„Die spinnen, die Germanen!“

Die Auswirkungen des neuen Arbeitszeiterlasses auf die (Kriminal-)Polizei

 

Von PD Frank Ritter, Kiel1

 

1 Andere Länder, andere Ideen …

 

Kürzlich berichtete ein Kollege der Polizei Schleswig-Holstein von seinem Besuch bei der Verkehrspolizei in Las Vegas. Nicht nur die Teilnahme am Nachtdienst, sondern auch die Auskünfte des „US-Streifenpartners“ zur Arbeitszeit und zu Schichtmodellen bei der Polizei in Nevada waren für den Norddeutschen ein Erlebnis. Der State-Trooper erzählte ihm, dass die Diensteinteilung für sechs Monate im Voraus erfolge und dass sich die Polizisten entscheiden müssen, ob sie in dieser Zeit Früh-, Spät- oder Nachtdienst machen wollen. Ausschließlich Früh-, Spät- oder nur Nachtdienst wohlgemerkt! Überraschend für unseren schleswig-holsteinischen Kollegen war die Aussage, dass die meisten Las-Vegas-Officer in den Nachtdienst streben. Warum? Da ist in der Stadt am meisten los, es gibt Nacht-Zulagen und man habe viel Tagesfreizeit.2 Da sich immer mehr Polizisten für den Nachtdienst „bewerben“, als gebraucht werden, findet ein Auswahlverfahren statt. Erstes Kriterium: Die Qualität und Quantität der erbrachten Verkehrstätigkeiten. Zweites Kriterium: Die Ergebnisse der regelmäßigen Fitnesstests. Und drittens, man ahnt es schon, die Schießergebnisse.


Auf die Frage, warum man nicht regelmäßig zwischen Früh-, Spät- und Nachtdienst wechsle, so wie es z.B. bei der deutschen Polizei üblich sei, erntete unser Kollege ungläubige Blicke. Was solle denn bitte schön gut daran sein, seinen Bio-Rhythmus permanent variierenden Reizen auszusetzen? Wie sollten denn der Organismus und das soziale Umfeld bzw. die Familie damit zurechtkommen? Frei nach Asterix & Obelix wird der amerikanische Kollege wohl gedacht haben: „Die spinnen, die Römer (bzw. die Germanen)“. Und unser Kollege hat umgekehrt womöglich das Gleiche empfunden …


Nun, auf welchen medizinischen Grundlagen US-amerikanische Polizeidienstpläne fußen, ist nicht bekannt. In Europa allerdings, sind die wissenschaftlich belegten gesundheitlichen Gefahren durch häufige Nachtdienste und soziale Beeinträchtigungen die maßgebliche Basis für die Planung der Arbeitszeit und die Fortentwicklung von Schichtmodellen. Das fordern EU-Richtlinien ebenso wie nationales oder föderales Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrecht in Deutschland völlig zu Recht.

 

2 Die Herausforderungen an eine moderne Polizeiarbeitswelt


Die Arbeitsprozesse in einer modernen Berufswelt müssen sich den gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen beständig anpassen, um den Herausforderungen ihrer Zeit gewachsen zu sein. Dies gilt für das allgemeine Berufsleben ebenso wie für den öffentlichen Dienst bzw. die Landesverwaltungen mit ihrer Landespolizei. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Balance von Arbeit und Freizeit und die Gesundheitsprävention sind unverzichtbare Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen und lukrativen Arbeitgeber. Die Gestaltung der Arbeit in der Polizei hat dabei unmittelbare Auswirkungen auf die Attraktivität des Polizeiberufs und damit auch auf die mittel- bis langfristige Nachwuchssicherung. Zwar bieten die Länderpolizeien ihren Mitarbeitern3 vielfältige Betätigungsfelder und breite berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, ein wesentlicher Aspekt der Polizeiarbeit ist und bleibt jedoch die Dienstleistung zu ungünstigen Zeiten – sei es in der Nacht, an Wochenenden oder an Feiertagen. Hier entstehen besondere gesundheitliche und soziale Belastungen, die zwar nicht vollständig aufgelöst, wohl aber vermindert werden können.


