Der Tatortbefundbericht:

„Die Subjektivität desobjektiven Befundes“

 

Von EKHK Frank Rabe, Duisburg1

 

 

1 Einleitung

 

Dem Tatort kommt als (erste) Informationsquelle im Hinblick auf die Aufklärung von Straftaten sowie der Beweisführung eine besondere Bedeutung zu. Die Tatortarbeit lässt sich durchaus als eine Art Inventur bezeichnen, mit deren Hilfe erste Ermittlungsansätze herausgearbeitet werden. An der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (HSPV NRW) wird die Systematik dieser Inventur in Form der „Kriminalistischen Fallanalyse“ gelehrt und in der Ermittlungsakte als sog. „Tatbefundbericht“ (oder auch „Tatortbefundbericht“) verdokumentiert. Der Bericht dient darüber hinaus allen Verfahrensbeteiligten als primäre Informationsquelle in Bezug auf die Tatortsituation.


Die PDV 1002 widmet sich dem Thema Tatortarbeit in Ziffer 2.2.3 unter dem Begriff „Erster Angriff“, der sich in die Phasen „Sicherungsangriff“ und „Auswertungsangriff“ gliedert. Dort heißt es:

 


„Über den Ersten Angriff ist einTatbefundbericht zu fertigen, der die

  • Feststellungen beim Eintreffen am Tatort,
  • Beschreibung des Tatortes, des Tatobjektes, des Opfers, der Spurensuche und der Spurensicherung (objektiver Befund),
  • Darstellung von Tathergang, Tatumständen, Zeugenaussagen und eigenen Schlussfolgerungen (subjektiver Befund),
  • getroffenen Maßnahmen
    enthalten soll“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass selbstverständlich auch Unfallorte unter die Definition „Tatort“ fallen und folglich als solche zu bearbeiten sind. Die Dokumentation erfolgt grundsätzlich in Form eines „Unfallbefundberichtes“.


Die Autoren Weihmann/Schuch3 bezeichnen den Begriff „Tatbefundbericht“ als „irreführend“ und empfehlen stattdessen die im kriminalistischen Sprachgebrauch längst etablierte Bezeichnung „Tatortbefundbericht“. Der in den Fundstellen zu diesem Thema dargelegten Argumentation schließe ich mich an.


„Es gibt in Nordrhein-Westfalen kein zwingend genormtes Schema für einen Tatortbefundbericht.“4 Allerdings enthalten alle bekannten Schemata die in Abschnitt 2.2.3 der PDV 100 vorgeschriebenen Kapitel „objektiver Befund“und „subjektiver Befund“.

 

2 Objektiver Befund


Der Begriff „Bericht“ wird laut Duden als „sachliche Wiedergabe eines Geschehens oder Sachverhalts“ definiert, im Fall des Tatortbefundberichtes in Form von beschreibendem Text. Der „objektive Befund“ soll insbesondere den Tatort, das Tatobjekt, das Opfer sowie die Spurensuche und Spurensicherung beschreiben. Zum Begriff „objektiv“finden sich in der Literatur eine Reihe von Synonymen und Definitionen, z.B. sachlich, neutral oder unparteiisch. Die wirtschaftspsychologische Gesellschaft (WPGS)5 befasst sich in mehreren Fachartikeln mit dem Begriff „Objektivität als Gütekriterium“ und definiert ihn als „Unabhängigkeit der Ergebnisse (wissenschaftlicher Arbeit6) von den Personen, die bei der Ergebniserstellung beteiligt sind“.

 



Sowohl in der polizeilichen Ermittlungsarbeit als auch bei gutachterlicher Tätigkeit kommt der Objektivität schon per Gesetz eine exponierte Bedeutung zu.7 Legt man die Definition von WPGS zugrunde, dürfte sich der objektive Befund im Ergebnis nicht oder nicht wesentlich voneinander unterscheiden, selbst wenn er von verschiedenen Personen gefertigt würde.

2.1 Problematik

In meinen Vorlesungen und Seminaren lasse ich zu diesem Thema regelmäßig nachfolgendes Bild (Abb. 1) beschreiben.


