziert werden. Auch der Zugang ist zu regeln, wie auch der Zustand der sanitären Anlagen zu prüfen etc. Es ist also leider nicht ganz einfach. Am wenigsten problematisch scheint es für die mündlichen Prüfungen zu sein – diese sind allerdings auch am unkompliziertesten online durchzuführen. Wünschenswert wäre es, wenn wir die Klausuren in Präsenz durchführen können und auch für unsere Planübungen im Rahmen der Einsatzlehre würden wir uns sehr freuen, wenn diese auch tatsächlich in Präsenz stattfinden könnten.

Kriminalpolizei: Für welchen Zeitraum gelten die Einschränkungen? Wann wird der Fachbereich voraussichtlich wieder in den Normalbetrieb zurückkehren?

Sabrina Schönrock: Das wissen wir leider nicht und ich möchte auch keine Prognose wagen. Letztendlich ist dies keine Entscheidung des Fachbereichs oder der Hochschule, sondern der Senatskanzlei. Ich hoffe auf ein „normales“ Semester im Winter.

Kriminalpolizei: Gibt es aus der aktuellen Situation heraus Ansätze und Erkenntnisse, die sogar Vorteile für das Studium mit sich bringen, auf den Regelbetrieb übertragbar sind und übernommen werden sollen?

Sabrina Schönrock: In der Digitalisierung und dem Blended-Learning haben wir nun einen riesigen Fortschritt gemacht. Wir haben uns Wissen angeeignet, das für viele neu ist und haben gerade auch die Chance, einige neue Methoden auszuprobieren. Diese Kreativität ist für sich schon mal ein Plus. Die Hemmschwellen zur Online-Lehre sind überwunden, so dass die Methoden künftig unterrichtsbegleitend angewendet werden können und damit auch Eingang in den Regelbetrieb finden.Vielleicht wird manche Konferenz – ich meine in der Gremienarbeit, nicht die Lehre – auch einmal online stattfinden, so dass Fahrwege gespart werden. Auch die Netzwerk-Arbeit mir anderen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen könnte hiervon profitieren, weil doch einige Hürden, sich online zu treffen, abgebaut wurden.

Kriminalpolizei: Sehr geehrte Frau Schönrock, Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Dekanin Professorin für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten der Grund- und Menschenrechte. Halten Sie aus Ihrer fachlichen Perspektive heraus die angeordneten Einschränkungen für rechtmäßig? Ist der historisch wohl einmalige „Shutdown“ oder „Lockdown“, sind Kontakt- und Reisebeschränkungen in dieser Form überhaupt mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang zu bringen? Oder ist der Staat über das Ziel hinausgeschossen und hat dabei den Rahmen des Grundgesetzes verlassen?

Sabrina Schönrock: Natürlich muss man bedenken, dass es einer schnellen Entscheidung bedurfte. Insofern ist es sicherlich nachvollziehbar, dass Regelungen in den Eindämmungsverordnungen zunächst sehr pauschal und auch (zu) weitgreifend erfolgten. Das macht sie natürlich nicht verfassungsgemäß. Denn es ist zu beachten, dass es um lediglich vorläufige Maßnahmen geht, die differenziert bewertet werden sollten. Das kommt meines Erachtens zu kurz. Die unterschiedlichen Gewährleistungsgehalte der verschiedenen betroffenen Grundrechte sind zu beachten, insbesondere wenn diese in ihrem Kerngehalt berührt oder gar vorbehaltlos gewährleistet sind. Nur dann kann ein Eingriff auch verhältnismäßig sein. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die zunächst sehr großzügige Rechtsprechung ihren Prüfungsmaßstab nunmehr verschärft und damit dem rechtstaatlichen Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen wieder Geltung verleiht. Dies ist dann vom Verordnungsgeber umzusetzen.


Anmerkung

Prof. Dr. Sabrina Schönrock ist seit April 2016 Dekanin am Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement der HWR Berlin. Daneben ist sie u.a. ehrenamtliche Richterin des VerfGH Berlin, Herausgeberin und Autorin zahlreicher Fachpublikationen zu Themen des Öffentlichen Rechts sowie Redakteurin einer namhaften polizeilichen Fachzeitschrift.




