„Mainzer Initiative Qualifizierte Leichenschau“

Gespräch mit EKHK Bernd Becker, stellvertretender GdP-Vorsitzender des Landes Rheinland-Pfalz


Seit vielen Jahren verfolgt die rheinland-pfälzische GdP – insbesondere der Fachausschuss Kriminalpolizei und der für Kriminalpolitik zuständige Vize-Landesvorsitzende Bernd Becker – das Ziel, die ärztliche Leichenschau zu professionalisieren. Die Leichenschau soll nur durch besonders qualifizierte und amtlich verpflichtete Ärztinnen und Ärzte durchgeführt werden. Hintergrund der Bemühungen der GdP ist die wissenschaftlich gestützte Annahme, dass in nicht unerheblicher Zahl nichtnatürliche Todesfälle unentdeckt bleiben. Im auslaufenden Jahr 2018 und in den ersten Monaten des Jahres 2019 ist es der GdP Rheinland-Pfalz gelungen, das journalistische und damit öffentliche Interesse am Thema Leichenschau erneut zu wecken. TV-Beiträge und die Behandlung des Themas in den Printmedien waren die Folge.

Ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt


Was ist neu? Die GdP hat sich mit der Leiterin der Rechtsmedizin an der Universitätsklinik in Mainz, Prof. Dr. Tanja Germerott, und dem Chef des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen, Dr. Dietmar Hoffmann, zur „Mainzer Initiative Qualifizierte Leichenschau“ zusammengefunden. Das Zweckbündnis kann einen ersten Erfolg verzeichnen: Bei einem Treffen im Mainzer Gesundheitsministerium – gemeinsam mit dem Präsidenten der Landesärztekammer Dr. Günther Matheis – hat Staatssekretär Dr. Alexander Wilhelm die Einrichtung einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe angekündigt, die nach der Sommerpause ihre Arbeit aufnehmen soll. Die AG soll zuerst Optimierungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle von Rechtsänderungen identifizieren. Auf Wunsch des Staatssekretärs sollen – neben den Vertretern der vier betroffenen Ressorts (Gesundheit, Innen, Justiz und Wissenschaft) – die Initiatoren (Germerott, Hoffmann, Becker) sowie der Präsident der Landesärztekammer in der AG mitwirken.

Forum der GdP im Herbst


Die GdP Rheinland-Pfalz begrüßt diese Maßnahme der Landesregierung außerordentlich, macht aber mit ihren eigenen Überlegungen vor Rechts- und Finanzierungsfragen nicht Halt, was im Übrigen den einschlägigen Beschlüssen mehrerer GdP-Bundeskongresse entspricht. Die jahrelange Befassung mit dem Thema und die Suche nach guten Praxisbeispielen haben beim KriPo-Fachausschuss die Überzeugung wachsen lassen, dass die Rechtslage und die Arbeitsweise in anderen europäischen Staaten, wie z.B. in Österreich, für ein Flächenland wie Rheinland-Pfalz beispielgebend sein könnten. Diese These soll am 15. Oktober 2019 in einem GdP-KriPo-FORUMauf den Prüfstand gestellt und über Entwicklungsoptionen für Rheinland-Pfalz diskutiert werden. Unter anderem werden Referenten aus Österreich als Diskussionspartner zur Verfügung stehen. Die Bedeutung der Veranstaltung wird durch die zugesagte Teilnahme von Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler unterstrichen.

Im Gespräch mit der Redaktion „Kriminalpolizei“

Unser Redakteur Kriminaldirektor Frank Wimmel, zugleichfrisch gewählter Vorsitzender des Fachausschusses Kriminalpolizei der GdP Rheinland-Pfalz, führte ein Gespräch mit Bernd Becker über Ziele und Hintergründe der beschriebenen Initiative:

Kriminalpolizei: In Rheinland-Pfalz sollen jedes Jahr bis zu 50 Tötungsdelikte unentdeckt bleiben, behauptet die GdP. Ist das wissenschaftlich belegbar?

Becker: Seit vielen Jahren schätzt die Wissenschaft, dass in Deutschland jedes Jahr ca. 3.000 nichtnatürliche Todesfälle unentdeckt bleiben, davon ca. 1.200 Tötungsdelikte. Es gibt auch Schätzungen, die viel höher sind. Wenn man auf diese Zahl den Königsteiner Schlüssel anwendet, kommt man für Rheinland-Pfalz auf etwa 150 Fälle, davon ca. 50 bis 60 Tötungsdelikte. Das ist nur eine Annahme auf der Basis vorliegender Studien.

Kriminalpolizei: Das ist also keine Statistik auf Basis von Zählungen?

