Recht und Justiz

Fehlende Harmonisierung der Eingriffsbefugnisse

Eine föderale Herausforderung

2.2 Versammlungsrecht

Ausgesprochen problembehaftet ist das Versammlungsrecht, das mit der Föderalismusreform I in die Gesetzgebungskompetenz der Länder überführt wurde.21 Von dieser Neuordnung haben bisher allerdings lediglich die Länder Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein Gebrauch gemacht – und dies trotz vorliegender Musterschriften in sehr unterschiedlicher Form.22 Eine wünschenswerte Angleichung ist nicht festzustellen.

Daneben gelten gemäß Art. 125a I GG in allen Ländern, in denen die bundesrechtlichen Regelungen nicht ersetzt wurden, diese auf unbestimmte Zeit und mit allen bekannten Mängeln23 fort, so dass der unhaltbare Zustand andauern dürfte. Den vorliegenden Koalitionsverträgen ist zu entnehmen, dass zumindest Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bremen in der jeweils laufenden Legislaturperiode ein vollständiges Versammlungsgesetz verabschieden wollen,24 auch wenn der Diskussionsstand noch sehr unterschiedlich ist.25

 

2.2.1 Anwendung des allgemeinen Polizeirechts

Umstritten ist die seit vielen Jahren unter dem Terminus „Polizeirechtsfestigkeit der Versammlungsfreiheit“ geführte Diskussion über die Anwendung des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts im Schutzbereich des Art. 8 GG.26 Für präventive Maßnahmen gehen die Spezialgesetze in ihrem Anwendungsbereich den lückenfüllenden Normen vor und entfalten auch nach der Föderalismusreform 2006 eine Sperrwirkung, die mit Subsidiaritätserwägungen, den generell strengeren Anforderungen der Spezialregelungen sowie dem Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zu begründen ist.

Insbesondere die hohe Bedeutung des Zitiergebots wird durch das BVerfG in seinen aktuellen „AKLS-Entscheidungen“ noch einmal ausdrücklich betont.27 Dennoch ist die tatsächliche Reichweite der Rückgriffsperre umstritten und Enders et al.28sprechen berechtigt von einem „notorisch problematische(n) Verhältnis“ der Rechtsnormen. Im Ergebnis muss berücksichtigt werden, dass bisher nur in den Polizeigesetzen der Länder Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und zuletzt Brandenburg und Sachsen Art. 8 GG zitiert wurde.29

Fraglich ist hingegen, ob eine mittelbare Anwendung polizeirechtlicher Normen über den Erst-Recht-Schluss „a maiore ad minus“ in Verbindung mit der „Ergänzungstheorie“ des BVerwG in Betracht kommt. Der Erst-Recht-Schluss entspringt der juristischen Methodenlehre und bedeutet, dass auf der Rechtsgrundlage für eingriffsintensivere Maßnahmen auch ungeregelte mildere Maßnahmen möglich sein müssen. Die „Ergänzungstheorie“ wurde vom BVerwG30 entwickelt und die Anwendung der Standardbefugnisse des allgemeinen Polizeirechts auf der Rechtsfolgenseite bejaht, soweit auf der Tatbestandsseite die Voraussetzungen des § 15 BVersG31 vorliegen. Dieser Argumentationsansatzstand wiederum gemeinsam mit § 9 MEVersG für die Einfügung einer „Transfer- oder Subsidiärklausel“ in das VersFG SH (§ 9) und stark eingeschränkt in das NVersG (§ 10 II) Pate. Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass die Anwendung des allgemeinen Polizeirechts im Versammlungsgeschehen nur dann in Frage kommt, wenn für konkrete Maßnahmen keine abschließende Normierung im bereichspezifischen Versammlungsrecht vorliegt und zusätzlich das Zitiergebot Berücksichtigung findet oder alternativ eine ausdrückliche Transferklausel besteht oder dem vorgenannten Argumentationsansatz des BVerwG gefolgt wird.

