Sexuelle Gewalt gegen Jungen und Männner

Epidemiologie, Spätfolgen, Opfer-Täter-Transition


Von Prof. Dr. Herbert Csef, Würzburg1

1 Missbrauch-Skandale im Jahr 2010


Im Jahr 2010 wurde Deutschland durch eine ganze Welle von Missbrauch-Skandalen an Jungen überschwemmt. Fast täglich tauchten skandalöse Berichte in den Medien darüber auf. Die Tatorte waren kirchliche Internate und die Odenwald-Schule. Berichte über sexuellen Missbrauch an Jungen im Jesuitenkolleg Canisius in Berlin lösten die Lawine aus. Es folgten Berichte über vergleichbare Vorfälle in St. Blasien im Schwarzwald, im Aloisius-Kolleg in Bonn und Werl. Dann stand das große und bekannte Kloster Ettal mit Missbrauchsberichten im Rampenlicht. Es folgten Enthüllungen über Missbrauch in kirchennahen Knabenchören, insbesondere bei den Regensburger Domspatzen. Nachdem lange Zeit katholische Internate als Brutstätte sexuellen Missbrauchs im Mittelpunkt standen, kam mit der Odenwald-Schule eine Einrichtung der modernen Reformpädagogik als Tatort ins Gespräch.

Von Monat zu Monat stieg die Zahl der missbrauchten Opfer ebenso wie die als Zahl verdächtigten Lehrer. Schließlich wurden die beiden Juristinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann mit einer Untersuchung beauftragt. In ihrem Abschlussbericht ist von mindestens 132 missbrauchten Schülern die Rede. Der sexuelle Missbrauch soll zwischen 1965 und 1998 stattgefunden haben.2 Strafrechtlich waren mittlerweile die Missbrauchsfälle alle verjährt und die Haupttäter Gerold Becker und Wolfgang Held verstorben. Die Missbrauchsopfer aus den genannten Missbrauchs-Skandalen waren überwiegend männlich. Der sexuelle Missbrauch ist meist im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren erfolgt. Fast alle aufgedeckten Fälle waren strafrechtlich verjährt. Sie lagen teilweise dreißig bis vierzig Jahre zurück. Die Flut der Enthüllungen im Jahr 2010 und die damit verbundenen Missbrauch-Skandale haben einige bislang verbreitete Legenden und Mythen schonungslos revidiert: Die Legende, dass es sich bei Missbrauch von Jungen um Einzelfälle handelt, wurde drastisch widerlegt. Der lange verbreitete Mythos, dass beim sexuellen Missbrauch der Täter männlich und das Opfer weiblich ist, wurde ebenfalls massiv relativiert. Neuere Forschungsergebnisse zur Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs bestätigen diese neue Sichtweise.

