Wissenschaft  und Forschung

Islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten

2.1 Sozialwissenschaftliche Analyse möglicher islamistischer Radikalisierungshintergründe

Die Haft ist eine Zwangsgemeinschaft verurteilter oder auf ihr Urteil wartender Individuen, die oftmals ein gespanntes Verhältnis zur Gesellschaft haben und unter (subjektiv wahrgenommener) sozialer Frustration, wirtschaftlicher Exklusion oder kultureller Stigmatisierung leiden. Bei diesen Individuen kann sich der institutionelle Zwang von Justizvollzugsanstalten in einer zusätzlichen Radikalisierungsbereitschaft auswirken.10 Folgende weitere Radikalisierungsursachen bestehen nach Kienle:

  • (Subjektiv wahrgenommene) Diskriminierungserfahrungen, Demütigung
  • (Subjektive wahrgenommene) Deprivation
  • (Subjektiv wahrgenommene) Ungerechtigkeit gegenüber einer sozialen/kulturellen/religiösen Gruppe
  • Unzufriedenheit, Unmut („grievance“)
  • Orientierungslosigkeit
  • Sinnsuche
  • Suche nach Halt und Gemeinschaft
  • Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz
  • Einsamkeit
  • Identitätskrisen
  • Integrationsdefizite
  • (Subjektiv wahrgenommene) prekäre Lebenslagen
  • schulische und berufliche Misserfolge
  • Erlebnisorientierung, Risikofreudigkeit, Selbstinszenierung
  • Streben nach Bedeutsamkeit der eigenen Person
  • Soziale Bindungen, gruppendynamische Prozesse.11

Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive spricht Barran von der Radikalisierung als einem Mechanismus eines Fließbandes, auf welchem Schritt für Schritt verschiedene Elemente und Einflüsse hinzukommen.12 Aus psychologischer Perspektive kann die (islamistische) Radikalisierung mit einem Treppenhaus verglichen werden, in dem sich Personen – abhängig vom Grad ihrer Einstellung und ihrer Nähe zur Militanz – auf verschiedenen Ebenen bzw. Stufen befinden.
In einem extremistischen, ideologisierenden Milieu können ideologische Gruppen wie folgt Einfluss auf eine islamistische Radikalisierung nehmen:

  • Totale Hingabe an die Religion als unterscheidender Faktor zwischen Gruppe und Außenwelt (ingroup und outgroup).
  • Denken und Handeln in dualistischen Schwarz-Weiß-Kategorien.Entindividualisierung der Mitglieder einer ideologischen Gruppe. Allein die Verpflichtung, der Einsatz für die gemeinsame Sache schreiben Gruppenmitgliedern ihren Wert zu.
  • Konsequente Unterdrückung spontaner Zuneigung oder Abneigung, die nur noch nach Maßgaben der Ideologie zulässig sind.13

