Wissenschaft  und Forschung

Sexualdelinquenz

Eine kriminologisch-viktimologische Betrachtung

4 Polizeilicher Umgang mit Opfern von Sexualdelikten


Wenn das Opfer sich zu einer Anzeigeerstattung entscheidet und die Polizei kontaktiert, sollten die Beamten nach dem sog. „TEE-Modell“ agieren, welches die Elemente Transparenz der Maßnahmen, Empathie und das Opfer ernst nehmen sowie Sicherheit und Vertrauen beinhaltet. Dieses Modell wird in der folgenden Abbildung veranschaulicht:

Abb.: „TEE-Modell“ zur Berücksichtigung der Opferbedürfnisse

Polizeibeamte sollten bei der Anzeigeerstattung mit Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung (Empathie) agieren. Dazu gehört, dass die Erstbefragung nur auf notwendige Fragen beschränkt wird (Tatzeit, Tatort, Personalien des Opfers, Informationen zum Tatverdächtigen). Mehrfachbefragungen sollten unterbleiben. Die Beamten agieren mit Vertrauensvorschuss, d.h. zunächst werden keine Zweifel an dem geschilderten Tatablauf geäußert (Ernstnehmen/Vertrauen). Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten und die Fachdienststelle ist unverzüglich zu benachrichtigen. Die Erstversorgung des Opfers ist möglichst durch einen Arzt nach Wahl durchzuführen. Bei der Spurensicherung ist möglichst die Opferambulanz/Rechtsmedizin aufzusuchen13. Das Opfer wird von der Polizei begleitet (Sicherheit). Die Erforderlichkeit kriminalistischer Maßnahmen, wie z.B. die Sicherung von Fingernägeln, Fertigung von Fotos, ist ausführlich zu erläutern (Transparenz). Fotoaufnahmen von Genitalbereich haben zu unterbleiben, die Fotos von den Verletzungen des Opfers sind in einem Umschlag in die Ermittlungsakte zu geben. Eine Täterwiedererkennung sollte möglichst durch eine sequentielle Videowahlgegenüberstellung erfolgen, da das Ausmaß der sekundären Viktimisierung dadurch verringert wird. Eine Begegnung von Täter und Opfer ist zu vermeiden (Sicherheit). Polizeibeamte sollten sich spurenschützend verhalten und nicht als Sekundärspurenüberträger fungieren, d.h. die Beamten, die Kontakt zum Opfer haben, halten sich vom Tatverdächtigen fern und umgekehrt. Die Staatsanwaltschaft sollte möglichst frühzeitig benachrichtigt werden. Während der Vernehmung des Opfers sollte möglichst eine störungsfreie Vernehmungssituation geschaffen werden und die Durchführung durch eine/-n gleichgeschlechtliche/-n Beamtin/Beamten angeboten werden. Gem. § 58 StPO sind Opferzeugen einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen. Opfer von Sexualstraften können sich gem. § 406f StPO des Beistandes eines Rechtsanwaltes bedienen oder sich vertreten lassen; die Anwesenheit des Rechtsbeistandes bei der Vernehmung des Verletzten ist gestattet. Darüber hinaus ist eine Vertrauensperson bei der Vernehmung zuzulassen. Die Belehrungen sind entsprechend des Bildungsstands und der Auffassungsgabe des Zeugen zu erklären (Transparenz).14 Bei minderjährigen Zeugen müssen die Erklärungen dem geistigen Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen angepasst sein. Der gesetzliche Vertreter hat ein Anwesenheitsrecht und ist ebenfalls zu belehren. Versteht ein Minderjähriger die Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht, darf die Vernehmung nur durchgeführt werden, wenn Aussagebereitschaft besteht und der gesetzliche Vertreter zustimmt.15 Das Recht auf Anwesenheit des gesetzlichen Vertreters erlischt, wenn dieser beschuldigt wird und das Kind als Zeuge gegen den gesetzlichen Vertreter aussagen soll. In der Regel wird dann eine Ergänzungspflegschaft erforderlich. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft bestellt das Familiengericht einen Ergänzungspfleger, der die Entscheidung über die Ausübung über das Zeugnisverweigerungsrecht zum Wohl des Kindes trifft. In den Fällen, in denen das Kind aussagen will und der gesetzliche Vertreter ist nicht einverstanden, hat eine Vernehmung zu unterbleiben. Ebenso wenn das Kind entgegen der Auffassung des gesetzlichen Vertreters nicht aussagen will.16 Dem/der Zeugen/-in wird weiterhin erklärt, dass er sich eines anwaltlichen Beistands bedienen kann (§ 68b (1) StPO). Weiterhin ist auf die Möglichkeit der psychosozialen Prozessbegleitung hinzuweisen (§ 406g (1) StPO) sowie deren Beiordnung gem. § 397a (1) Nr. 4 und 5 StPO sowie § 397a (1) Nr. 1-3 StPO, wenn die besondere Schutzwürdigkeit des Verletzten dies erfordert. Eine besondere Schutzbedürftigkeit von Personen (§ 48 Abs. 3 StPO) ist in der Regel anzunehmen bei Minderjährigen als Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten, Menschen mit Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen, Betroffenen von Sexualstraftaten sowie vorurteilsmotivierten Gewalttaten, Hasskriminalität und Menschenhandel. Anschließend erfolgt die Vernehmung zur Sache, d.h. der/die Zeuge/-in wird aufgefordert, das, was ihm/ihr von der Sache bekannt ist, im Zusammenhang zu erzählen (§ 69 StPO). Darüber hinaus stellt der Vernehmer in der Regel weitere Fragen zum Sachverhalt. Die Atmosphäre sollte frei von Vorwürfen und unbegründetem Misstrauen sein. Selbst wenn das Opfer nach Ansicht der vernehmenden Person leichtsinnig gehandelt hat oder die Tat begünstig hat, verbieten sich Fragen wie z.B. „Warum sind Sie in die Wohnung gegangen?, Warum kommen Sie erst jetzt zur Polizei?