2 Das bittere Lehrstück aus Staufen: Der jahrelange sexuelle Missbrauch eines Jungen


Im Jahr 2018 beschäftigte ein sehr außergewöhnlicher und spektakulärer Missbrauchsfall die Öffentlichkeit, bei dem auch die kriminalpolizeilichen Ermittlungen eine wesentliche Rolle spielten. Es handelt sich um den Missbrauchsfall aus Staufen. Anfang 2015 lernten sich die 56 Jahre alte alleinerziehende Mutter Berrin T. und der 37-jährige Christian L. kennen. Christian L. ist vorbestrafter Sexualtäter. Er wurde im Jahr 2010 vom Landgericht Freiburg wegen sexuellen Missbrauchs einer 13-jährigen in 23 Fällen zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Bereits fünf Jahre zuvor hatte er eine Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von Kinderpornographie. Kurz nach der Entlassung aus dem Gefängnis lernte er Berrin T. kennen, die Mutter eines damals siebenjährigen Sohnes. Bei der Entlassung aus der Haft wurde Christian L. für fünf Jahre einer Bewährungsaufsicht beim Landgericht Freiburg unterstellt. Er hatte verschiedene Weisungen und Verbote einzuhalten, insbesondere das Verbot, zu Personen unter achtzehn Jahren Kontakt aufzunehmen, mit ihnen zu verkehren, sie zu beherbergen, zu beschäftigen oder auszubilden. Nur in Anwesenheit des jeweiligen Sorgeberechtigten des Kindes oder Jugendlichen sei Kontakt erlaubt. Für die Überwachung dieser Verbote und Weisungen hatten die Führungsaufsicht am Landgericht, die Polizei, die Bewährungshilfe und eine forensische Ambulanz zu sorgen. Christian L. verstieß gegen alle Weisungen und Verbote. Mitte 2015 zog er in die Wohnung von Berrin T. ein. Schon bald begann der sexuelle Missbrauch des damals siebenjährigen Jungen. Der Junge wurde von der Mutter selbst, ihrem Lebensgefährten Christian L. und von vielen anderen Männern sexuell missbraucht, vergewaltigt, verkauft, erniedrigt, geschlagen, gefilmt und gedemütigt. Einer der führenden deutschen Experten für sexuellen Missbrauch, Prof. Jörg Fegert von der Universität Ulm, sagte in einem Interview: „Dieser Fall ist in seiner kriminellen Grausamkeit einmalig“.3 Was besonders bitter ist, ist die Tatsache, dass die zuständige Bewährungshelferin bereits 2016 dem Landgericht Freiburg, das für die Führungsaufsicht zuständig war, mitteilte, dass Christian L. den Auflagen und Verboten zuwiderhandelte. Nach einem Bericht in der Badischen Zeitung (Wulf Rüskamp vom 28.2.2018) hat die Bewährungshelferin am 27. September 2016, am 9. Januar 2017 und am 8. Februar 2017 entsprechende Hinweise dem Landgericht gegeben.4 Eine adäquate Reaktion blieb aus. Verhaftet wurde Christian L. schließlich am 16. September 2017, also etwa ein Jahr nach den ersten Hinweisen der Bewährungshelferin. In dem derzeit laufenden Strafverfahren wurden 58 Einzeltaten festgestellt, die vorzulesen, mehr als 100 Minuten dauerte. Allein ein Täter aus Spanien hat den Junge fünfzehnmal schwer missbraucht und dafür insgesamt etwa 60.000 Euro bezahlt.5 Im Bericht von Ralf Wiegand zu dem Staufener Fall taucht viermal der Begriff „blinder Fleck“ auf.6 Wiederholt ist von Behördenversagen und Versäumnissen der Ämter die Rede. Hätte das für die Führungsaufsicht zuständige Landgericht bereits bei den ersten Hinweisen der Bewährungshelferin adäquat reagiert, wären dem damals achtjährigen Jungen ein Jahr lang qualvolle Missetaten erspart geblieben. Wer übernimmt hierfür die Verantwortung? Im bereits erwähnten Interview sagt der Missbrauchsexperte Jörg Fegert: „Bei repräsentativen Befragungen gibt ein Drittel an, in der Kindheit vernachlässigt, missbraucht oder misshandelt worden zu sein. Darauf sind weder Krankenhäuser, noch Schulen oder die Jugendhilfe eingestellt; die Familiengerichte schon gar nicht.“7 Fegert fordert vor allem verpflichtende Fortbildungen für Richter an Familiengerichten. Die Rettung des mittlerweile neun Jahre alten missbrauchten Jungen ist schließlich den Kriminalbeamten des Landeskriminalamtes zu verdanken. Sie verfolgten die Aktivitäten von Christian L. im Internet und haben ihn schließlich im September 2017 verhaftet.

Ein wesentlicher „blinder Fleck“ bestand sicherlich darin, dass wohl viele verantwortliche und beteiligte Akteure bei Gericht, Jugendamt und Polizei „nicht am Schirm hatten“, dass die Mutter selbst Mittäterin sein könnte. Sie haben lange Zeit der Mutter geglaubt, obwohl diese Täterin war, aus den schrecklichen Missbrauchstaten Vorteile hatte und an der Fortsetzung des Missbrauchs interessiert war. Alle Berufe und professionelle Helfer, die potenziell mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen besser ausgebildet und fortgebildet werden, damit diese „blinde Flecken“ nicht solch verheerende Folgen haben. Der bekannte Trauma-Experte Peter Riedesser sprach in diesem Zusammenhang von einer „professionellen Trauma-Blindheit“. Der außergewöhnliche Missbrauchsfall von Staufen hat eine weitere Besonderheit: Der mutmaßliche Täter Christian L. ist nach seinen Angaben selbst sexuell missbraucht worden. Er sei selbst bei einer Vergewaltigung gezeugt worden und später als Kind sexuell missbraucht worden. Aus forensischer Perspektive liegt eine Opfer-Täter-Transition vor: aus dem kindlichen Missbrauchsopfer wurde ein erwachsener Sexualstraftäter.