Die Vielfalt des Polizeiberufs und die Breite der Polizeiorganisation in den Ländern, einhergehend mit der Pluralität der Lebensentwürfe und Interessen ihrer Angehörigen, setzen bei der Dienstplangestaltung und dem dienstlichen Zusammenwirken ein hohes Maß an Kommunikationsbereitschaft und Kompromissfähigkeit voraus. Gesundheitsorientierte Arbeitszeitmodelle, Entlastungen für die besonders gesundheits- und sozial beeinträchtigenden Dienste sowie die Anerkennung für die Frauen und Männer, die sich diesen Anforderungen stellen, haben aus Sicht der Mitarbeiter heute eine andere Bedeutung, als noch vor Jahren oder Jahrzehnten.


Diese Erkenntnisse müssen in Leitlinien für den Arbeitszeiterlass einer modernen und zukunftsorientierten Landespolizei münden. Das alles klingt zwar logisch, für viele sogar banal, bedeutet bei der handwerklichen Umsetzung eines neuen Arbeitszeiterlasses aber ein zuweilen zähes Ringen um tragfähige Kompromisse. Abweichende, keinesfalls homogene Mitarbeiterinteressen sind mit den Organisationszielen und – nicht zu vergessen – dem gesetzlichen Auftrag in Einklang zu bringen. Zu glauben, dass hierbei am Ende hundertprozentige Zustimmung, oder gar Begeisterung erzielt werden könne, setzt ein hohes Maß an Optimismus, um nicht zu sagen Naivität, voraus.

 

3 Ein neuer Arbeitszeiterlass für die Polizei Schleswig-Holstein


Der in die Jahre gekommene Arbeitszeiterlass4 für die Landespolizei SH wurde durch Berufs- und Personalvertretungen aus gutem Grund kritisiert. Das Altwerk aus 2005 bot bei Weitem keine brauchbare Grundlage mehr für die Herausforderungen der Gegenwart oder der (näheren) Zukunft. Dass der neue Arbeitszeiterlass etwas länger auf sich warten lassen musste, lag hauptsächlich an den enormen Herausforderungen des täglichen Polizeidienstes und an der Komplexität der zu klärenden Details. Lange Zeit waren zahlreiche Facetten, die ein Arbeitszeiterlass regeln sollte, in der Diskussion bzw. noch nicht entscheidungsreif. Zu nennen sind beispielhaft die Verkürzung der Wochenarbeitszeit für belastende Polizeidienste, das Thema „Umziehen und Rüsten“, die Erfassung von Abwesenheiten im Zeiterfassungssystem, der kriminalpolizeiliche Bereitschaftsdienst oder aber die Frage nach angemessenen Mindestruhezeiten. Auch wenn schleswig-holsteinische Polizisten „dort arbeiten dürfen, wo andere Urlaub machen“ und auch wenn die Nordlichter laut statistischen Umfragen angeblich zu den glücklichsten Menschen in Deutschland zählen, waren manche Prozesse alles andere als einfach.


Exemplarisch werden in den folgenden Absätzen folgende Aspekte näher beleuchtet:

  • Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit für besondere gesundheitliche Beanspruchungen
  • Die Bereitschaftsdienste der Kriminalpolizei
  • Der Beginn und das Ende der anzuerkennenden Arbeits- bzw. Dienstzeit
  • Das vor- und nachlaufende Erfassen von Umzieh- und Rüstzeiten
  • Die Mindestruhezeiten zwischen den Diensten


Abgerundet wird diese Betrachtung durch einen kurzen Blick auf weitere arbeitszeitrechtliche Belange – auf Teilzeitbeschäftigungen, die Verbindlichkeit des Dienstplans, die Gewährung garantierter Freizeitblöcke, den Abbau von Mehrarbeit sowie die Leitlinien für die Dienstplangestaltung und die zulässigen Schichtmodelle.