“ (Vertrauen).17 Derartige Vorhalte sind überflüssig, zumal sich die Opfer zumeist selbst Vorwürfe machen. Zeugen, die durch die Straftat verletzt sind, wird Gelegenheit gegeben, sich zu den Auswirkungen und Folgen der Tat zu äußern (§ 69 (2) StPO). Diese Regelung wurde 2013 eingeführt, zeigt sich jedoch bei näherer Betrachtung redundant, da die Erfragung der physischen und psychischen Folgen der Tat schon immer Bestandteil einer Opfervernehmung war. Die explizite Normierung scheint deklaratorisch.18 In den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren heißt es dazu „Alle Umstände, die für die Strafbemessung […] von Bedeutung sein können, sind schon im vorbereitenden Verfahren aufzuklären.“19 Ein weiteres Ziel der Vernehmung ist es, einzelne Taten herauszuarbeiten. Nach dem Wegfall des Fortsetzungszusammenhangs lt. BGH-Rechtsprechung ist es erforderlich, konkrete Tatzeiten zu ermitteln. Dazu werden z.B. Umzüge, Schulbesuche, Geburten, Urlaube pp. zur Rekonstruktion der Abläufe genutzt. Ebenso bedeutsam ist die Feststellung von sog. „Frühaussagen“, d.h., es wird auf Tagebuchaufzeichnungen, Briefe u.ä. sowie Äußerungen gegenüber Dritten (Zeugen vom Hörensagen, z.B. Freunde, Lehrer sowie andere Personen des Vertrauens) zurückgegriffen. In Einzelfällen erscheinen Zeugen, die der deutschen Sprache nicht oder nur unzureichend mächtig sind, in Begleitung von Familienangehörigen und/oder Bekannten als Kommunikationsunterstützung. Für die erste Befragung ist die Inanspruchnahme durchaus gängig, für Zeugenvernehmungen ist ein Dolmetscher jedoch zwingend hinzuzuziehen.20Die gesetzliche Regelung für die Unterrichtung, dass ein Dolmetscher in Anspruch genommen werden kann, findet sich in § 406i (1) Nr. 2 b StPO. Die Dokumentation der Zeugenvernehmung erfolgt in der Regel schriftlich, sie kann audiovisuell aufgezeichnet werden. Die Dokumentation der Belehrung sollte möglichst authentisch erfolgen, d.h. die Belehrung sollte wortwörtlich aufgezeichnet werden und nicht mittels Rückgriff auf ein Formular.21 Die Vernehmung eines Zeugen ist gem. § 58a (1) StPO auf Bild-Ton-Träger aufzuzeichnen, wenn die Aufzeichnung aufgrund des schweren Tatvorwurfs oder der schwierigen Sachlage geboten erscheint, die schutzwürdigen Interessen des Zeugen, insbesondere von Personen unter 18 Jahren, die als Kinder oder Jugendliche Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen das Leben, einer Misshandlung von Schutzbefohlenen oder einer Straftat gegen die persönliche Freiheit (§ 255a (2) StPO) wurden oder es sich um Personen mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder seelischen Störungen handelt. Zeugen sind besonders schutzbedürftig in diesem Sinne, wenn aufgrund der Art der vorgefallenen Tat und des nochmaligen Durchlebens der Tat im Rahmen der Vernehmung eine mehrfache Wiederholung der Aussage bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht vermieden werden soll. In diesem Fall sollte die Videovernehmung möglichst durch den Richter erfolgen, um dem Zeugen eine nochmalige Vernehmung zu ersparen und eine spätere Einführung der Vernehmung in die Hauptverhandlung zu ermöglichen. Die Vorschrift wird durch § 255a StPO ergänzt, der die Voraussetzungen des Transfers der Videovernehmung in die Hauptverhandlung ausgestaltet und in Abs. 2 die Möglichkeit des Verzichts auf eine Vernehmung von Minderjährigen in der Hauptverhandlung normiert, wenn eine richterliche Videovernehmung durchgeführt wurde und der Angeklagte und sein Verteidiger die Möglichkeit hatten, an dieser mitzuwirken. In der Praxis findet die Tonband- und Videovernehmung noch immer zu selten Anwendung.22 Wenn vernommene Zeugen um die Aushändigung einer Kopie des Vernehmungsprotokolls bitten, handelt es sich rechtlich um eine Akteneinsicht und die Entscheidung darüber obliegt grundsätzlich der Staatanwaltschaft. Die Aushändigung ist somit nach Einwilligung durch den Staatsanwalt möglich, obwohl es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung dazu gibt.23 Nach Abschluss der Vernehmung/Spurensicherung ist das Opfer an Angehörige oder Personen des Vertrauens zu übergeben. Es sollte auf eine wertfreie Darstellung in der Presse geachtet werden. Darüber hinaus werden Opfer ausführlich über die Rechte im Strafverfahren aufgeklärt. Diese werden nachfolgend beschrieben.