Wissenschaft  und Forschung

Forensische Entomologie – Insekten als Helfer der Polizei

Früher oder später kommt jeder Polizeibeamte im Rahmen seiner Diensttätigkeit in den Kontakt mit Leichen. Opfer von Verkehrsunfällen oder Verstorbene nach Tötungsdelikten gehören für einige Mitarbeiter der Kriminalpolizei zur alltäglichen Arbeit.

Im Sommer stellen geöffnete Fenster die Möglichkeit einer direkten Leichenbesiedlung dar. Hierbei ist – analog zur Auffindung im Freien – mit einer Erstbesiedlung innerhalb der ersten Stunde nach Todeseintritt zu rechnen. Daher ist von den zuerst eintreffenden Beamten der (Schutz-)Polizei zu notieren, welche Fenster bei ihrem Eintreffen am Leichenfundort geschlossen bzw. geöffnet waren, und fotografisch oder per Aktennotiz zu dokumentieren, wie zahlreich ausgewachsene Fliegen in der Wohnung waren, bevor eventuell von Rettungsdienstfachpersonal oder vom Bestattungsunternehmen Fenster geöffnet wurden.

Zwei weitere Fallbeispiele sollen die Arbeitsweise des Forensischen Entomologen verdeutlichen. Im Hochsommer gab es einen ersten Leichenfund neben einem Waldweg. Es handelte sich hierbei um eine weibliche bekleidete Leiche. Als Todesursache wurde ein Verbluten durch mehrere Stiche in die Brust und eine Kompression des Halses durch eine Drosselung festgestellt. Am Leichnam fanden sich bereits zahlreiche weibliche Schmeißfliegen (Abb. 1). Außerdem wurden im Haupthaar sowie in auf der Oberbekleidung zahlreiche Eipakete dieser Schmeißfliegen festgestellt. Auffällig war, dass der primäre Besiedlungsherd, nicht wie sonst üblich die „normalen“ anatomischen Körperöffnungen, insbesondere im Gesicht, betraf, sondern den von Messerstichen durchsetzten Brustbereich des Leichnams. Hier bestand ein ausgeprägter Madenteppich mit mehreren 10.000 Tieren des ersten Larvenstadiums. Diese konnten nach einer Lebendzucht als Vertreter von Lucilia sericata (Goldfliege) und Lucilia ceasar (Kaisergoldfliege) bestimmt werden. Da die Tagesdurchschnittstemperatur am Tag des Fundes ca. 28°C betragen hatte, konnte die Mindestliegezeit nach sogenannten Wuchsdiagrammen auf zwischen 10 und 12 Stunden bestimmt werden. Die Leiche wurde also frühestens in der Nacht zuvor an den Fundort gebracht. Auffällig war dabei, dass aus dem Madenteppich eine Insektenlarve asserviert werden konnte, welche sich schon im zweiten Entwicklungsstadium befand und damit mindestens 16 Stunden alt gewesen sein musste. Da man bei der Gattung Lucilia einen nächtlichen Flug ausschließen kann musste die Eiablage, welche jetzt als zweites Larvenstadium zur Untersuchung gelangte, schon am Vortag erfolgt sein. Somit konnte der späteste mögliche Todeszeitpunkt auf den späten Nachmittag bzw. die frühen Abendstunden des Vortages der Leichenauffindung festgelegt werden. Als am Folgetag nach Sonnenaufgang eine ausreichende Helligkeit erreicht war, begann die massive (Zweit-)Besiedlung am Fundort.

Drei Tage später wurde in ca. 14 km Entfernung die Leiche des, mittlerweile zur Fahndung, ausgeschriebenen Ehemanns der getöteten Frau durch eine Polizeistreife aufgefunden – auch er wies Stichverletzungen auf. Auch bei diesem Leichenfund war die Eingrenzung der Liegezeit von ermittlungstechnischer Bedeutung und es galt zu klären, ob diese mit der Liegezeit des ersten Leichenfundes in Einklang zu bringen war oder womöglich von der Beteiligung einer dritten Person auszugehen war.

Asserviert wurden hier in einem fortgeschrittenen Zersetzungszustand zusätzlich zu den Larven von Lucilia illustris und Phormia regina auch verschiedene aasbesiedelnde Käfer. Die Mindestbesiedlungszeit wurde nach einer Kontrollzucht zwischen 70 und 80 Stunden festgelegt. Die Primärbesiedlung des männlichen Leichnams fand somit zur gleichen Zeit statt, wie die massive Sekundärbesiedlung des weiblichen Leichnams am ersten Fundort. Zwischen der Ablage des weiblichen Leichnams und dem durch die Sektionsergebnisse bestätigten Suizid des Mannes können damit nur wenige Stunden vergangen sein – die Frau muss aber bereits am Vorabend ihrer Auffindung getötet worden sein. Die Ermittlungen wurden mit dem Ergebnis eines erweiterten Suizids abgeschlossen.

Das zweite Beispiel behandelt den Fund zweier Leichen in einem Mehrfamilienhaus. Nachdem von Hausbewohnern ein unangenehmer Geruch festgestellt worden war, wurde eine Wohnungsnotöffnung veranlasst. Im Flur fand sich die weibliche Leiche einer jungen Frau. Als Todesursache wurde eine Intoxikation durch einen sogenannten Speedball (Mischung aus Heroin und Kokain) festgestellt. Es fanden sich Larven der Schmeißfliege Lucilia sericata im frühen dritten Larvenstadium an ihrer Leiche. Im Kinderzimmer wurde im Gitterbett die Leiche ihres zwei Jahre alt gewordenen Sohnes aufgefunden. Als Todesursache war ein Verdursten zu klassifizieren. An seiner Leiche fanden sich lediglich Eipakete.


Abbildung 1: Aufgefundener weiblicher Leichnam mit initialer Insektenbesiedlung.

Die Fragestellungen in diesem Fall bezog sich auf zwei wesentliche Punkte: Da bekannt war, dass eine dritte Person regelmäßigen Zugang zur Wohnung hatte, war die Frage der Mindestliegezeit der beiden Leichen insofern relevant, als das die Möglichkeit bestanden hat, dass die dritte Person die später Verstorbenen ggf. noch lebend hätte vorfinden können – es stand der Verdacht einer unterlassenen Hilfeleistung im Raum. Ergänzend galt es zu klären, über welches Zeitintervall das Kleinkind unversorgt geblieben worden war, nachdem seine Mutter verstarb. Durch die skizzierte, unterschiedliche Besiedlungsrate beider Leichen konnte gezeigt werden, dass die Eipakete am Leichnam des Kindes maximal 24 Stunden alt gewesen waren, wohin gegen die Mutter bereits mindestens drei Tage tot in ihrer Wohnung gelegen haben muss.