4 Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei besonderen Beanspruchungen


Gut die Hälfte aller Bundesländer ermöglicht ihren Polizeibeamten einen früheren (abschlagsfreien) Eintritt in den Ruhestand, wenn im Laufe des Dienstlebens bestimmte Verwendungen wahrgenommen wurden. Die Anforderungskataloge und das Procedere in den Ländern sind dabei ausgesprochen unterschiedlich. Mal sind nur bestimmte Jahre in klassischen 24/7-Einheiten antragsfähig (Wechselschichtdienst), mal sind es Tätigkeiten in Einsatzhundertschaften, in Tauchergruppen, in Hubschrauberstaffeln oder in besonderen Ermittlungseinheiten (z.B. Kapitaldelikte oder Kinderpornografie). Mal gibt es feste Stichtage („Wer 25 Jahre voll hat, kann 2 Jahre früher gehen!“), mal wird gestaffelt („Für x Jahre besonderer Dienstbelastung darf man x Monate früher gehen“). In den meisten Ländern liegt diese Option im Benehmen der einzelnen Mitarbeiter, in einigen gibt es aber auch restriktive Regelungen (quasi eine vorzeitige „Zwangspensionierung“).


Grundsätzlich will auch die Polizei SH den (freiwilligen) „vorzeitigen Belastungsruhestand“ ins Auge fassen (was optional auch im Koalitionsvertrag der Jamaica-Landesregierung fixiert ist), hat sich vorerst aber für einen abweichenden Weg entschieden: Handlungsleitend ist hier die Überzeugung, dass besondere berufliche Anstrengungen nicht erst nach Jahren oder Jahrzehnten anerkannt und ausgeglichen werden sollten, sondern dass Belastungen unmittelbar in Entlastungen münden müssen. Aus diesem Grund wurde in Schleswig-Holstein die Reduzierung der Wochenarbeitszeit für Mitarbeiter in besonders belastenden Dienstformen in die AZVO aufgenommen. Mehr als 10 Verwendungsjahre (summarisch) führen zur Absenkung um drei Wochensollstunden, mehr als 20 Jahre zu einer fünfstündigen Reduzierung.5 Das klingt erst einmal nach einer guten und vor allem sehr Mitarbeiter orientierten Idee. Die tatsächliche Umsetzung (und Fixierung im Arbeitszeiterlass der Landespolizei) hatte es dann aber in sich. Die ursprüngliche Vorstellung, den Adressatenkreis allein am klassischen Wechselschichtdienst6 (Revierwachen, Leitstellen, Kriminaldauerdienste) festzumachen, fand in breiten Mitarbeiterkreisen – unterstützt durch Personalvertretungen und Berufsverbände – kaum Akzeptanz. Letztlich führte ein Klärungsgespräch zwischen der Landespolizeiführung und dem Innenminister zur Entscheidung, dass drei Kriterien für die o.g. Verkürzung der individuellen Wochenarbeitszeit kumulativ erfüllt sein müssen, nämlich

  1. eine (summarisch) mindestens 10-jährige Dienstverwendung, in der
  2. pro Jahr mindestens 440 Nachtdienststunden zu leisten waren/sind und
  3. die in täglich wechselnden Diensten (mit festem Dienstplan) entstanden/entstehen.

Hiervon profitieren in SH nunmehr rund 900 Polizeibeamte (etwa 13% des Vollzugspersonals). Begehrlichkeitsdiskussionen aus Reihen der nicht Begünstigten sind seltener geworden, aber noch nicht verstummt. Da die verkürzten Wochenarbeitssolle in den einzelnen Dienststellen naturgemäß Löcher reißen, sind personelle Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen, die nur durch die Einstellung von zusätzlichem Vollzugspersonal zu realisieren sind. Ergänzt sei der Hinweis, dass die Landespolizei SH für das Konzept der Wochenarbeitszeitverkürzung 2019 den Deutschen Personalrätepreis in Gold erhalten hat.

 

5 Kriminalpolizeiliche Bereitschaften


Der neue Arbeitszeiterlass der Landespolizei Schleswig-Holstein hat verbindlich festgelegt, dass Rufbereitschaften (also Bereitschaften in der Wohnung mit 15% Zeitanerkennung, aber ohne jegliche Erschwernisausgleiche) für die Sicherstellung der kriminalpolizeilichen Grundversorgung (hier bekannt unter der Bezeichnung „Beamte vom Dienst“)nicht mehr zulässig sind. Für diese Form der kriminalpolizeilichen Mindestverfügbarkeit ist nunmehr Volldienst oder die Bereitschaft „B50 zu planen (also der Aufenthalt auf der Dienststelle mit 50% Zeitanerkennung und 100%ige Gewährung von Erschwernisausgleichen, d.h. DzuZ und Zusatzurlaub für Nachtdienste). Solche Bereitschaften auf der Dienststelle dürfen jedoch nur dann angeordnet werden, wenn dafür eine entsprechende „Ruhe-Logistik“ geschaffen wurde. Gelingt das – aus welchen Gründen auch immer – nicht, ist Volldienst zu leisten.7