Die islamistische Ideologie bietet religiös-politische Rechtfertigung und das Gefühl von Sinnhaftigkeit und fungiert dadurch als Bindeglied zwischen Mitgliedern von islamistischen Milieus, Organisationen, Gruppen und Individuen. Gruppendynamische Prozesse intensiveren hierbei Radikalisierungsprozesse und verfestigen damit extremistische Weltbilder. Gemäß der framing-Theorie (frame als individuelle Weltsicht, bestehend aus Glaubenssätzen und Interpretationsschemata) von Quintan Wiktorowicz14 entsteht (islamistische) Radikalisierung durch soziale Bindungen. In diesen Radikalisierungsprozessen wachsen Mitglieder einer Gruppe in eine konstruierte Weltsicht hinein, die Verantwortung für soziale Ungerechtigkeiten konkreten Verursachern zuschreibt.
Einen wesentlichen Aspekt für den Umgang sich radikalisierender Inhaftierter stellen grundsätzlich – sowohl aufgrund notwendiger Fragen nach geeigneten Resozialisierungsmaßnahmen als auch aus Sicherheitsaspekten – biographische Merkmale der einzelnen Personen dar. Auch die gewählten vollzugsinternen Strategien zur Erkennung von Radikalisierungstendenzen basieren entsprechend auf dem vorhandenen wissenschaftlichen Wissen über Radikalisierungsfaktoren, die den Weg einer Ideologisierung bzw. Radikalisierung fördern können bzw. als ursächlich für eine solche Entwicklung gesehen werden. Als problematisch wird der im Justizvollzug begründete „begrenzte Lebensraum“ der Inhaftierten angesehen, durch den die Auswahl von Gesprächs- und Vertrauenspersonen auf ein Minimum beschränkt ist.15 Sowohl eine mangelnde soziale Einbettung als auch eine grundsätzlich limitierte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie die persönliche Einschätzung der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins bzw. einer mit der eigenen Lebenslage einhergehenden ungelösten Frage nach subjektivem Sinn verstärken die Anfälligkeit für eine (islamistische) Radikalisierung.
Vor allem jugendliche und heranwachsende Straftäter werden von psychologischen und sozialwissenschaftlichen Experten in diesem speziellen Zusammenhang als besonders gefährdet für eine (islamistische) Radikalisierung eingestuft. Als Begründung hierfür werden die in einer solchen Lebensphase entwicklungstypischen Fragen nach der eigenen Identitätsfindung, aber auch die häufig vorhandene mangelnde soziale Einbindung bzw. Verantwortung sowie die stärkere Beeinflussbarkeit genannt.16 Dazu kommt zudem das Wissen, dass diese Gruppe nach wissenschaftlicher Erkenntnis auch der präferierten Zielgruppe für Anwerbeversuche von islamistisch Radikalisierten entspricht.
Nach Aussagen eines muslimischen Gefängnisseelsorgers und Imams verschwinden die ohnehin schon geringen Hemmschwellen in Bezug auf Gewalttaten durch einen ideologischen Überbau – verkörpert durch eine islamistische Radikalisierung – gänzlich.17 Gewalttaten und andere Verbrechen würden ideologisch sakralisiert: Vom Zeitpunkt einer islamistischen Radikalisierung an arbeiteten die ehemals Kriminellen für eine „große Sache” und bekämen anders als zuvor ideologisch-religiöses Ansehen, sie würden zu „Löwen der Umma“ (der muslimischen Gemeinschaft) bzw. zu „Löwen Allahs“.18
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass auf der Grundlage verschiedener sozialwissenschaftlicher und psychologischer Untersuchungen die Gefahr einer erfolgreichen islamistischen Radikalisierung vor allem bei psychisch schwachen und labilen Personen besteht, bei denen die Teilhabe an und Mitgliedschaft in einer Gruppe als Ausgleich für die eigene als defizitär wahrgenommene Mangelsituation gedeutet wird.19
In islamistisch-salafistischen Narrativen wird die Ablehnung durch die Gesellschaft als Zeichen für eine Auserwählung durch Gott gedeutet. So könne eine Inhaftierung als gottgewollte und sinnvolle Prüfung in einer „Gesellschaft irregeleiteter Ungläubiger“ verstanden werden. In diesem Sinne rufen verschiedene islamistische Propagandamagazine regelmäßig zur Unterstützung und Freilassung inhaftierter Jihadisten auf und es existieren Verhaltensanleitungen für inhaftierte Jihadisten, die etwa dazu auffordern, Außenkontakte auszunutzen, um versteckte Botschaften zu übergeben, keine „erniedrigenden“ Arbeiten auszuführen und Glaubensregeln zu befolgen.20Ein siebenstufiges Modell für Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten beschreibt Sinai, der betont, dass die identifizierten sieben Stufen nicht kausal aufeinander aufbauen und nicht linear verlaufen müssen:

  1. Persönliche Vorbedingungen wie Gewalterfahrungen, antisoziale Einstellungen, Persönlichkeitskrisen, mangelndes Selbstwertgefühl, Suche nach Orientierung in Verbindung mit dem Schock der Inhaftierung.
  2. Kontextuelle Ermöglichungsfaktoren wie extremistische Netzwerke und Subkulturen, Ideologien, charismatische Anführer und Zugang zu extremistischen Quellen.
  3. Identifizierung mit einer bestimmten Ideologie, Aufgabe oder Gruppe.
  4. Intensivierung der Ideologie durch persönliche Kontakte.
  5. Die militante Haltung als „Krieger“ für eine bestimmte Sache wird voll und ganz übernommen.
  6. Nach Haftentlassung wird entweder eine Tat geplant und durchgeführt oder zunächst eine Terrorausbildung durchlaufen.
  7. In einer folgenden Wiederinhaftierung wiederholt und verstärkt sich der beschriebene Zyklus.21

Nach Sinai ist eine islamistische Radikalisierung in Justizvollzugsanstalten immer multifaktoriell bedingt und könne in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufen. Neben dem Erklärungsansatz von Gefangenenradikalisierung als Folge von persönlichen Krisen verweist Hamm auf ein weiteres Phänomen von Radikalisierung: Wenn Stress und Gewalt in überbelegten oder schlecht geführten Haftanstalten vorkommen, steigt der Wunsch, sich den Autoritäten zu widersetzen, wodurch „identities of resistance“ entstehen können. Dadurch kann der Islamismus, wahrgenommen als „Religion der Unterdrückten“, unter Umständen an Attraktivität gewinnen.22