Recht und Justiz

Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung (Teil 2)

3.2 Bestimmtheit – Normenklarheit

Der Blick auf den Vorschriftenkomplex der StPO lässt in Bezug auf die Anwendung unmittelbaren Zwanges, insbesondere hinsichtlich des Schusswaffengebrauchs, nahezu alles vermissen, was das Grundgesetz einfach-gesetzlich von diesen Ausprägungen i.S.d. Rechtsstaatsprinzips verlangt. Der Vorbehalt des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG erschöpft sich nicht etwa nur in der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe. Er setzt vielmehr voraus, dass alle wesentlichen Fragen vom Parlament selbst entschieden werden.28 Das förmliche Gesetz – und ein solches wird von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG für Eingriffe in die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit verlangt – muss in diesem Sinne ausreichend bestimmt bzw. genau sein.29 Der Vorbehalt des Gesetzes betrifft nicht nur die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand überhaupt gesetzlich geregelt sein muss, sondern auch, wieweit diese Regelungen im Einzelnen zu gehen haben.30 Mit dem Bestimmtheitsgebot von Normen werden verfassungsrechtlich entsprechend hohe Voraussetzungen verlangt: Die Klarheit der Eingriffsintensität i.V.m. der Grundrechtswesentlichkeit sowie die Bestimmung der Reichweite des Vorbehalts des (förmlichen) Gesetzes.31 Diesbezüglich ist die Rede vom Parlamentsvorbehalt,32 obwohl genau genommen der Gesetzesvorbehalt insgesamt ein Parlamentsvorbehalt ist.33 Wie genau und bestimmt das förmliche Gesetz sein muss, wie umfangreich die Wesentlichkeit der Entscheidung sein muss, hängt – wie die Reichweite des Gesetzesvorbehalts – von der sog. Wesentlichkeitstheorie ab.34 Sie verpflichtet den Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung – soweit diese staatlicher Regelung überhaupt zugänglich ist – alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.35 Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung sind, je intensiver Grundrechte betroffen sind (z.B. der Schusswaffengebrauch gegen Personen), desto genauer müssen die Vorgaben des förmlichen Gesetzgebers sein36 oder anders ausgedrückt: Je schwerer der Eingriff ist, desto präziser muss die gesetzliche Regelung sein.37 An dieser Stelle klafft mit Blick auf die rechtsstaatliche Klarheit und Bestimmtheit eine nicht zu übersehende Lücke in der StPO, weil etwas Klares unbestimmt und etwas Unklares bestimmt sein kann. Man merkt deutlich, dass die StPO in weiten Teilen vorkonstitutionelles Recht ist, das von einem tradierten Rechtsverständnis beherrscht wird, zudem der Zitierpflicht des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, einer Schranken-Schranke und damit einer wesentlichen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in seinem nachkonstitutionellen Teil zwar unterworfen ist, aber in einem von der Rechtsprechung des BVerfG geprägten Rechtsverständnis für den Schusswaffengebrauch gewünschten verfassungsrechtlichen Weise jedenfalls nicht Schritt zu halten vermag. Stärker denn je richtet sich infolgedessen der Blick auf die Polizeigesetze der Länder, verbunden mit der Frage, was diese angesichts der strafprozessualen Sperrwirkung des § 6 Abs. 1 EGStPO in welcher Weise tatsächlich wie regeln. Denn gerade der Bestimmtheitsgrundsatz ist ein für jeden Rechtsstaat unverzichtbarer Grundsatz, der im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in Ansehung von Gesetzesbefehlen und Normanordnungen mit Grundrechtswirkung eine ausreichende inhaltliche Bestimmtheit verlangt, damit der jeweilige Adressat erkennen kann, was von Gesetzes wegen von ihm verlangt wird, so dass der Grundrechtsträger eindeutig und unmissverständlich Art, Umfang und Tragweite des staatlichen Handelns einzuschätzen vermag, kurzum, sein Verhalten danach ausrichten kann.38 Demnach spielen verwaltungsinterne Ausführungsvorschriften, die den Rechtscharakter von Verwaltungsvorschriften erfüllen, insoweit mit Blick auf das Auswahlermessen durchaus bindend wirken, für die Auslegung von Normen des unmittelbaren Zwanges in den Polizeigesetzen der Länder zwar eine gewichtige Rolle. Bei der Frage des „Ob“ sind sie jedoch bedeutungslos.39

3.3 Art. 2 EMRK – Recht auf Leben

Wie bereits angesprochen, steht Art. 2 GG einer Tötung durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch grundsätzlich nichts entgegen. Übrig bleibt der Vollständigkeit wegen die Frage, ob dieses Ergebnis auch mit der EMRK vereinbar ist, obgleich die EMRK als Ganzes nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts einzustufen ist, die nach Art. 25 GG den (förmlichen) Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland vorgeht.40 Nur für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts enthält Art. 25 GG den Vollzugsbefehl bzw. die Transformation. Lediglich einzelne Bestimmungen sind allgemeine Regeln des Völkerrechts, so z.B. die Art. 2, 4, 5 und 6 EMRK. Die EMRK steht daher kraft gesetzlicher Übernahme im Rang eines einfachen Bundesgesetzes; auch aus Art. 1 Abs. 2 GG ergibt sich kein Verfassungsrang der EMRK. Das sonstige Völkerrecht – z.B. die EMRK als solche – muss dagegen durch einen eigenständigen Transformationsakt übernommen werden. Im Bereich des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ist eine bundesgesetzliche Regelung notwendig. Aufgrund dieser Verfassungsnorm i.V.m. der dem Zustimmungs-/Ratifikationsgesetz vom 7.8.1952 begründeten Inkorporation der EMRK haben Legislative, Exekutive und Judikative – also auch die Polizeibehörden des Bundes und der Länder – die EMRK wie jedes deutsche Gesetz unmittelbar zu beachten.41 Art. 2 Abs. 2 EMRK bestimmt, dass eine Tötung nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet wird, wenn sie durch eine Gewaltanwendung – also z.B. durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch oder durch Notwehr/Nothilfe gem. § 32 StGB – verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
jedermann gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.

Art. 2 Abs. 2 lit. b EMRK wird einer strafverfolgenden Situation voll und ganz gerecht. Erfolgt in diesem Fall der Schusswaffengebrauch durch einen Hoheitsträger (Schusswaffengebrauch zum Anhalten flüchtender Verdächtiger oder Straftäter), so ist ein solcher Schusswaffengebrauch nicht konventionswidrig. Der Begriff der Festnahme korrespondiert – nach dem jeweils nationalen Recht – in der Bundesrepublik Deutschland mit dem der vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 Satz 1 und § 127 Abs. 2 i.V.m. §§ 112 ff. StPO. Nicht darunter fällt die Festnahme von Störern gem. § 164 StPO. Ergebnis ist, dass ein hoheitlicher Schusswaffengebrauch mit repressiver Zielrichtung, der – obwohl die StPO ausnahmslos vom lebenden Täter/Straftäter (Verdächtigen, Beschuldigten [Angeschuldigten, Angeklagten oder > rechtskräftig < Verurteilten]) ausgeht – womöglich tödlich wirkt, nicht im Widerspruch zu Art. 2 Abs. 2 EMRK steht, soweit die Schussabgabe als letztes Mittel (verfassungsrechtlicher Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter den rechtlichen Kautelen der Erforderlichkeit [Eingriffsminimum] und Angemessenheit) erfolgt.