 

2.2.2 Vermummung und Schutzausrüstung

Regelungen zum Vermummungs- und Schutzausrüstungs- bzw. Schutzwaffenverbot finden sich in § 17a BVersG, Art. 16 BayVersG, § 9 NVersG, § 17 SächsVersG, § 15 VersammlG LSA und § 17 VersFG SH. Problematisch ist allerdings erneut, dass die einzelnen Normen sehr unterschiedlich ausgestaltet sind und zum Teil, abhängig von den jeweiligen politischen Mehrheitsverhältnissen, auch nur eine geringe Halbwertszeit aufweisen. So wurden beispielsweise die Verbote in Bayern zunächst mit Gesetz vom 22.7.2008 grundsätzlich als Straftatbestand ausgewiesen, mit Änderungsgesetz vom 22.4.2010 zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft und mit Gesetz vom 23.11.2015 erneut zu kriminellem Unrecht erhoben.32 Ein ähnliches Verfahren ist in Niedersachsen erfolgt.33

Bis auf Schleswig-Holstein sehen zurzeit das BVersG und alle Landesregelungen Straftatbestände vor, allerdings ist in Niedersachsen wie in Schleswig-Holstein der Ansatz der „Verwaltungsakzessorietät“ gewählt worden. Das heißt, erst die Missachtung eines auf den Einzelfall bezogenen Administrativaktes stellt ein ahndungsrelevantes Verhalten dar, das strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen ermöglicht, nicht das alleinige Tragen oder Mitführen der Gegenstände. Als Rechtsgrundlagen für erforderliche Verfügungen sind § 10 II NVersG bzw. § 17 II VersFG SH heranzuziehen.34

Schließlich ist auch die uneinheitliche Regelung des Verbots „bei sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel“, das heute nur noch durch die §§ 17a, 27 II BVersG, Art. 16, 20 II BayVersG und §§ 17, 28 II SächsVersG erfasst wird, nicht akzeptabel. Da im Falle einer landespezifischen Vollregelung ein lückenfüllender Rückgriff auf das BVersG ausscheidet,35 ist ein alternativer Ansatz geboten, zumal die versammlungsgesetzliche Lösung bereits in der Vergangenheit berechtigt als „systemwidrig“ abgelehnt wurde.36 Möglich ist die Aufnahme in das StGB oder OWiG. Daneben kommt aber auch eine Landesregelung nach dem Vorbild des BayLStVG in Betracht.37

 

3 Abschließender Befund

Zusammenfassend ist festzustellen, dass in den vorgenannten Rechtsgebieten zahlreiche unklare Regelungen bestehen, die den Willen der verfassten Gesetzgeber nicht eindeutig erkennen lassen. Die durch das BVerfG38 konkretisierten Vorgaben zum Bestimmtheitsgebot entsprechen nicht der legislatorischen Realität, so dass ein exekutives Handeln nach Gesetz und Recht im Sinne des Art. 20 III GG nur unter Vorbehalt möglich ist. Dadurch entstehen überflüssige Belastungssituationen für alle Beteiligten, denn normenklare Befugnisse sind sowohl im Interesse der Bürger als auch der Verwaltung von grundlegender Relevanz.

Eine Potenzierung dieser Problematik gilt durch höchst unterschiedliche sicherheitspolitische Ansätze, die gerade bei länderübergreifenden Einsatzlagen Wirkung entfalten. Ein wesentliches Ziel im freiheitlichen Rechtsstaat muss es indes sein, umfassende Rechtssicherheit zu gewährleisten. Neben der gebotenen Normenklarheit für das Eingriffshandeln im Einzelfall sind daher abgestimmte und unmittelbar an Musterschriften orientierte Regelungen zu fordern, die bundesweit einheitliche Sicherheitsstandards gewährleisten und einen größer werdenden „Flickenteppich“ verhindern.

Es geht um die Rechtssicherheit der Grundrechtsträger und der Polizei, und hier gerade um die besondere Ausgangslage bundesweit eingesetzter Einsatzkräfte wie die der Bereitschaftspolizei. Es kann nicht erwartet werden, dass die ohnehin schwierige Materie des hoheitlichen Eingriffsrechts für 16 unterschiedliche Länderregelungen gleichermaßen beherrscht wird. Insofern ist auf die Einsichtsfähigkeit der sicherheitspolitischen Verantwortungsträger zu hoffen, auch wenn eine durchgehende Verständigung wohl eher Wunschdenken bleiben dürfte.


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