Peter Schaar: „Grundrechte müssen im Sinne einer Gesamtbilanz ausbalanciert werden“


Die Europäische Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz e.V. (EAID) hat am 26. März 2020 einen Appell unter dem Motto „Corona-Pandemie bekämpfen, Bürgerrechte und Datenschutz wahren“ formuliert, der von der Homepage der Akademie (https://www.eaid-berlin.de/) abgerufen werden kann. Darin ist das Coronavirus als eine „bisher unbekannte Herausforderung für demokratische Gesellschaften“ bezeichnet worden, der entschlossen entgegenzutreten sei. Zugleich wird jedoch auch die Befürchtung geäußert, dass Bürgerrechte in diesem Kontext zurücktreten, ohne dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausreichend beachtet werde.

Es wird insofern eine Abkehr vom einseitigen Streben nach einer umfassenden Sicherheit, eine Beachtung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots, eine Befristung und unabhängige Evaluation neu geschaffener Kompetenzen sowie eine Berücksichtigung des Datenschutzes durch Datensparsamkeit und Zweckbindung gefordert.

Am 3. April 2020 wurde ein Telefoninterview mit dem Mitinitiator des Appells Peter Schaar geführt.

 

Kriminalpolizei: Sehr geehrter Herr Schaar, das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und bereits heute vielen tausend Menschen das Leben gekostet. Müssen in einer solchen Lage nicht Bürger- und Menschenrechte automatisch zurückzutreten und im Ergebnis alle staatlichen Eingriffsakte erlaubt sein, soweit sie nur Menschenleben retten können?

Peter Schaar: Ich bin gegenüber derartigen Automatismen sehr skeptisch. Sicher ist es richtig, dass in bestimmten Situationen nicht alle Grundrechte voll verwirklicht werden können. Bestimmte Einschnitte können insofern durchaus gerechtfertigt sein, gerade in Situationen und Zeiten wie diesen. Aber jeder Eingriff muss sorgfältig bedacht werden. Das Coronavirus war zwar in seiner konkreten Ausprägung nicht vorhersehbar, aber die zu treffenden Maßnahmen haben sich auch nicht von heute auf morgen ergeben. Es gab also durchaus eine gewisse Vorlaufzeit, die zu nutzen war, um diese Maßnahmen effektiv und zugleich verhältnismäßig zu gestalten. Dies gilt auch für zukünftige Maßnahmen, bei denen unangemessene Grundrechtseingriffe vermieden werden müssen.

Kriminalpolizei: Welche Einschränkungen sind aus Ihrer Sicht nicht mit dem Übermaßverbot vereinbar oder wo bestehen Zweifel? Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Peter Schaar: Soweit ich es beurteilen kann, erscheinen mir die meisten der in Deutschland verfügten Maßnahmen im Großen und Ganzen angemessen und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar. Verantwortlich dafür sind ja in erster Linie die Bundesländer bzw. die unteren Verwaltungsbehörden in den Kommunen. Allerdings schrammen wir schon in bestimmten Bereichen an den Grenzen dessen entlang, was verfassungsrechtlich noch vertretbar ist. Dies gilt speziell für die Übertragung von bestimmten Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive. Das ist in mehreren Ländern so erfolgt und geht haarscharf an die Grenze des Erlaubten heran und im Detail vielleicht sogar darüber hinaus. Wir sehen in anderen Staaten – leider auch in Europa – dass es Maßnahmen gibt, die so tief in Menschen- und Bürgerrechte eingreifen, dass sie das Übermaßverbot brechen. Ich denke hier an eine Totalüberwachung mittels Drohnen, flächendeckende Videoüberwachung mit Gesichtserkennung und die Zusammenführung von unterschiedlichsten Informationen wie Gesundheits-, Telekommunikations- und Videoüberwachungsdateien. Dies würde aus meiner Sicht die Grenze zur Ver-‑
fassungswidrigkeit überschreiten.