In SH war dies allerdings nur als Zwischenschritt zu betrachten, da entschieden wurde, sich vollständig von Bereitschaften oder Sonderdiensten (für die kriminalpolizeiliche Grundversorgung) zu lösen. Aktuell wird stattdessen eine flächendeckende Kriminaldauerdienst-Organisation8 etabliert. Die Mehrheit der Kripo-Beamten freut sich darauf, da der Bereitschaftsdienst in der Privatwohnung, erst recht aber der auf der Dienststelle, zunehmend als unzumutbar empfunden wird.

 

6 Erfassung von Dienstzeiten


Wann beginnt eigentlich unsere Arbeit? Was darf man in Zeiterfassungssystemen verbuchen und was nicht? Die Anfahrt zur Dienststelle sicher nicht – außer vielleicht in Fällen der Wohnungsbereitschaft oder einer Alarmierung. Was ist mit der Zeit, in der das Fahrzeug auf dem Dienststellenareal oder außerhalb davon abgestellt wird? Was ist mit dem Gang zum Dienstgebäude, mit dem Betreten des Hauses und dem Erreichen des eigenen Büros, mit dem Aufrüsten des dienstlichen Equipments oder mit der Zeit, die man für das Anlegen der Uniform braucht? Hierüber herrschen – sofern es nicht in Erlassen festgeschrieben ist – offenbar ambivalente Vorstellungen, die zu inakzeptablen individuellen Interpretationsspielräumen führen. Der Arbeitszeiterlass für die Landespolizei Schleswig-Holstein hat dies nun erstmalig verbindlich festgelegt. Kritische Kollegen fragten sich indes, „warum man denn immer alles so kleinteilig verschriften muss“. Die Antwort ist einfach: Weil bei Ansprachen durch Vorgesetzte häufig reflexartig zwei Fragen gestellt werden: „Wer sagt das?“ und „Wo steht das?“

 



Für die Polizei SH gilt: Mit Betreten des Dienststellengebäudes, das den eigenen Arbeitsplatz beherbergt, beginnt die Arbeitszeit und mit Verlassen dieses Gebäudes endet sie. In dieser Zeit erfolgen sämtliche dienstlich erforderliche Vor- und Nachbereitungshandlungen, z.B. das Auf- und Abrüsten und das An- und Ablegen der Uniform9. „Umziehen ist Dienstzeit?“ wird sich jetzt der eine oder andere fragen, „das war doch noch nie so!“. Stimmt! Nach bisheriger Verwaltungsrechtsprechung ist der Dienstherr nicht unbedingt verpflichtet, Umziehzeiten anzuerkennen oder in Zeiterfassungssystemen zu vergüten. Bisher galt sinngemäß „Trotz einer Uniformpflicht handelt es sich beim Anlegen der Dienstkleidung um eine typische Vorbereitungshandlung, die zur Aufnahme des Dienstes notwendig und der allgemeinen Lebensführung zuzurechnen ist“.10Hierüber durfte man schon immer geteilter Meinung sein! Darüber hinaus haben jüngere – anderslautende – Orientierungssätze des BAG zum An- und Ablegen von Dienstbekleidung in Krankenhäusern für Aufmerksamkeit gesorgt.11 Dies betraf zwar ein anderes Bundesland und regelt nicht explizit den Polizeibereich, führte den Erlassgeber in SH aber zur Überzeugung, dass hier innovativ und zukunftsweisend eine für die Mitarbeiter günstigere Festlegung vertretbar ist. Der denkbare Effekt, dass durch Zeiterfassung des vor- und nachlaufenden Umziehens nun Berge von zusätzlichen (Mehrarbeits-)Stunden entstehen könnten, dürfte nicht eintreten, da Umziehen und Rüsten grundsätzlich innerhalb der im Dienstplan vorgesehenen Schicht-/Arbeitszeiten erfolgen sollen. Die polizeiliche Grundversorgung (d.h. die ggf. sekundenschnelle Wahrnehmung unaufschiebbarer Soforteinsätze) können ggf. durch Überlappungsplanungen sichergestellt werden. Sollten Mitarbeiter – aus ihrem ehrenhaften Berufsverständnis heraus – für sich entscheiden, dass sie immer vollaufgerüstet zum Beginn ihrer Arbeitseinheit bereitstehen und erst nach Ende der Schicht mit dem Abrüsten und Umziehen beginnen, sorgt ein Urteil des BVerwG mit drei deutlich herausgestellten Aspekten für Klarheit:12

