Wissenschaft  und Forschung

Sexualdelinquenz

Eine kriminologisch-viktimologische Betrachtung

5 Opferrechte im Strafverfahren


Die Einbeziehung des Opfers in das Strafverfahren zeigt sich in der Normierung der Nebenklagerechte (§§ 395 ff. StPO), des Adhäsionsverfahrens (§§ 403 ff. StPO) und der sonstigen Befugnisse von Verletzten (§§ 406d ff. StPO), des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung (§ 46a StGB, §§ 153a, 155a, 155b StPO). Darüber hinaus wurde die Vernehmung kindlicher und jugendlicher Zeugen allein durch den Vorsitzenden in § 241a StPO sowie die Videovernehmung von Zeugen (§§ 58a, 168 e, 247a, 255a StPO) in Deutschland eingeführt. Sekundäre Viktimisierung soll dadurch verringert werden, dass das Opfer im Prozess nicht aussagen muss und die Videovernehmung in der Hauptversammlung gezeigt wird (§§ 247a, 255 StPO). Dieses ist jedoch nur möglich, wenn alle Verfahrensbeteiligten ihre Zustimmung erklären, welches nicht immer der Fall ist. Selbst wenn Opfer im Verfahren aussagen müssen, hat die Polizei die formalen Voraussetzungen für eine Entlastung des Opfers geschaffen, wenn der Verteidiger beteiligt wurde und von seinem Fragerecht Gebrauch machen konnte. Seit 2017 besteht für Kinder und Jugendliche sowie vergleichbare schutzbedürftige Personen, die Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten geworden sind, ein Rechtsanspruch auf kostenlose Psychosoziale Prozessbegleitung.24
Gemäß § 406i StPO sind Polizeibeamte verpflichtet, „Verletzte […] möglichst frühzeitig, regelmäßig schriftlich und soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache auf ihre aus den §§ 406d bis 406h StPO folgenden Befugnisse im Strafverfahren zu unterrichten […]“. Geschädigte sind insbesondere darauf hinzuweisen, dass sie eine Strafanzeige erstatten und einen Strafantrag stellen können. Sie haben das Recht auf Nebenklage (auf anwaltlichen Beistand, auf einen Dolmetscher), sie haben einen vermögensrechtlichen Anspruch, wenn ihnen ein Schaden entstanden ist, sie können Entschädigung für Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft und Gericht erhalten und sie können im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs Wiedergutmachung durch den Täter erlangen. Neben den gesetzlich normierten beschriebenen Rechten haben sich Möglichkeiten zur Verringerung sekundärer Viktimisierung etabliert, welche zumeist in Opferschutzkonzeptionen, wie z.B. Niedersächsische Opferschutzkonzeption, formuliert sind. Dazu gehören die Vermeidung von Schuld-/Verantwortungszuschreibung während der Vernehmung, die Vermittlung von Sicherheit, Verständnis sowie das Ernstnehmen des Opfers. Die Erstbefragung ist auf das Notwendigste (Wo ist der Tatort? Wann ist die Tat passiert? Welche Spuren können gesichert werden? Welche Täterhinweise gibt es? Welche Zeugen können Hinweise geben?) zu beschränken, d.h., es werden möglichst keine Einzelheiten zum Tatablauf erfragt. Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten. Auch bei der Schilderung unterschiedlicher Versionen sowie Nichtbeantwortung von Fragen ist ein sog. Vertrauensvorschuss zu gewähren, da Erinnerungslücken sowie die Ausblendung ganzer Tatanteile normal sein können. Polizeiliche Maßnahmen sind transparent zu machen, d.h. die Notwendigkeit von z.B. der Sicherung von Fingernagelabschnitten ist zu erläutern. Eine Vertrauensperson ist möglichst frühzeitig zu informieren und während der Vernehmung zuzulassen. Es ist möglichst ein Arzt nach Wahl zu kontaktieren, wenn keine Erste Hilfe nötig ist. Dem Opfer sind Informationen über den Ermittlungsstand zu gewähren. Darüber hinaus sollte eine Videovernehmung durch den Richter angestrebt werden, um Mehrfachvernehmungen möglichst zu vermeiden. Polizeibeamte sollen kompetent auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Hilfsangebote unterbreiten und an entsprechende örtliche Opferhilfe- und Beratungseinrichtungen vermitteln.25Für die Visualisierung der Informationen stehen das Merkblatt für Opfer einer Straftat, welches bundeseinheitlich herausgegeben wird und in über zwanzig Sprachen verfügbar ist,26 unterschiedliche Broschüren und Faltblätter sowie die Opferfibel (vgl. Abbildung) zur Verfügung. Exemplarisch wird an dieser Stelle auf die im März 2018 von der Polizei Sachsen herausgegebene 34-seitige Broschüre „Polizeilicher Opferschutz – Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene von Straftaten“27verwiesen. Polizeibeamte sollen das o.a. Merkblatt verständlich erläutern und die Opfer von Straftaten dadurch in die Lage versetzen, ihre Rechte im Strafverfahren wahrzunehmen. Der Zeitpunkt der Information ist gesetzlich nicht festlegt, diese soll jedoch möglichst frühzeitig erfolgen. In Mecklenburg-Vorpommern können die Informationen zusätzlich mittels QR-Code28erlangt werden.