Kriminalpolizei: Die Meinungen gehen in der öffentlichen Diskussion weit auseinander. Während beispielsweise der Publizist René Schlott in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung die Befürchtung äußert, dass die offene Gesellschaft erwürgt wird (SZ, 17.3.2020), weist dies Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ausdrücklich zurück und stellt fest: Wir opfern keine Freiheitsrechte, sondern schränken sie nur zeitweise ein (ARD/dpa, 1.4.2020). Wer hat in diesem Fall recht?

 

B 5: Abstandsregeln, nicht nur
im öffentlichen Raum.

Peter Schaar: Diese Frage werden wir erst im Nachhinein wirklich beantworten können. Wir haben aus anderen ebenfalls sehr kritischen Situationen heraus auch eine Reihe zusätzlicher sehr grundrechtsintensiver Eingriffsbefugnisse bekommen. Denken Sie nur an die Terrorismusbekämpfung speziell nach dem 11. September 2001. Diese Befugnisse sind in den Gesetzen nicht nur temporär verankert worden, sondern sie gelten ganz überwiegend sogar heute noch und haben damit eine nachhaltige Wirkung. Insofern muss im Zusammenhang mit der Pandemie-Bekämpfung sichergestellt werden, dass hier wirklich nur zeitlich begrenzte Maßnahmen getroffen werden. Dabei ist zu gewährleisten, dass jede einzelne Maßnahme dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Zudem brauchen wir so etwas wie die Gesamtrechnung der Grundrechtseingriffe. Diese müssen im Sinne einer Gesamtbilanz ausbalanciert werden.

Kriminalpolizei: Eine Befristung und unabhängige Evaluation von hoheitlichen Eingriffsbefugnissen wird auch in anderem Zusammenhang immer wieder gefordert. Ich denke nur an die aktuelle Diskussion über die Novellierung der Polizeigesetze des Bundes und der Länder. Gehören diese Instrumente nicht inzwischen zum Standard in unserem freiheitlichen Rechtsstaat?

Peter Schaar: Es gibt viele Befugnisse, die in außergewöhnlichen Situationen eingeräumt und in diesem Zusammenhang auch von den meisten Menschen akzeptiert worden sind. Später wurden diese Normen dann aber in ganz anderem Zusammenhang angewendet. Denken Sie nur an die zur Aufdeckung der Terrorfinanzierung eingeführte Kontodatenabfrage und die Tatsache, dass diese Daten heute quasi jedem Jobcenter und jedem Finanzamt zur Verfügung stehen. Oder denken Sie an die in einigen Bundesländern zur Dauereinrichtung gewordene automatisierte Kennzeichenerfassung, die zunächst nur für besondere Fallkonstellationen vorgesehen war. Die Befristungen und Normevaluationen müssen nicht nur versprochen werden, sie müssen auch tatsächlich erfolgen. Die in der Krise eingeräumten Befugnisse müssen nach Ende der besonderen Gefahrensituation enden.

Kriminalpolizei: Unter anderem fordern die Unterzeichner des Appells die Gewährleistung der Zweckbindung erhobener Daten. Haben Sie Zweifel an der Beachtung dieses Grundsatzes?

Peter Schaar: Ich erkenne durchaus auch aktuell die Tendenz, dass sogar hochsensible Daten für völlig andere Zwecke weiterverwendet werden. Denken Sie z.B. an die aus Baden-Württemberg berichtete Verfahrensweise, dass Daten über positiv getestete Personen und sogar über Verdachtsfälle an Polizeibehörden übermittelt werden. Die Polizei speist diese Daten dann in ihre Systeme ein und hält sie für alle Nutzer abrufbar bereit. Das ist schon ein sehr schwerwiegender Schritt, zumal ich mir nicht sicher bin, dass diese Daten nach Ende der infektiösen Zwei-Wochen-Frist wieder gelöscht werden. Als Begründung wird der Eigenschutz der Beamten angeführt, die etwa bei einem Unfall wissen müssten, ob die verunglückten Personen infiziert sind. Ich halte das für groben Unfug – schon deshalb, weil es unbestreitbar eine hohe Dunkelziffer gibt. In diesen Zeiten muss sich jeder Polizeibeamte so schützen können, dass sein Infektionsrisiko deutlich begrenzt wird, völlig egal, ob er es mit einer positiv auf „COVID-19“ getesteten Person zu tun hat.