  1. Kraft seiner Organisationsgewaltist es allein Aufgabe des Dienstherrn, die konkreten Arbeitszeiten für die Beamten festzulegen.
  2. Die Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit während des Schichtwechsels ist allein Aufgabe des Landes.
  3. Es steht den einzelnen Polizeibeamten nicht zu, eigenmächtig [davon] abzuweichen und dafür einen Ausgleich zu beanspruchen.

7 Ruhezeiten zwischen zwei Arbeitseinheiten


Die Mindestruhezeit zwischen zwei Arbeitseinheiten bzw. Diensten soll elf Stunden dauern; so fordert es das EU-Recht13. Und so macht der „echte Norden“14 das auch. Nach der Arbeitszeitverordnung des Landes SH kann die oberste Dienstbehörde hierbei jedoch Ausnahmen für Bereiche zulassen, in denen die Kontinuität des Dienstes gewährleistet sein muss und in denen die Arbeitszeiten über den Tag verteilt sind.15 Unstrittig ist beides bei der Landespolizei der Fall. Die Frage ist indes, ob man die bestehenden Ausnahmemöglichkeiten tatsächlich nutzen muss. Bislang wurde das vielerorts so gesehen und zugelassen. Nicht zuletzt vor den aktuellen Diskussionen um gesundheitliche Entlastungen und gesundheitsorientierte Schichtmodelle kam der Erlassgeber allerdings zur Überzeugung, die „EU-Empfehlung“ einschränkungslos umzusetzen. Dies folgte zwar im Wesentlichen den Interessen von Personalvertretungen und Berufsverbänden, stieß in der Mitarbeiterschaft aber nicht überall auf Verständnis. Gerade dort, wo Dienststellen noch mit sogenannten „rückwärts rollierenden Schichtfolgen“16 arbeiten, wurden die elf Stunden Mindestruhe zwischen den Spät- und Frühdiensten häufig unterschritten. Um diesen Einheiten den notwendigen Zeitraum für die Umstellung zu geben, wurden Übergangsregelungen gefunden. Ab dem 1.1.2021 werden allerdings keine Ausnahmen mehr zugelassen. Die handwerkliche Lösung kann hier im Übrigen nicht darin bestehen, den Regelnachtdienst dann eben kurzerhand von neun oder zehn auf elf Stunden zu verlängern. Das wäre im Kontext einer zu optimierenden gesundheitsorientierten Ausrichtung polizeilicher Arbeitszeiten geradezu kontraproduktiv, um nicht zu sagen absurd. Die Lösung sollte in der Umstellung von einem rückwärts in ein vorwärts rollierendes Schichtmodell liegen. Die Frage, ob Doppeldienste (z.B. Früh- und Nachtdienst an einem Tag) erlaubt sein sollten, hat sich mit der konsequenten Anwendung der 11-Stunden-Mindestruhe im Prinzip erledigt. Ein „Doppelschlag“ erscheint kaum noch organisierbar! Formell untersagt der Arbeitszeiterlass dies daher auch gar nicht, spricht aber die Empfehlung aus, hiervon Abstand zu nehmen.

 

8 Weitere Neuregelungen im Blitzlicht …

 