In einigen Bundesländern wurden in den letzten Jahren Opferschutzbeauftragte (OSB) in die polizeilichen Strukturen implementiert, die jedoch vielfach administrative Aufgaben wahrnehmen. In der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern wurde eine polizeiliche Opferschutzkonzeption geschaffen, um die Opferbedürfnisse professionell zu berücksichtigen, die Vernetzung der am Strafverfahren beteiligten Stellen zu fördern, sekundäre Viktimisierungen zu verringern, Opferrechte zu stärken sowie die Opfer in die Lage zu versetzen, ihre Rechte im Strafverfahren wahrnehmen zu können. Die OSB nehmen in Fällen, in denen nach der Anzeigeerstattung/Viktimisierung eine Belehrung über die Opferrechte nicht sinnvoll erscheint, die Beratung vor. Es handelt sich um eine Lotsenfunktion, da auf Wunsch eine Weiterleitung an Beratungsstellen erfolgt. Darüber hinaus kann eine ausführliche Erläuterung der Opferrechte erfolgen. Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in der Ermittlungstätigkeit sollen in ihrer Arbeit unterstützt/entlastet werden. In Fällen, in denen die Informationen zu den Opferrechten erkennbar vom Opfer nicht aufgenommen werden und/oder umfassendere, speziellere Opferberatung notwendig erscheint, ist die/der Opferschutzbeauftragte in Kenntnis zu setzen. Das Opfer wird darüber informiert. Kann das Opfer die Rechte nicht eigenständig wahrnehmen, ist dafür Sorge zu tragen, dass die Angehörigen/Betreuungspersonen entsprechend in Kenntnis gesetzt werden. OSB nehmen ihre Tätigkeit als Schnittstellenfunktion zwischen der Sachbearbeitung und den Opferhilfeeinrichtungen wahr. OSB sollten möglichst nicht in das laufende Ermittlungsverfahren involviert sein, in dem sie beratend tätig werden. Die Vorteile dieser räumlich und zeitlich von der Sachbearbeitung getrennten Beratung sind darin zu sehen, dass das Opfer freiwillig zu einem Zeitpunkt seiner/ihrer Wahl die Beratung wahrnimmt. Der Ort ist ebenfalls wählbar und nicht zwingend an die Dienststelle gebunden. Die Trennung von Sachbearbeitung und Beratung wird ebenfalls als Vorteil gesehen, da die eingangs beschriebene Diskrepanz zwischen kriminalistischen Erfordernissen und Opferbedürfnissen verringert wird. In der Sachbearbeitung sind u.U. die Sicherung von Spuren und lange Zeugenvernehmungen vorausgegangen. Opfer sind erschöpft und können die Vielzahl von Informationen nicht aufnehmen. Die ausführliche Erläuterung der Opferrechte bzw. des Merkblatts für Opfer von Strafverfahren, die Informationen über Beratungsstellen, Unterstützungsmöglichkeiten sowie die Aufgabenverteilung der verschiedenen Professionen sollen in dem Gespräch gelingen. Damit sollen eine zuverlässige Betreuung des Opfers erreicht, Wege aufgezeigt werden wie z.B. Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz, Vermittlung an einen Opferanwalt, Stellung eines Antrags auf psychosoziale Prozessbegleitung und auf Wunsch wird das Opfer an eine Opferhilfeeinrichtung zur weiteren Unterstützung vermittelt. Eine Person des Vertrauens ist im Beratungsgespräch selbstverständlich willkommen, d.h. das Opfer kann sich von einer Person ihrer/seiner Wahl begleiten lassen. Polizeiliche Sachbearbeiter werden entlastet, da es ihnen möglich ist, in geeigneten Fällen auf kompetente Opferberater zu verweisen und an diese zu vermitteln. Polizeiliche Sachbearbeiter werden entlastet, da es ihnen möglich ist, in geeigneten Fällen auf kompetente Opferberater zu verweisen und an diese zu vermitteln. Die Polizei strebt eine systemische Verbesserung der Hilfen für Kriminalitätsopfer an. Es bestehen in vielen Inspektionen Kooperationsvereinbarungen zwischen der Polizei und Opferhilfe, wonach zeitnah und pro-aktiv auf Wunsch des Opfers unmittelbar nach dem polizeilichen Erstkontakt Hilfsangebote unterbreitet werden. Das Bedürfnis des Opfers nach einer zuverlässigen Betreuung ist in der Phase nach der Tat am stärksten ausgeprägt. Die polizeiliche Erstberatung der Geschädigten sollte jedoch nicht in der sog. Schockphase stattfinden, wenn Opfer noch unter dem Eindruck der Tat stehen. Durch das Angebot eines polizeilichen Beratungsgespräches steht es dem Opfer frei, dieses anzunehmen. Durch die telefonische Erreichbarkeit kann das Opfer den Zeitpunkt der Beratung bestimmen und damit Kontrolle erlangen. Damit wird dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung entsprochen. Bereits im Beratungsgespräch mit dem/der OSB kann eine Weitervermittlung des Opfers sowie der Angehörigen an die jeweilige Beratungsstelle erfolgen.