Kriminalpolizei: Sie waren selbst zehn Jahre lang Bundesbeauftragter für den Datenschutz und damit oberster Anwalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland. Werden in der aktuellen Situation nicht gerade auch die Datenschutzbeauftragten beteiligt und können damit für einen Ausgleich sorgen?


Peter Schaar: Ich habe hier keinen vollständigen Überblick. Soweit ich es jedoch beurteilen kann, wird auf Ebene des Bundes und vieler Länder die Beteiligung der Datenschutzbeauftragten sichergestellt. Inwieweit dann allerdings ihren Ratenschlägen gefolgt wird, ist eine ganze andere Frage.


Anmerkung

Peter Schaar war u.a. von 2003 bis 2013 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.




Josefine Barbaric: „Es fehlt eine echte Handlungsbereitschaft der verantwortlichen politischen Akteure“


Kinderschutz bedeutet eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, da der gefährlichste Ort eines Kindes häufig das eigene Zuhause ist. Demnach ist der potenzielle Gefährder nicht der große Unbekannte, sondern zumeist ein enges Familienmitglied. So wird die „COVID-19-Krise“ für viele Kinder zu einer noch größeren Bedrohung, als sie es ohnehin schon vorher war. Zu dieser Problemstellung nahm am 4. Mai 2020 Frau Josefine Barbaric Stellung.

 

Kriminalpolizei: Sehr geehrte Frau Barbaric, die Corona-Pandemie bringt zugleich erhebliche Gefahren für unsere Kinder mit sich. Wie können die politisch Verantwortlichen in unserem Staat gewährleisten, dass der Kontakt durch die Kinder- und Jugendhilfe oder auch die sozialen Dienste zu den Kindern aus prekären Familiensituationen nachhaltig und sicher aufrechtgehalten werden kann?

Josefine Barbaric: Was wir, und damit meine ich alle Organisationen und Vereine im Bereich Kinderschutz, während des Shutdowns der „COVID-19-Krise“ feststellen konnten, ist, dass bundesweit gute Konzepte zum Kinderschutz nur dann auch wirklich gut sind, wenn sie in der Umsetzung auch tatsächlich funktionieren. Sonst sind sie nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Die „COVID-19-Krise“ hat deutlich gemacht, wie viele ernstzunehmende Schwachstellen es bundesweit im Kinderschutz gibt. Wenn Maßnahmen zu Familienhilfen und Unterstützungen zur Erziehung durch das Fachpersonal der jeweiligen sozialen Dienste nicht mehr aufrechtgehalten werden können, nicht umgesetzt werden können, weil dieses Fachpersonal zum einen nicht als „systemrelevant“ eingestuft, und zum anderen durch kritischen Eltern jegliche Maßnahmen abgewehrt werden, dann reißt der wichtige und letzte Kontakt zu den gefährdeten Kindern ab. Das sollte an sich jedem klar sein. Hier waren Sachverstand und schnelle Handlungsbereitschaft des Bundesfamilienministeriums gefragt. Ohne „systemrelevantes“ Fachpersonal können keine schützenden Maßnahmen stattfinden. Zudem braucht es, ganz offensichtlich, eine rechtliche Grundlage für Fachpersonal von sozialen Diensten, welche eine Handlungsdurchsetzung der jeweiligen Maßnahmen erwirken kann, so dass uneinsichtige Eltern zur Not auch juristisch ausgehebelt werden können. Bundesweit hatten die sozialen Dienste in den vergangenen Tagen wenig bis keine Umsetzungsmöglichkeiten, standen aber voll in der Verantwortung. Das kann und darf so keinesfalls sein.