3 Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs


Da es sich beim sexuellen Missbrauch um eine Straftat handelt, sind verlässliche Daten zur Epidemiologie schwer zu gewinnen. Dunkelfeld – und Hellfeld – Analysen aus kriminologischer Sicht liefern andere Zahlen als direkte Befragungen bei der Allgemeinbevölkerung oder bei bestimmten Risikogruppen. Umfragen in Internaten oder Schulen bringen wiederum andere Ergebnisse. Die Auswertung einer Vielzahl methodisch guter Studien, sorgfältige Metaanalysen und internationale Vergleiche ergeben jedoch durchaus aussagekräftige Werte. Lange Zeit galt für Deutschland eine Untersuchung des kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen aus dem Jahre 1992 richtungsweisend. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von 1 661 Frauen und 1580 Männern. Sexueller Missbrauch lag bei 18,1 Prozent der Frauen und bei 7,3 Prozent der Männer vor.8 Fast zwanzig Jahre später beauftragte die Weltgesundheitsorganisation WHO eine europäische Forschergruppe zu einem „European Report“ über Häufigkeits- und Präventionsstrategien bei sexuellem Missbrauch. In dieser Untersuchung ergab sich für europäische Frauen eine Prävalenzrate von 13,4 Prozent und für europäische Männer von 5,7 Prozent.9Um die weltweite Prävalenz von sexuellem Kindesmissbrauch und einen internationalen Vergleich zu ermöglichen, hat die Arbeitsgruppe um Stoltenborgh eine aufwendige Metaanalyse hierzu angefertigt. Sie wertete mehr als 300 Studien zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch weltweit aus. Die Durchschnittswerte sind etwas höher als jene vom European Report der WHO: Die Prävalenzrate für Frauen betrug 18 Prozent, für Männer 7,6 Prozent.10

Nach den zahlreichen Missbrauchsskandalen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2010 beschloss die Bundesregierung, einen „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) zu ernennen. Hierfür wurde im Auftrag der Bundesregierung ab März 2010 die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann beauftragt. In dieser Funktion folgte ihr im Oktober 2011 der Jurist Johannes-Wilhelm Röhrig, der am 26. März 2014 für weitere fünf Jahre berufen wurde. Dem „Unabhängigen Beauftragten“ sind 32 Expertinnen und Experten zum sexuellen Kindesmissbrauch beigeordnet. Der „UBSKM“ gab eine Untersuchung zu „Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch“ in Auftrag. Diese wurde von einer Expertengruppe im Jahr 201611 veröffentlicht und brachte vergleichbare Ergebnisse wie die European Report von Sethi et al 2013. Eine alters- und geschlechtsadaptierte Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung ergibt für Deutschland etwa 2,5 Millionen Männer mit erlebtem sexuellem Missbrauch in der Kindheit.

4 Neuere Forschungsergebnisse zu den Spätfolgen


Eine weitere wichtige Frage für die vorliegende Untersuchung ist jene nach den Spätfolgen von sexuellem Missbrauch bei Jungen und Jugendlichen im Erwachsenenalter sowie die Frage, ob beim männlichen Geschlecht andere Verarbeitungsmuster und Spätfolgen auftreten als beim weiblichen Geschlecht. Beim sexuellen Missbrauch – ähnlich wie bei anderen Traumata – sind folgende Spätfolgen in Betracht zu ziehen:12

  • Entwicklung des Vollbildes einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“
  • Entwicklung einer meist langdauernden „komplexen Traumafolgestörung“
  • Manifestation von anderen psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
  • Ein geringer Prozentsatz bleibt symptomfrei oder erlebt durch günstige protektive und resiliente Faktoren eine Spontanremission