  • Für die Fortentwicklung von Schicht- und Arbeitszeitmodellen wurden keine strikten Vorgaben gemacht, sondern Leitlinien aufgenommen und mit Musterdienstplänen visualisiert. Sofern nicht gegen die rechtlichen Bestimmungen des Arbeitszeiterlasses bzw. die rahmengebenden arbeitszeit- und arbeitsschutzrechtlichen Gesetze und Verordnungen verstoßen wird, kann jede Dienststelle nach einem Schichtrhythmus arbeiten, der am besten zu ihr passt (Mitarbeiterzufriedenheit, Altersdurchschnitt, Teilzeiten, Wohnsituationen, besondere Schwerpunkte usw.).
  • Bereits seit 2016 garantiert die Landespolizei allen Mitarbeitern des Schicht- und Schwerpunktdienstes einen 72-Stunden-Freiblock pro Monat, vornehmlich an Wochenenden (oder alternativ zwei Blöcke à 60 Stunden). Diese Dienstvereinbarung wurde nunmehr in den Arbeitszeiterlass integriert.
  • In Schicht- und Schwerpunktdiensten darf innerhalb von 28 Tagen bis zu neunmal länger als 10 Stunden gearbeitet werden, wenn dadurch zusätzliche Freischichten oder längere Regenerationsphasen an anderer Stelle entstehen.17
  • Wird eine Teilzeitbeschäftigung aufgegeben, kann eine erneute Teilzeit frühestens erst wieder nach drei Monaten beginnen. Hier gilt es nicht zuletzt Teilzeitunterbrechungen zu Urlaubszwecken vorzubeugen.
  • Der Arbeitszeiterlass trifft Aussagen zur Verbindlichkeit des Dienstplans. Zu einem bestimmten Zeitpunkt brauchen die Mitarbeiter verlässliche Klarheit, um z.B. kostenträchtige Rechtsgeschäfte eingehen zu können (Konzertkarten kaufen, Reisen buchen u.Ä.). Unter bestimmten Voraussetzungen können sie nunmehr Schadenersatz durch den Dienstherrn beanspruchen, wenn sie trotz einer für sie abgeschlossenen Dienstplanung kurzfristig in den Dienst geholt werden und ggf. auf bereits entstandenen Kosten „sitzen bleiben“.
  • Für den Abbau unzulässig hoher Mehrarbeitsstundenstände bis Ende 2022 ist ein abgestuftes Verfahren beschrieben.
  • Es wurden erforderliche Sonderregelungen für den Bootsdienst der Wasserschutzpolizei auf der Nord- und der Ostsee sowie für den polizeilichen Präsenzdienst auf den Inseln Helgoland, Amrum, Föhr und Pellworm aufgenommen.

 

9 Resümee


Der Erlassgeber und die Mitbestimmungsgremien sind davon überzeugt, mit dem Arbeitszeiterlass für die Landespolizei SH ein modernes Regelwerk geschaffen zu haben, das eine Vielzahl widerstreitender Interessen zu vermittelbaren Lösungen vereint hat. Ziel war die Schaffung eines „Werkzeugkastens“, aus dem sich die Mitarbeiter bzw. die Einheiten, denen sie angehören, die für sie am besten passenden Instrumente auswählen können. Dass Kollegen mit geringerer Kompromisskompetenz, die ihre Standpunkte nicht zu einhundert Prozent durchsetzen durften, unzufrieden sein könnten, gehört zum (demokratischen) Geschäft. Es wird wohl immer Mitarbeiter geben, denen man es nie recht machen kann.


Oder wie sagte einmal ein Dienststellenleiter: „Da könnten wir die Dienststelle auch in die Karibik verlegen – nach spätestens zwei Tagen gäbe es die ersten Beschwerden […] entweder weil das Meer zu warm und die Fische zu bunt sind oder weil das Zitroneneis zuneige geht“.

 

Anmerkungen

 