Ich bitte dazu jeweils Seminarteilnehmer beider Geschlechter auf Grundlage des Fotos einen objektiven Tatortbefund zu erstellen. Die restlichen Seminarteilnehmer werden gebeten, auf prägnante Unterschiede der Beschreibung zu achten. Die Qualität der Berichte steht nicht zur Debatte. Die häufig zu beobachtenden Unterschiede, besonders deutlich im Vergleich beider Geschlechter, liegen insbesondere in der Reihenfolge, dem Umfang, der Wortwahl (Bezeichnung der abgebildeten Bild-inhalte) aber auch in der Interpretation von Bildinhalt und Bildaussage. Der Befund genügt insofern keinesfalls mehr dem Anspruch der Objektivität.


Ähnliche verhält es sich mit Tatortbefund- und Spurensicherungsberichten, zu denen ich die Tatorte mit eigenen Augen gesehen habe. Jede Beschreibung enthält mehr oder weniger subjektive Komponenten, selbst dann, wenn der Beschreibende routiniert ist und z.B. Begrifflichkeiten nach DIN verwendet.


Wie bereits angeführt, dient der Tatortbefundbericht unter anderem allen Verfahrensbeteiligten als primäre Informationsquelle. Er soll Personen, die den Tatort selbst nicht gesehen haben, einen möglichst konkreten und realistischen Eindruck der vorgefundenen Tatortsituation vermitteln. Zu dieser Thematik habe ich ebenfalls Experimente durchgeführt, bei denen die Probanden auf Grundlage einer textbasierten Beschreibung gebeten wurden, eine einfache Skizze zu erstellen. Die Ergebnisse wurden anschließend mit der Originaltatortskizze verglichen. Die Abweichungen von der Originalskizze und der Variantenreichtum waren, wie nicht anders zu erwarten, gravierend.

 

2.2 Ursachen

Die Ursachen für den hohen Anteil subjektiver Einflüsse in der Berichterstellung einerseits sowie dem beim Leser erzeugten Eindruck der Tatortsituation andererseits sind vielfältig und werden hier nur kurz angeführt. Die selektive Wahrnehmung schützt unser Gehirn vor Reizüberflutung, wir konzentrieren uns auf das Wesentliche, auf das für uns Wichtige, Interessante oder Vertraute.


„Wusstest Du, dass das das Gehirn unnötige Informationen automatisch ignoriert?“8 Ist Ihnen beim Lesen aufgefallen, dass im vorstehenden Satz ein „das“ zu viel vorhanden ist?


Selektive Wahrnehmung, die frühzeitige Unterscheidung in wichtig und unwichtig, ist aber der Fertigung eines objektiven Befundes nicht zuträglich. Andererseits ist es nicht möglich, jedes kleine Detail zu erfassen und zu beschreiben, für den Fall, dass es im aktuellen Fall doch von Bedeutung ist. In Abhängigkeit der Fähigkeiten des Beschreibenden werden Genauigkeit und Objektivität durch die Wahl von Begrifflichkeiten, Umschreibungen, Interpretationen und Wertungen zusätzlich eingeschränkt.


Die Leser werden das Geschriebene ihrerseits gemäß ihrer eigenen Vorstellung interpretieren – oftmals ohne am Ende eine realistische Vorstellung von dem zu haben, was der Verfasser ursprünglich gemeint hat. Die Praxis zeigt, dass selbst ausführliche Berichte in Gerichtsverhandlungen der Nachfrage, Konkretisierung und Erläuterung bedürfen.


Nachfolgendes Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus einem, wie ich meine, gut geschriebenen Tatortbefundbericht:


„… Die betroffenen Objekte liegen direkt an der Friedrich-Ebert-Straße, einer in Nord-/Südrichtung verlaufenden Hauptstraße mit in der Fahrbahnmitte verlegten Schienen der ÖPNV-Linie 901, ohne eigenen Gleiskörper …


…Die Häuser Nr. 330 und 332 bilden gemeinsam mit den benachbarten Gebäuden eine geschlossene Häuserfront. Das Haus Nr. 330 bildet eine Eckfront, deren südlicher Gebäudeteil um etwa vier Meter in Richtung Straße vorversetzt ist. Es handelt sich um 4-geschossige Wohnhäuser mit jeweils einem Ladenlokal im Erdgeschoss. Das Gebäude Nr. 330 beherbergt einen Kiosk mit begehbarem Ladenlokal, in Haus 332 befindet sich ein Friseursalon …