Kriminalpolizei: Daraus ergibt sich eine Folgefrage. Warum sind die genannten Fachkräfte aktuell nicht „systemrelevant“? Gerade sie sind im Kinderschutz doch aktuell unter erschwerten Bedingungen gefordert.

Josefine Barbaric: Richtig – doch Bildung und Soziales, was die Kitas angeht, ist Ländersache. Darum obliegt es auch den Bundesländern beziehungsweise den jeweiligen Schulbezirken in den Kommunen zu definieren, wer in die Notfallbetreuung von Schulen und Kitas aufgenommen wird. Hierzu wurden systemrelevante Berufsgruppen definiert, deren Kinder in die Notbetreuungen gegeben werden dürfen. Es ist schon grotesk, dass Kinder aus prekären Familiensituationen lange nicht als „systemrelevant“ eingestuft waren. Genauso wenig die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe – also die Menschen, die diese Kinder schützen sollen. Menschen, die aktuell unter erschwerten Bedingungen gefordert sind, Kinder vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen, Inobhutnahmen vornehmen und stationäre Einrichtungen am Laufen halten. Kinder und Jugendliche, die in dieser schwierigen Zeit nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können, werden einfach mal nicht berücksichtigt. Wenn Sie mich fragen, daran lässt sich schon gut erkennen, wie wichtig den verantwortlichen Akteuren der Kinderschutz tatsächlich ist.

Kriminalpolizei: Auch Hunger ist eine Form von Gewalt. Wie kann jetzt und künftig sichergestellt werden, dass Kinder, deren Tagespflegestelle, Kita oder Schule bedingt durch eine Pandemie, Katastrophe und ähnliche Anlässe längere Zeit geschlossen bleiben muss, weiterhin die ihnen gesetzlich zustehende kostenlose Mittagsmahlzeit erhalten oder wie kann dies auf andere Weise kompensiert werden?

Josefine Barbaric: In Zeiten des Überflusses können sich viele Menschen vielleicht nicht vorstellen, was es heißt Hunger zu erleiden. Auch in Deutschland gibt es Armut und aus eigener Erfahrung weiß ich, wie ernst die Lage für viele Kinder in Deutschland ist. Nicht zuletzt deshalb gibt es mittlerweile viele Einrichtungen der Tafel, darunter auch Kindertafeln – die nur größtenteils, aufgrund unterschiedlicher Herausforderungen, schließen mussten. Am Beispiel der „BuT-Mittel“ lässt es sich vielleicht am besten erklären, wie wenig Handlungsbereitschaft der Politik zum Thema Kinderschutz besteht. Vor dem Hintergrund, dass auch Hunger eine Form von Gewalt darstellt. „BuT“ dient der Bildung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Es ist der Schlüssel zur Herstellung von Chancengleichheit. Die Leistungen für Bildung und Teilhabe unterstützen junge Menschen aus Familien mit geringem Einkommen, damit sie gleichberechtigt Angebote in Schule, Kita und Freizeit nutzen können. Zuschüsse werden auch im Bereich der Mittagessen-Versorgung gegeben. Es handelt sich hierbei um finanzielle Mittel, die der Bund den Ländern, den Kommunen für die Umsetzung dieser Angebote zu Verfügung stellt. Ich frage Sie, warum braucht es erst einen Herrn Becker von der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V., dem nicht nur aufgefallen ist, dass es hier dem Grunde nach bundesweit eine Möglichkeit auf Nahrungsmittelversorgung betroffener und bedürftiger Kinder gab und gibt, sondern überhaupt erst sein großartiger Aktivismus und seine Beharrlichkeit dafür gesorgt haben, dass am 20. April dann das erlösende Schreiben aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales kam. Aus diesem Schreiben an die jeweiligen Länder geht eine direkte Handlungsempfehlungen zur Umsetzung der Mittagessen-Versorgung hervor, weiter finanziert durch oben genannte Bundesmittel. Ab dem 27. April hatten grundsätzlich alle bedürftigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland wieder das Recht auf eine warme Mittagessen-Versorgung. Nur gab es leider in ganz vielen Fällen dennoch keine! Was soll ich Ihnen sagen, viele Schulträger wussten am 30. April noch nichts von diesem Schreiben und die, die davon wussten, hatten es auch nicht besonders eilig. Ich frage Sie, ist das Kinderschutz?