Becker Nein, woher auch. Es werden ja nur die Fälle bekannt, die um ein Haar nicht bekanntgeworden wären. Die alltäglichen und allnächtlichen Wahrnehmungen vieler Kolleginnen und Kollegen entsprechen der wissenschaftlichen Einschätzung. Mein persönliches Schlüsselerlebnis war ein Telefonat mit einem Mediziner, der einige Stunden nach der missglückten Leichenschau sein Gewissen erleichterte. Ich konnte die zuständigen Kollegen verständigen, die dann das Mordopfer – mitsamt Strangulationsfurche am Hals – noch vorfanden und die später als Mörderin verurteilte Frau festnahmen. Auf die medienwirksamen Fälle in Pflegeeinrichtungen sei an dieser Stelle hingewiesen. Die Existenz des Problems kann niemand mehr ernsthaft bezweifeln. Es ist letztlich auch nicht entscheidend, ob 5, 50 oder 150 Tötungsdelikte unerkannt bleiben. Eines wäre schon zu viel.

Kriminalpolizei: Gibt es weitere Gründe für eine Verbesserung der ärztlichen Leichenschau?

Becker:„Unentdeckte Morde“, das ist eine gern genommene Schlagzeile. Es gibt aber auch aus gesundheitspolitischer Sicht gute Gründe, die Leichenschau zu professionalisieren. Da geht es zum Beispiel um die korrekte Erhebung von Todesursachen oder das Erkennen von meldepflichtigen Krankheiten. Kein Forscher kann damit etwas anfangen, wenn in 80% der Fälle Herzstillstand als Todesursache angegeben wird.

Kriminalpolizei: Sehen Sie die Ursache bei den Ärztinnen und Ärzten?

Becker: Aber nein, Ärzte leisten Hervorragendes in ihren Fachgebieten. Es ist vielmehr so, dass das Gesetz und die Bestattungsverordnung von den Ärzten in zahllosen Fällen nahezu Unmögliches fordern. Jede Ärztin und jeder Arzt – also neben Fachärzten für Allgemeinmedizin z.B. auch Radiologen, Gynäkologen oder Laborärzte – ist berechtigt bzw. sogar verpflichtet, die Leichenschau an der entkleideten Leiche durchzuführen. So ist es z.B. hierzulande § 4 der Landesverordnung zur Durchführung des Bestattungsgesetzes zu entnehmen. Längst nicht jeder Arzt ist im erforderlichen Maße forensisch aus- oder fortgebildet. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, dass ein Arzt dabei an fachliche aber auch menschliche Grenzen stoßen kann. Stellen Sie sich vor, sie müssen mitten in der Nacht inmitten einer lautstark trauernden Großfamilie allein eine Leiche untersuchen. Der verstorbene Mensch muss entkleidet, gewendet, jeder Quadratzentimeter angeschaut und die Körperöffnungen untersucht werden.

Kriminalpolizei: Was gibt es also zu kritisieren?

Becker: Immer weniger, denn es gibt auch positive Entwicklungen. Ich habe mich zum Beispiel sehr darüber gefreut, dass in den Medien zu hören war, dass Ärztevertreter mittlerweile konstatieren, dass es zu Situationen der Überforderung kommen kann. Und noch mal: Das liegt nicht an dem einzelnen Arzt oder der Ärztin, sondern daran, dass die gesetzliche Regelung Unmögliches verlangt. Es muss Schluss damit sein, dass die Lücke zwischen Gesetz und Wirklichkeit auf dem Rücken der Ärzte geschlossen wird. Es geht darum, den Ärzten beizustehen. Es kann nicht jeder Arzt in jeder Situation eine korrekte Leichenschau durchführen. Das sagte schon 2008 in einer GdP-Veranstaltung Prof. Dr. Thomas Riepert von der Mainzer Rechtsmedizin.

Kriminalpolizei: Es gibt aber auch Vorwürfe von Ärzten gegen die Polizei. Es soll angeblich immer wieder vorkommen, dass Kollegen darauf drängen, einen natürlichen Tod zu bescheinigen, damit kein Todesermittlungsverfahren durchgeführt werden muss!?

Becker: Niemand kann für eine ganze Berufsgruppe die Hand ins Feuer legen. Das gilt für Ärzte, wie für Polizisten. Solche strittigen Fälle entstehen, wenn die Polizei aus irgendwelchen Gründen dazu gerufen wurde. Es geht dann oft um mangelnde Routine und unterschiedliche Vorstellungen beim Ausfüllen der Todesbescheinigungen. Es kann sehr wohl medizinisch unklar sein, woran ein Mensch gestorben ist. Darum geht es der Polizei aber nicht. Sie will nur wissen, ob es Hinweise auf eine nichtnatürliche Todesursache gibt, insbesondere auf Fremdverschulden. Zu solchen Unklarheiten würde es nicht kommen, wenn die Leichenschau von besonders qualifizierten und amtlich verpflichteten Ärzten mit Routine durchgeführt würde. Wenn ein solcher Arzt die Polizei verständigt, ist vollkommen klar, dass es Gründe für Todesermittlungen gibt. Die übrigens trotzdem mit der Feststellung „natürlicher Tod“ enden können.

