Polizei

Coronakrise und die Auswirkungen auf Polizei, Kriminalität und Freiheitsrechte

Interviewreihe. Von Prof./Ltd. Regierungsdirektor a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms



Peter Schaar: „Grundrechte müssen im Sinne einer Gesamtbilanz ausbalanciert werden“


Die Europäische Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz e.V. (EAID) hat am 26. März 2020 einen Appell unter dem Motto „Corona-Pandemie bekämpfen, Bürgerrechte und Datenschutz wahren“ formuliert, der von der Homepage der Akademie (https://www.eaid-berlin.de/) abgerufen werden kann. Darin ist das Coronavirus als eine „bisher unbekannte Herausforderung für demokratische Gesellschaften“ bezeichnet worden, der entschlossen entgegenzutreten sei. Zugleich wird jedoch auch die Befürchtung geäußert, dass Bürgerrechte in diesem Kontext zurücktreten, ohne dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausreichend beachtet werde.

Es wird insofern eine Abkehr vom einseitigen Streben nach einer umfassenden Sicherheit, eine Beachtung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots, eine Befristung und unabhängige Evaluation neu geschaffener Kompetenzen sowie eine Berücksichtigung des Datenschutzes durch Datensparsamkeit und Zweckbindung gefordert.

Am 3. April 2020 wurde ein Telefoninterview mit dem Mitinitiator des Appells Peter Schaar geführt.

 

Kriminalpolizei: Sehr geehrter Herr Schaar, das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und bereits heute vielen tausend Menschen das Leben gekostet. Müssen in einer solchen Lage nicht Bürger- und Menschenrechte automatisch zurückzutreten und im Ergebnis alle staatlichen Eingriffsakte erlaubt sein, soweit sie nur Menschenleben retten können?

Peter Schaar: Ich bin gegenüber derartigen Automatismen sehr skeptisch. Sicher ist es richtig, dass in bestimmten Situationen nicht alle Grundrechte voll verwirklicht werden können. Bestimmte Einschnitte können insofern durchaus gerechtfertigt sein, gerade in Situationen und Zeiten wie diesen. Aber jeder Eingriff muss sorgfältig bedacht werden. Das Coronavirus war zwar in seiner konkreten Ausprägung nicht vorhersehbar, aber die zu treffenden Maßnahmen haben sich auch nicht von heute auf morgen ergeben. Es gab also durchaus eine gewisse Vorlaufzeit, die zu nutzen war, um diese Maßnahmen effektiv und zugleich verhältnismäßig zu gestalten. Dies gilt auch für zukünftige Maßnahmen, bei denen unangemessene Grundrechtseingriffe vermieden werden müssen.

Kriminalpolizei: Welche Einschränkungen sind aus Ihrer Sicht nicht mit dem Übermaßverbot vereinbar oder wo bestehen Zweifel? Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Peter Schaar: Soweit ich es beurteilen kann, erscheinen mir die meisten der in Deutschland verfügten Maßnahmen im Großen und Ganzen angemessen und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar. Verantwortlich dafür sind ja in erster Linie die Bundesländer bzw. die unteren Verwaltungsbehörden in den Kommunen. Allerdings schrammen wir schon in bestimmten Bereichen an den Grenzen dessen entlang, was verfassungsrechtlich noch vertretbar ist. Dies gilt speziell für die Übertragung von bestimmten Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive. Das ist in mehreren Ländern so erfolgt und geht haarscharf an die Grenze des Erlaubten heran und im Detail vielleicht sogar darüber hinaus. Wir sehen in anderen Staaten – leider auch in Europa – dass es Maßnahmen gibt, die so tief in Menschen- und Bürgerrechte eingreifen, dass sie das Übermaßverbot brechen. Ich denke hier an eine Totalüberwachung mittels Drohnen, flächendeckende Videoüberwachung mit Gesichtserkennung und die Zusammenführung von unterschiedlichsten Informationen wie Gesundheits-, Telekommunikations- und Videoüberwachungsdateien. Dies würde aus meiner Sicht die Grenze zur Ver-‑
fassungswidrigkeit überschreiten.

Kriminalpolizei: Die Meinungen gehen in der öffentlichen Diskussion weit auseinander. Während beispielsweise der Publizist René Schlott in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung die Befürchtung äußert, dass die offene Gesellschaft erwürgt wird (SZ, 17.3.2020), weist dies Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ausdrücklich zurück und stellt fest: Wir opfern keine Freiheitsrechte, sondern schränken sie nur zeitweise ein (ARD/dpa, 1.4.2020). Wer hat in diesem Fall recht?