Die Arbeitsgruppe von Prof. Jörg M. Fegert, einem der führenden Experten für sexuellen Missbrauch in Deutschland, hat kürzlich eine Untersuchung zu den Spätfolgen oder Auswirkungen von sexuellem Missbrauch vorgelegt.13 Bei der Auswertung der aktuellen Forschungsliteratur ergab sich, dass bei 95,1 Prozent der Opfer von sexuellem Missbrauch irgendeine Form einer psychischen Erkrankung nachweisbar sind.14 Norman et al werteten 124 Studien zu Spätfolgen von sexuellem Missbrauch aus. In ihrer Metaanalyse kamen sie zu dem Ergebnis, dass eine „robuste Evidenz“ für Depressionen, Angststörungen, Suizidversuche, Drogenkonsum, sexuell übertragbare Krankheiten und riskantes Sexualverhalten als Folge von sexuellem Missbrauch besteht. In dieser Untersuchung wurde die Posttraumatische Belastungsstörung den Angststörungen zugeordnet.15 In einer neueren Arbeit von Drobetz und Schellong wird postuliert, dass es „geschlechtsspezifische Viktimisierungs-, Verarbeitungs- und Verdrängungsmechanismen gibt“. Danach würden weibliche Opfer von sexuellem Missbrauch verstärkt zu Depressionen, Ängsten, Selbstverletzungen und Reviktimisierungen neigen. „Jungen zeigen hingegen tendenziell eher externalisierende Verhaltensmuster wie aggressives Verhalten, Delinquenz, riskantes Verhalten, Ausübung von Gewalt gegenüber Schwächeren. Ferner kann es zu einer Identifikation mit dem Täter kommen und Opfer werden später oft selbst zu Tätern“.16

5 Aus Opfern werden oft Täter – hohes Risiko der Opfer-Täter-Transition


In der Forensischen Psychiatrie ist seit Jahrzehnten bekannt, dass Straftäter mit Gewalt- und Sexualdelikten oft selbst in der Kindheit Opfer von Gewalt oder sexuellem Missbrauch waren. In Strafverfahren vor Gericht kommt es meist zu einer ausführlichen Begutachtung durch einen erfahrenen forensischen Psychiater. Hier wird das Thema sexueller Missbrauch offensichtlich deutlich häufiger angesprochen als im alltäglichen klinischen Kontext der Psychotherapie und Psychiatrie. Der forensische Gutachter nimmt sich viel mehr Zeit für die Begutachtung und führt meist eine testpsychologische Untersuchung durch. Zudem sind die Gutachter für dieses Thema besonders geschult. Die forensische Psychiaterin Manuela Dudeck von der Universität Ulm hat sich diesem Thema besonders gewidmet. Sie kam in mehreren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass etwa 4 bis 12 % der als Kind missbrauchten Männer später selbst Sexualstraftaten begehen. Umgekehrt sind 12 bis 35 % der Sexualstraftäter als Kinder selbst sexuell missbraucht worden.17 Der Entwicklungsprozess vom Missbrauchsopfer zum Straftäter wird in der Forensischen Psychiatrie und Kriminologie unter dem Fachterminus „Opfer-Täter-Transition“ diskutiert.

6 Andreas Marquardt – vom sexuellen Missbrauch in den Teufelskreis der Gewalt


Andreas Marquardt (geb. 1956) ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen Mann, der als Kind sexuell missbraucht wurde, in den Teufelskreis der Gewalt geriet und schließlich eine lange Gefängnisstrafe abbüßen musste. Er ist in desolaten sozialen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater war gewalttätig und hat früh die Familie verlassen. Bereits vom siebten Lebensjahr an wurde er von der Mutter sexuell missbraucht. Die sexuellen Übergriffe präsentierte sie ihm quasi als „Unterricht“ und sagte zu ihm: „Ich zeige dir alles. Du wirst besser sein als Papa. Die Frauen werden sich nach dir verzehren, weil du ein ganz Lieber bist.“ In den ersten Jahren des Missbrauchs musste er die Mutter oral und mit Gegenständen befriedigen. Vom zwölften Lebensjahr an drängte ihn die Mutter fast täglich zum Geschlechtsverkehr. In seinem Buch18 kommentierte Marquardt dies wie folgt: „Sie hat mich in jede Technik eingeweiht, die es überhaupt gibt. Leider.“ Der inzestuöse Beischlaf mit der Mutter wurde von dem jungen Andreas als ekelhaft erlebt: „Ich habe mich danach fast jedes Mal erbrochen.“ Selbst die Großeltern, die wussten, dass der Jugendliche jede Nacht im Ehebett der Mutter schläft, tolerierten dieses Verhalten. Mit fünfzehn Jahren kam Andreas Marquardt zum Kampfsport. Er wurde später preisgekrönter Karatekämpfer. Nach acht Jahren sexuellem Missbrauchs durch die Mutter verließ er mit sechzehn Jahren die gemeinsame Wohnung. Das psychische Erbe, das er aus dieser beschädigten Kindheit mitgenommen hat, war eine grenzenlose Wut auf alle Frauen und ein Frauenhass. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Marquardt bald im Berliner Rotlicht-Milieu landete. Aufgrund seiner Kampfsportausbildung und seiner Gewaltbereitschaft wurde er von Zuhältern als Geldeintreiber eingesetzt. Mit fünfundzwanzig Jahren wurde er selbst zum Zuhälter. Mit seinen Huren ging er sehr brutal, skrupellos und gewalttätig um. Mit achtunddreißig Jahren wurde er wegen wiederholter schwerer Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Gefängnis führte er Gespräche mit mehreren Psychologen, die scheiterten. Schließlich traf er auf den Psychologen Jürgen Lemke, mit dem er eine gute Vertrauens- und Gesprächsbasis hatte. Mit ihm zusammen schrieb er auch im Jahre 2007 sein Buch19, quasi seine Autobiographie. Die Psychotherapie mit Jürgen Lemke führte zu einem Wendepunkt im Leben von Andreas Marquardt. Er konnte sich dauerhaft vom Rotlicht-Milieu und der Gewaltszene distanzieren. Bislang ist er fünfzehn Jahre ohne Rückfall geblieben. Er betreibt heute in Berlin ein Fitness-Studio. In diesem unterrichtet er unter anderem als Karatemeister Kinder in dieser Sportart. Er will sie stark machen, dass sie sich im Ernstfall auch wehren können und nicht ein Schicksal erleiden wie er selbst. Andreas Marquardt ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie ein kindliches Missbrauchsopfer zum Gewalttäter werden kann. Ihm ist nach einem langen Gefängnisaufenthalt eine Wandlung zur Gewaltfreiheit hin gelungen. Andreas Marquardt hat bewiesen, dass dies möglich ist – und dies ist eine Hoffnung für alle Straftäter, die sich für eine psychotherapeutische Behandlung öffnen und einlassen.