  1. Polizeidirektor Frank Ritter ist seit 1983 Angehöriger der Landespolizei Schleswig-Holstein und seit 2003 im höheren Polizeivollzugsdienst (LG 2.2). Zahlreichen Funktionen im operativen Dienst und im Innenministerium folgte die aktuelle Verwendung als Einsatzreferent der Landespolizei. Seit 2003 ist Frank Ritter Dozent für Einsatzmanagement im Fachbereich Polizei der FHVD.
  2. Jeder Verkehrspolizist hat im Übrigen seinen persönlich zugewiesenen Streifenwagen, den er nach vollendeter Schicht mit nach Hause nimmt. Die VÜ läuft insofern offenbar (zumindest temporär) partnerlos, was den deutschen Eigensicherungs- und Fürsorge-Vorstellungen kaum standhält.
  3. Alle Personalbezeichnungen gelten allgeschlechtlich (m/w/d).
  4. Eine AZVO für die Polizei existiert in Schleswig-Holstein nicht. Über die AZVO der Landesverwaltung hinaus werden polizeispezifische Arbeitszeitbelange durch Erlass geregelt.
  5. Die Reduzierungen erfolgen bis 2022 gestaffelt in mehreren Jahresschritten, die in § 10 der AZVO SH für den Polizei- und den Justizvollzugsdienst fixiert sind.
  6. Der Arbeitszeiterlass der Polizei SH nimmt keine Unterscheidung zwischen den Begriffen Schichtdienst und Wechselschichtdienst mehr vor – die Definitionsunterschiede waren ohnehin nie klar verständlich vermittelbar. Begrifflich werden nur noch der Schichtdienst, der Schwerpunktdienst und der Tagesdienst an Werktagen unterschieden.
  7. Es existiert eine gewisse Klagewilligkeit mit dem Ziel, Bereitschaften grundsätzlich in eine 100%ige Zeitvergütung münden lassen zu wollen. Solche Bereitschaften wird es in SH nicht geben. Sie wären den – ohne Ruhemöglichkeiten – Volldienst leistenden Kollegen kaum vermittelbar.
  8. Kriminaldauerdauerdienste gab es bis dato nur in den größeren Städten Kiel und Lübeck.
  9. Dienstlich erforderliches Briefing erfolgt innerhalb der vorgesehenen Arbeitseinheiten und bindet grundsätzlich keine zusätzliche Dienstzeit. Für die Übergaben der Dienstgruppenleiter u.a. gilt das nicht.
  10. Siehe BVerwG v. 25.8.2011, Az. 2 B 38.11; zum Streit über das Rüsten als Dienstzeit: OVG Münster v. 3.11.2016, Az. 6 A 2250/14; BVerwG v. 25.8.2011, Az. 2 B 38.11; VG Düsseldorf v. 26.11.2013, Az. 2 K 7657/12; VG Gelsenkirchen v. 29.9.2014, Az. 1 K 5363/13; VG Arnsberg v. 11.3.2015, Az. 2 K 2212/12.
  11. BAG v. 25.4.2018, Az. 5 AZR 245/17; v. 6.9.2017, Az. 5 AZR 382/16 (Auszüge: „Eine auffällige Dienstkleidung liegt vor, wenn der Arbeitnehmer aufgrund ihrer Ausgestaltung in der Öffentlichkeit einem bestimmten Berufszweig oder einer bestimmten Branche zugeordnet werden kann. […] Beim An- und Ablegen einer besonders auffälligen Dienstkleidung leistet ein Arbeitnehmer vergütungspflichtige Arbeit. Der hierfür notwendige Zeitaufwand ist ausschließlich fremdnützig, weil er auf der Arbeitgeberweisung zum Tragen der Dienstkleidung während der Arbeitszeit beruht.“)
  12. BVerwG v. 20.9.2018, Az. 2 C 44/17.
  13. Art. 3 der EU-Richtlinie 2003/88/EG zur Arbeitsgestaltung.
  14. Verbindlicher Heimat-Slogan des Landes Schleswig-Holstein.
  15. § 7 Absatz 2 AZVO SH.
  16. Rückwärts rollierend ist die Schichtfolge „Spät – Früh – Nacht“, vorwärts rollierend ist die Schichtfolge „Früh – Spät – Nacht“.
  17. Diese Regelung kann kaum als ideal bezeichnet werden, folgt aber den organisatorischen und personellen Möglichkeiten und Grenzen der Landespolizei SH. Zudem wurde parallel zur Erlasserstellung an mehreren Standorten ein alternatives Schichtmodell pilotiert, das auf der einen Seite drei vollständige 72-Stunden-Freiblöcke im Monat vorsieht, das auf der anderen Seite naturgemäß aber zu einer deutlichen Arbeitsverdichtung binnen kurzer Zeitspannen führt (u.a. unter Nutzung von 8-9 Diensten, die länger als 10 Stunden dauern). Da dieses Pilotprojekt einerseits höchste Akzeptanzwerte in der Mitarbeiterschaft erreichte, andererseits – ohne zwischenzeitliche Äußerung von Bedenken – medizinisch-wissenschaftlich durch das UNI-Klinikum SH begleitet wurde, sah sich der Erlassgeber nicht veranlasst, diese Entwicklung durch zu große Restriktionen zu konterkarieren.