… Fenster und Türen beider Häuser weisen insgesamt 13 Schussbeschädigungen auf, die von Süd nach Nord mit E1 bis E13 gekennzeichnet wurden. E1 bis E9 befinden sich in der Kiosktür und der angrenzenden Fensterfront. Sie verlaufen bei E1 beginnend, kontinuierlich abwärts, von 226 cm bis 102 cm Höhe. Die Beschädigung E10 liegt in der Haustür von Nr. 330 in einer Höhe von 127,5 cm. Die Einschüsse E11 bis E 13 liegen in der Fensterfront des Friseursalons und verlaufen aufwärts von

118 cm bis 170 cm Höhe …“


Der geneigte Leser kann anhand dieses Textauszugs selbst überprüfen, wie konkret er sich die Tatortsituation vorstellen kann.

2.3 Problemlösung

2.3.1 Althergebrachte Verfahrensweise

Bei der dargestellten Problematik handelt es sich zugegebenermaßen nicht um neue Erkenntnisse. Darum hat sich in der polizeilichen Praxis die Ergänzung des Tatortbefundberichtes durch

 

  • Skizzen (je nach Bedarf mit oder ohne Maßstab),
  • Lichtbildmappen,
  • vollsphärische Digitalaufnahmen und Dokumentationssoftware,
  • Laserscanner oder
  • elektrooptische Messverfahren

längst als notwendig erwiesen und bewährt.


Allerdings wird nach wie vor überwiegend an der umfassenden Beschreibung der Tatortsituation festgehalten, die, insbesondere bei Kaptaldelikten, durchaus einen Umfang von 20 Seiten DIN A4 oder mehr haben kann. Ergänzt wird dieser ausführliche Text dann durch eines der vorstehend genannten Hilfsmittel, vorzugsweise in Form einer Lichtbildmappe.


So stammen beispielsweise nachfolgende Lichtbilder aus der ergänzend zum Text aus Kapitel 2.2.1 erstellten Lichtbildmappe:

 

Abb. 2: Übersicht Tatort, Fahrtrichtung Brauerei (Süden).

 

Abb. 3: Kiosk mit Schussbeschädigungen 1 bis 10.


Die Ergänzung des Tatortbefundberichtes durch Lichtbilder vermittelt einen recht genauen und objektiven Eindruck der Tatortsituation. Darüber hinaus unterliegen die Fotos eben nicht der selektiven Wahrnehmung, so dass, wenn sie nach den Grundsätzen der kriminalistischen Fotografie gefertigt werden, auch Details erfasst werden, die der Verfasser des objektiven Befundes zunächst als unwichtig erachtet hat. In Zeiten von Arbeitsverdichtung und Personalknappheit muss es allerdings erlaubt sein, auch über Arbeitsökonomie nachzudenken, wenn damit keine Qualitätseinbußen einhergehen.

2.3.2 Modifizierte Verfahrensweise (Fototatort)

Der beim PP Duisburg mittlerweile als „Fototatort“ etablierte Tatortbefundbericht basiert auf den Gütemerkmalen Objektivität und Arbeitsökonomie. Textanteile werden zugunsten von Lichtbildern auf das notwendige Maß reduziert. Die digitale Textverarbeitung ermöglicht die Kennzeichnung von Details, die hervorgehoben werden müssen, ebenso, wie die Erstellung einer übersichtlichen Legende, wie das nachfolgende Beispiel zeigt.


Lichtbilder lassen sich problemlos einfügen und in Größe, Kontrast und Belichtung anpassen. Für fortgeschrittene Anwender besteht die Möglichkeit, sich eine Vorlage zu gestalten, die bereits Platzhalter für Bild und Bildbeschriftung enthält, so dass die Fotos direkt in der gewünschten Größe eingefügt werden. Mit Hilfe der Programmierung sog. „Makros“9 lassen sich auch mehrere Fotos gleichzeitig in die dafür vorgesehenen Platzhalter einfügen. Allerdings ist die Aufzeichnung von Makros in der IT-Umgebung des Landes NRW nicht gestattet und darum gesperrt.