 

B 5: Abstandsregeln, nicht nur
im öffentlichen Raum.

Peter Schaar: Diese Frage werden wir erst im Nachhinein wirklich beantworten können. Wir haben aus anderen ebenfalls sehr kritischen Situationen heraus auch eine Reihe zusätzlicher sehr grundrechtsintensiver Eingriffsbefugnisse bekommen. Denken Sie nur an die Terrorismusbekämpfung speziell nach dem 11. September 2001. Diese Befugnisse sind in den Gesetzen nicht nur temporär verankert worden, sondern sie gelten ganz überwiegend sogar heute noch und haben damit eine nachhaltige Wirkung. Insofern muss im Zusammenhang mit der Pandemie-Bekämpfung sichergestellt werden, dass hier wirklich nur zeitlich begrenzte Maßnahmen getroffen werden. Dabei ist zu gewährleisten, dass jede einzelne Maßnahme dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Zudem brauchen wir so etwas wie die Gesamtrechnung der Grundrechtseingriffe. Diese müssen im Sinne einer Gesamtbilanz ausbalanciert werden.

Kriminalpolizei: Eine Befristung und unabhängige Evaluation von hoheitlichen Eingriffsbefugnissen wird auch in anderem Zusammenhang immer wieder gefordert. Ich denke nur an die aktuelle Diskussion über die Novellierung der Polizeigesetze des Bundes und der Länder. Gehören diese Instrumente nicht inzwischen zum Standard in unserem freiheitlichen Rechtsstaat?

Peter Schaar: Es gibt viele Befugnisse, die in außergewöhnlichen Situationen eingeräumt und in diesem Zusammenhang auch von den meisten Menschen akzeptiert worden sind. Später wurden diese Normen dann aber in ganz anderem Zusammenhang angewendet. Denken Sie nur an die zur Aufdeckung der Terrorfinanzierung eingeführte Kontodatenabfrage und die Tatsache, dass diese Daten heute quasi jedem Jobcenter und jedem Finanzamt zur Verfügung stehen. Oder denken Sie an die in einigen Bundesländern zur Dauereinrichtung gewordene automatisierte Kennzeichenerfassung, die zunächst nur für besondere Fallkonstellationen vorgesehen war. Die Befristungen und Normevaluationen müssen nicht nur versprochen werden, sie müssen auch tatsächlich erfolgen. Die in der Krise eingeräumten Befugnisse müssen nach Ende der besonderen Gefahrensituation enden.

Kriminalpolizei: Unter anderem fordern die Unterzeichner des Appells die Gewährleistung der Zweckbindung erhobener Daten. Haben Sie Zweifel an der Beachtung dieses Grundsatzes?

Peter Schaar: Ich erkenne durchaus auch aktuell die Tendenz, dass sogar hochsensible Daten für völlig andere Zwecke weiterverwendet werden. Denken Sie z.B. an die aus Baden-Württemberg berichtete Verfahrensweise, dass Daten über positiv getestete Personen und sogar über Verdachtsfälle an Polizeibehörden übermittelt werden. Die Polizei speist diese Daten dann in ihre Systeme ein und hält sie für alle Nutzer abrufbar bereit. Das ist schon ein sehr schwerwiegender Schritt, zumal ich mir nicht sicher bin, dass diese Daten nach Ende der infektiösen Zwei-Wochen-Frist wieder gelöscht werden. Als Begründung wird der Eigenschutz der Beamten angeführt, die etwa bei einem Unfall wissen müssten, ob die verunglückten Personen infiziert sind. Ich halte das für groben Unfug – schon deshalb, weil es unbestreitbar eine hohe Dunkelziffer gibt. In diesen Zeiten muss sich jeder Polizeibeamte so schützen können, dass sein Infektionsrisiko deutlich begrenzt wird, völlig egal, ob er es mit einer positiv auf „COVID-19“ getesteten Person zu tun hat.

Kriminalpolizei: Sie waren selbst zehn Jahre lang Bundesbeauftragter für den Datenschutz und damit oberster Anwalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland. Werden in der aktuellen Situation nicht gerade auch die Datenschutzbeauftragten beteiligt und können damit für einen Ausgleich sorgen?


Peter Schaar: Ich habe hier keinen vollständigen Überblick. Soweit ich es jedoch beurteilen kann, wird auf Ebene des Bundes und vieler Länder die Beteiligung der Datenschutzbeauftragten sichergestellt. Inwieweit dann allerdings ihren Ratenschlägen gefolgt wird, ist eine ganze andere Frage.


Anmerkung

Peter Schaar war u.a. von 2003 bis 2013 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.