Kriminalpolizei: Häusliche Gewalt ist häufig auch Gewalt gegen Kinder. Gibt es aus Ihrer Sicht hier genügend Schutzräume?

Josefine Barbaric: Nein! Laut der Diakonie Deutschland flüchten jährlich etwa 17.000 Frauen mit ihren Kindern in die Frauenhäuser. Das sind etwa 35.000 Personen – jährlich. Der Bedarf liegt bundesweit im Durchschnitt vier bis sechs Mal höher als Schutzräume vorhanden sind. Ein Frauenhaus sollte dem Grunde nach als „Not- und Durchgangsstation“ für gefährdete und misshandelte Frauen mit ihren Kindern dienen. Doch der bundesweit sehr angespannte Wohnungsmarkt sorgt dafür, dass die Frauen teilweise über ein Jahr oder länger in den Einrichtungen bleiben müssen, bis sie endlich in eine eigene Wohnung umziehen können. Das heißt, Schutz- und Notunterkünfte werden ungewollt blockiert. Darum schließe ich mich uneingeschränkt den Forderungen der Diakonie an: Der Zugang zu Frauenhäusern und Fachberatungsstellen muss niedrigschwellig und barrierefrei sein. Frauen und ihre Kinder müssen in jedem Bundesland einen uneingeschränkten Zugang zum Hilfesystem haben – das heißt unabhängig von ihrem Einkommen, Aufenthaltsstatus, Wohnort und Gesundheitszustand. Voraussetzung dafür sind flächendeckend vorhandene Dienste und Einrichtungen, die verlässliche und bedarfsgerechte Schutz- und Hilfeleistungen bereitstellen. Bisher sind spezifische Leistungen freiwillig und deshalb abhängig von Haushaltslagen der Länder und Kommunen. Frauenhäuser und Fachberatungsstellen brauchen eine durchgehend angemessene Ausstattung mit Personal und Sachmitteln. Die Diakonie Deutschland fordert einen Rechtsanspruch auf Hilfe für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder. Dieser würde Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. Erforderlich ist eine bundesweit verbindliche Rechtsgrundlage, die eine nachhaltige, kostendeckende und verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern gewährleistet.

Kriminalpolizei: Was sind zurzeit die größten Herausforderungen im Kinderschutz?

Josefine Barbaric: Ich fasse mich zum Abschluss kurz und nenne nur die bundesweit fehlende „echte“ Handlungsbereitschaft der verantwortlichen politischen Akteure, fehlende einheitliche Standards in der Kinder- und Jugendhilfe, nicht vorhandene Fachaufsichten für Jugendämter, fehlende Kinderschutzbeauftragte – auch bei der Polizei, fehlende Schutzräume und flächendeckende Kinderschutzambulanzen bzw. Opferambulanzen u.a. mit Childhood House-Anbindungen, obligatorische Weiterbildungsmaßnahmen für Richter an den Familiengerichten, Qualitätsüberwachungen für Sachverständige und fehlende Präventionsmaßnahmen in Kitas und Schulen sowie fehlende Aufklärungs- und Schutzkonzepte in den Einrichtungen. Prävention ist Kinderschutz und Kinderschutz kostet nun einmal Geld!


Anmerkung

Josefine Barbaric ist Referentin „Sexueller Missbrauch an Kindern“, Trainerin für Gewaltprävention, Buchautorin und Vorstand „Nein, lass das! e.V.“. Sie hat 2017 das Kinder- und Aufklärungsbuch „Nein, lass das!“ (ISBN 978-3-9821949-0-5) herausgegeben. Vgl. dazu auch eine Checkliste von Barbaric/Kolbe, Deutsche Polizei 5/2020, S. 10-12.