Beim PP Duisburg steht im Formularschrank für diese Zwecke ein Formular „Tatortbefundbericht/Fototatort“ zur Verfügung.


Bei Abb. 4 handelt es sich um eine Fotomontage aus ursprünglich zwei Lichtbildern, die zugrunde liegenden Originalfotos sind ebenfalls Bestandteil des Berichtes. Die Einfügung der Abb. 2 bis 4 ersetzen, inklusive der Legende und Kennzeichnungen, wesentliche Textpassagen aus dem Beispiel in Kapitel 2.2.1. Der Leser hat nunmehr einen realistischen Eindruck der Tatortsituation. Die frühzeitige Selektion von wichtigen und unwichtigen Informationen erübrigt sich.

2.4 Historie

Anlass für die ersten Überlegungen hinsichtlich der Modifizierung der Tatortbefundberichte war die Beobachtung, dass bei Gericht immer häufiger „die Erläuterung der Lichtbildmappe“ durch den jeweiligen Ersteller verlangt wurde. Fragestellungen der Verfahrensbeteiligten zur Tatortsituation ließen vermuten, dass die Tatortbefundberichte häufig nicht oder zumindest nicht in aller Ausführlichkeit gelesen worden waren. Die Staatsanwaltschaft Duisburg sowie Vertreter von Amts- und Landgericht zeigten sich bereits in den ersten Gesprächen offen für die Idee einer modifizierten Verfahrensweise. Die ersten Berichte dieser Art wurden dann gemäß Absprache bei Kapitaldelikten gefertigt, evaluiert und permanent verbessert. Der Fototatort hat sich nach kurzer Zeit als das Mittel der Wahl etabliert und ist in NRW mittlerweile fester Bestandteil der Fortbildung. Rechtsvorschriften, wie z.B. die PDV 100, stehen dieser Verfahrensweise nicht entgegen.

 

3 Ausblick


Voraussetzung für Zulassung des Fototatortes als Beweismittel im Strafverfahren ist die Beachtung der Grundsätze der kriminalistischen Fotografie sowie der digitalen Beweisfotografie. Zu dieser Thematik sind weitere Fachbeiträge in Arbeit.

 

Abb. 4: Häuserfront mit Einschüssen E1 bis E 13.


Bildrechte: Frank Rabe, PP Duisburg.

 

Anmerkungen

 

  1. EKHK Frank Rabe ist Behördengutachter bei der KTU Duisburg und leitet dort seit 2016 das KK 33 (KTU, ED, digitale Bildtechnik, Kriminalaktenhaltung). Als Lehrbeauftragter unterrichtet er seit 1993 an der HSPV NRW, Abt. Duisburg bzw. Mülheim/Ruhr die Fächer Kriminalistik und Kriminaltechnik. Er referiert im Nebenamt regelmäßig beim LAFP NRW zum Thema „kriminalistische Fotografie“ und ist Mitautor der im Rahmen der Lehr- und Studienbriefe beim VDP erschienenen „Grundlagen der Kriminaltechnik“, nunmehr „Basislehrbuch Kriminaltechnik“.
  2. PDV 100, Ausgabe 2012, Stand 09/2018.
  3. Vgl. Kriminalistik für Studium, Praxis, Führung; 12. Auflage (VDP) und Weihmann, PDV 100, in Kriminalistik 2005, S. 764.
  4. Vgl. Frings/Rabe, Grundlagen der Kriminaltechnik II, S. 119, VDP und Frings/Rabe, Basislehrbuch Kriminaltechnik, S. 289, VDP.
  5. Wirtschaftspsychologische Gesellschaft (WPGS), Arndtstraße 4, 80469 München.
  6. Anmerkung des Autors
  7. Vgl. § 163 StPO sowie §§ 24, 74 StPO.
  8. Quelle: www.karrierebibel.de „selektive Wahrnehmung“, Januar 2020.
  9. „Makro“: Aufzeichnung von Arbeitsschritten, die wiederkehrend automatisiert ablaufen (der Autor).