Kriminalpolizei: Was ist also die Forderung der GdP?

Becker: Für das Entdecken nichtnatürlicher Todesfälle ist die ärztliche Leichenschau der erfolgskritische Punkt. Sie liegt zwangsläufig „vor“ einer eventuellen polizeilichen Ermittlung. Daraus folgt, dass die ärztliche Leichenschau durch einen hierfür besonders qualifizierten Arzt durchgeführt werden soll und zwar am Sterbe- oder Fundort, weil die Gesamtumstände ausschlaggebend dafür sein können, ob es Hinweise auf einen nichtnatürlichen Tod gibt. Im Idealfall werden die ärztliche und die polizeiliche Leichenschau dann gemeinsam durchgeführt; die Expertise beider Professionen käme so voll zur Wirkung.

Kriminalpolizei: Das sei zu teuer, wird als Gegenargument angeführt.

Becker: Im Kreis Mainz-Bingen und der Stadt Mainz gibt es etwa 4.300 Sterbefälle im Jahr. In über der Hälfte dieser Fälle wird eine zweite Leichenschau vor Feuerbestattungen durchgeführt, die entfallen könnte, wenn eine qualifizierte Leichenschau für alle Leichen obligatorisch wäre. Die Leichenschauen werden auch heute schon durch die Angehörigen oder die Versicherungen bezahlt, vollkommen unabhängig von der Qualität ihrer Durchführung. Das Problem besteht eher auf der Angebotsseite: Wo sollen geeignete Ärzte herkommen? Wer bietet die Fortbildung an? Wie wird das organisiert? Aber was woanders geht, sollte mittel- und langfristig auch bei uns möglich sein.

Kriminalpolizei: Was ist mit „woanders“ gemeint?

Becker: Nach jahrelanger Befassung mit dem Thema bin ich der Überzeugung, dass das österreichische Modell auf ein Flächenland wie Rheinland-Pfalz sehr gut passen würde. Dort werden die Großstädte durch die Rechtsmedizin bzw. das Gesundheitsamt abgedeckt und auf dem Land gibt es den sog. „Sprengelarzt“, der jede Leiche in seinem Bezirk qualifiziert beschaut und einer amtlichen Verpflichtung unterliegt. Ich bin mir sicher: Die allermeisten Ärzte wären heilfroh, wenn sie diese schwierige Aufgabe in die Hände eines solchen Experten geben könnten.

Kriminalpolizei: Rechtsmediziner beklagen, dass es in Deutschland weniger Obduktionen gibt als in vergleichbaren Staaten.

Becker: Dazu gibt es eigentlich nur diese Erklärung: Die bedenklich geringe Zahl von Obduktionen ist eine Folge unentdeckter Verdachtsfälle und das wiederum eine Folge nicht optimaler Leichenschauen. Das macht den Handlungsbedarf noch einmal deutlich.

Kriminalpolizei: Die Polizei würde mit Verdachtsfällen überhäuft – sagen Manche?

Becker: Und andere sagen: Was macht denn der Kriminaldauerdienst noch, wenn er nicht mehr zu Todesfällen gerufen wird, die sich als natürlich herausstellen? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Eines wäre aber klar: Wenn ein forensisch qualifizierter Arzt die Polizei verständigt, stehen akribische Todesermittlungen an. Meine These ist die: Die Zahl begründeter Todesermittlungen würde zunehmen und die Zahl unbegründeter Ermittlungen ließe wohl deutlich nach.

Kriminalpolizei: Und was muss jetzt passieren?

Becker: Wir freuen uns erst einmal darüber, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt wurde. Wenn sich in der Folge eine Gebietskörperschaft finden würde, in der ein Pilotmodell aufgesetzt würde, wäre das ein weiterer guter Schritt. Darüber hinaus empfehlen wir als Lektüre den Abschnitt „Totenbeschau“ des „Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetzes“. Darin ist Vieles sehr gut geregelt, von der Bestellung von Ärzten bis zur Mitwirkungspflicht behandelnder Ärzte oder Anstalten zum Beispiel. Eines ist mir noch ganz wichtig: Mit der Einführung muss auch in der Gemeinschaft rechtstreuer Bürgerinnen und Bürger um Verständnis und Akzeptanz geworben werden.