7 Herausforderungen für die Kriminalpolizei: Verbesserung der Aufdeckungsprozesse und der Prävention


Die Polizei erfüllt im Umgang mit dem Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs zahlreiche Aufgaben. Die Verhaftung des mutmaßlichen Straftäters bei vorliegendem Haftbefehl ist eine Aufgabe. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen zum Aufspüren von Sexualstraftätern ist eine weitere sehr wichtige Funktion. Die Kriminalbeamten des zuständigen Landeskriminalamtes waren im Missbrauchsfall von Staufen quasi die Retter des missbrauchten Jungen. Sie überführten über Internet-Recherchen und eine dem Täter gestellte Falle den Sexualstraftäter und verhafteten ihn. Gerade beim sexuellen Missbrauch an dem Jungen sind kriminalpolizeiliche Ermittlungen besonders wichtig, da hier etwa 60 % der Missbrauchsfälle im sozialen Nahraum verübt werden, während bei weiblichen Missbrauchsopfern der Großteil in der Familie geschieht. Tatorte für den sexuellen Missbrauch an Jungen sind oft Internate, Schulen, Sportvereine und andere Freizeitaktivitäten, in den Jungen ohne ihre Eltern mit irgendwelchen „Betreuern“ unterwegs sind. Da die betroffenen Jungen meist schweigen, sind Verdachtshinweise anderer Personen wichtig. Die Anforderung an die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit ist hier schwierig und erfordert viel Feingefühl und Sorgfalt. Im Forschungsprojekt „Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche.20 wurden zahlreiche wertvolle Handlungsempfehlungen zur Optimierung der Aufdeckungsprozesse vorgelegt. Ein Anliegen des vorliegenden Beitrags ist sicherlich die Betonung der Tatsache, dass sexueller Missbrauch von männlichen Kindern und Jugendlichen viel häufiger ist als gemeinhin geglaubt wird und dass vor allem in zehn bis 20 % der Fälle Mütter oder andere Frauen als Täterinnen in Frage kommen. Gerade die geschilderten Fälle von Andreas Marquardt und der Staufener Missbrauchsfall sind drastische Beispiele dafür, welch schreckliche Grausamkeiten fortbestehen, wenn hier etwas „übersehen“ wird.

Anmerkungen



  1. Prof. Dr. med. Herbert Csef ist Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Zentrum für Innere Medizin der Medizinischen Klinik und Poliklinik II in Würzburg. Korrespondenzadresse: [email protected].
  2. Burgsmüller, Claudia; Tilmann, Brigitte (2010): Abschlussbericht über die bisherigen Mitteilungen über sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010. Wiesbaden/Darmstadt, Dezember 2010.
  3. Fegert Jörg J (2018): Missbrauch „Staufen war nur die Spitze eines riesigen Eisberges“. Interview von Max Sprick. Süddeutsche Zeitung v. 11.6.2018.
  4. Rüskamp, Wulf (2018): Staufener Missbrauchsfall: Versäumnisse der Ämter sind offenkundig. Badische Zeitung vom 28.2.2018.
  5. Wiegand, Ralf (2018): Eine Mutter, die ihr Kind verkaufte. Süddeutsche Zeitung vom 11.6.2018.
  6. Wiegand, a.a.O. (EN 5).
  7. Fegert, a.a.O. (EN 3).
  8. Wetzels P. (1997): Zur Epidemiologie physischer und sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit. Ergebnisse einer repräsentativen retrospektiven Prävalenzstudie für die BRD. Hannover: KFN e.V.
  9. Sethi D, Bellis M, Hughes K, Gilbert R, Mitis F, Galea G (2003): European report on preventing child maltreatment. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe.
  10. Stoltenborgh M; Van IJzendoorn MH; Euser EM & Bakersmans-Kranenburg MJ (2011): A Gobal Perspective on Child Sexual Abuse: Meta-Analysis of Prevalence Around the World. Child Maltreatment. 16 (2). S. 79-101.
  11. Jud A; Rassenhofer M; Witt A; Münzer A & Fegert Jörg J (2016): Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch: internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs. UBSKM, Berlin.
  12. Fegert Jörg J; Rassenhofer Miriam; Schneider Thekla; Seitz Alexander; Spröber Nina (2013): Sexueller Kindesmissbrauch – Zeugnisse, Botschaften, Konsequenzen. Beltz Juventa, Weinheim/Basel; Dreßing Harald; Dölling Dieter; Hermann Dieter; Kruse Andreas; Schmitt Eric; Bannenberg Britta; Salize Hans-Joachim (2018): Sexueller Missbrauch von Kindern. Georg Thieme Verlag KG Stuttgart/New York.
  13. Plener PL; Ignatius A; Huber-Lang M; Fegert Jörg M (2017): Auswirkungen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter auf die psychische und physische Gesundheit im Erwachsenenalter. Nervenheilkunde 3/2017, S. 161-167.
  14. Plener; Ignatius; Huber-Lang; Fegert , a.a.O. (EN 13).
  15. Norman RE, Byambaa M, De R, Butchart A, Scott J, Vos T (2012): The long-term health consequences of child physical abuse, emotional abuse, and neglect: A systematic review and meta-analysis. PLoS Med 2012. 9:e1001349.
  16. Drobetz, Reinhard; Schellong, Julia (2014): Sexuelle Traumatisierung bei Jungen und Männern. Fakten und Implikationen. Psychotherapie im Dialog 1, S. 47-49.
  17. Dudeck M, Barnow S, Spitzer C, Stopsack M, Gillner M, Freyberger HJ (2006): Die Bedeutung von Persönlichkeit und sexueller Traumatisierung für forensische Patienten mit einem Sexualdelikt. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 56, 147-153; Dudeck M, Spitzer C, Stopsack M, Feyberger HJ, Barnow S (2007): Forensic Inpatient Male Sexual Offenders: The Impact of Personality Disorder and Childhood Sexual Abuse. Journal of Forensic Psychiatry and Psychology 18(4), 494-506; Dudeck M, Drenkhahn K, Spitzer C, Barnow S, Freyberger HJ, Grabe HJ (2012): Gibt es eine Assoziation zwischen familiärem sexuellen Missbrauch und späteren Sexualstraftaten? Psychiatrische Praxis 39 (5), 217-221; Dudeck M, Sosic-Vasic Z, Otte S, Rasche K, Leichauer K, Shenar R, Klingner S, Vasic N, Streb J (2016): The impact of adverse childhood experiences, reactive and appetitive aggression on suicide attempts and violent delinquency in male forensic psychiatry inpatients. Psychiatry Research 204 (352-257).
  18. Marquardt, Andreas; Lemke, Jürgen (2007): Härte. Mein Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt. Ullstein Taschenbuch Verlag, Berlin.
  19. Marquardt; Lemke, a.a.O (EN 18).
  20. Rieske, Thomas Viola; Könnecke, Bernhard; Puchert, Ralf; Scambor, Elli; Wittenzellner, Ulla (2017): Aufdeckungsprozesse bei männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Verlaufsmuster und hilfreiche Bedingungen. Springer VS Wiesbaden.