Recht und Justiz

Quo vadis lus poenale?

Vom Sinn und Unsinn der Strafrechtsverschärfung des § 114 StGB

Als weiterer Faktor im Hinblick auf eine Veränderung in der Gesellschaft ist eine zunehmende salutogenetische Orientierung zu nennen, die in einer stetig wachsenden Wellness-, Fitness- und Gesundheitsbranche ihren Ausdruck findet. Auch die Polizei bietet ihren Mitarbeitern ein wachsendes Repertoire an Sport- und Gesundheitsangeboten, um einen Ausgleich zum Dienst zu schaffen und eine „work-life-balance“ zu ermöglichen. Dies wird auch u.a. in dem Rahmenkonzept zur Betrieblichen Gesundheitsförderung von 2014 in der Landespolizei Schleswig-Holstein deutlich. Das wachsende Gesundheitsbewusstsein und die salutogenetische Orientierung sind Indikatoren für eine Erhöhung des Stellenwertes der körperlichen Unversehrtheit in der Gesellschaft und damit auch in der Polizei. Derartige kulturelle Veränderungen des Wertesystems lassen den Schluss zu, dass sich das Anzeigeverhalten innerhalb der Polizei verändert haben könnte.

Unterstützt wird diese These von veränderten Rahmenbedingungen. Strukturgebende Maßnahmen seitens der Polizeiführung hat es bspw. im August 2016 mit dem Rahmenerlass für die schleswig-Holsteinische Polizei gegeben. Durch diesen Erlass ist jeder Polizeibeamte angewiesen, jede versuchte und vollendete Gewalttat zum Nachteil von Polizeivollzugsbeamten anzuzeigen. Zusätzlich wird jeder Fall von Gewalt gegen die Polizei im Vorgangsbearbeitungssystem zur Erstellung eines Landeslagebildes erfasst. Die Erhöhung der Zahlen in der PKS ist somit auch durch den Einfluss dieser Indikatoren auf das Anzeigeverhalten der Polizeibeamten zu erklären.

Die Frage, ob die tatsächliche körperliche Gewalt zwischen Polizeibeamten und ihren Adressaten der polizeilichen Maßnahmen nun tatsächlich zu- oder abgenommen hat, ist nicht ausschließlich aufgrund von Befragungen von Polizeibeamten und der Auswertung der PKS zu entscheiden. Die Aussagen der KFN-Studie und die Heranziehung der PKS-Zahlen oder der Dienstunfähigkeitstage liefern aufgrund des Subjektivitätsfaktors bzw. der geringen Aussagekraft keine valide Antwort auf diese Frage. Vielmehr müssen Dunkelfeldstudien zu diesem Themenfeld herangezogen werden.

3.3 Eignen sich Dunkelfeldstudien zur Gewalt unter Jugendlichen als Analogie zur Gewalt gegen die Polizei?

Das „Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung (KIK)“ stellt Daten zu Umfang, Struktur und Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität sowie der ermittelten Tatverdächtigen nach Alter und Geschlecht dar26. Der Übersichtsartikel „Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland“ von Wolfgang Heinz befasst sich mit der Aufbereitung der Ergebnisse der neueren Dunkelfeldforschung in Deutschland sowie der Daten der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken zu polizeilich registrierter Kriminalität, zur staatsanwaltschaftlichen Erledigung und gerichtlichen Verurteilung bis hin zum Straf- und Maßregelvollzug in Form von Schaubildern und von Tabellen. Eine systematische Beschreibung von „Kriminalitätskontrolle“ wäre unvollständig ohne den Ausblick auf deren „Erfolg“, wie er an den Befunden der Rückfallstatistik ablesbar ist.27

Dunkelfeldstudien zu Gewalt unter Jugendlichen und Heranwachsenden könnten möglicherweise als Analogie zur „Gewalt gegen Polizeibeamte“ erste Hinweise auf die Entwicklung der Fallzahlen in diesem Bereich liefern. Die seit Ende der 1990er Jahre durchgeführten Befragungen von Schülern der 9. Jahrgangsstufe zeigen, bei teilweise kurvilinearen Verläufen, also bei Steigen oder Fallen zwischen verschiedenen Messzeitpunkten, ausnahmslos, dass der Anteil der Jugendlichen, die angaben, Gewaltdelikte verübt oder erlitten zu haben, nach allen Untersuchungen insgesamt rückläufig ist. Es wurde auch ein Rückgang der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen sowie der Schwere der Folgeschäden bei erlittener Körperverletzung festgestellt. Diese Daten stehen in deutlichem Gegensatz zu den Hellfelddaten der PKS. Offenbar wird der Rückgang im Dunkelfeld durch eine steigende Anzeigebereitschaft überkompensiert.28

Daten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zu sog. „Raufunfällen“ an Schulen, bei denen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden musste, ergaben, dass diese seit 1997 deutlich abgenommen haben (Raufunfälle zwischen 1997 und 2007 um 31,3 % und zwischen 2009 und 2014 nochmals um 5,11 %)29. Die Dunkelfeldstudie „Umfang, Struktur und Entwicklung von Jugendgewalt und -delinquenz in Hamburg 1997-2004, Ergebnisse wiederholter repräsentativer Befragungen von Schulklassen allgemeinbildender Schulen der 9. Jahrgangsstufe“ von Block, Brettfeld und Wetzels kommt zu dem Schluss, dass Delinquenz durch personengerichtete Gewaltdelikte 2005 signifikant niedriger ausfällt, als noch im Jahr 1998. Fuchs, Lamnek, Luedtke und Baur30 legen in ihrer 1994, 1999 und 2004 durchgeführten Langzeitstudie „Gewalt an Schulen“ dar, dass sowohl physische, als auch psychische und verbale Gewalt an Schulen rückläufig sind. Gleichzeitig kommt es aber zu einem bedeutenden Anstieg der Anzeigequote, insbesondere bei Raubtaten, Erpressungen und Körperverletzungen mit Waffen, wodurch ein Anstieg dieser Delikte im Hellfeld und damit auch in der PKS zu verzeichnen ist.31

Eine unveröffentlichte Lagebilddarstellung der Polizei Hamburg ergibt weder einen qualitativen, noch einen quantitativen Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte. Festgestellt wird, dass sich die Kontextbedingungen geändert haben, womit bspw. ein Anstieg von Handykameras und das sofortige Verbreiten in sozialen Netzwerken usw. gemeint sind.32 Die Befragung zum DGB-Index „Gute Arbeit“ brachte hervor, dass 22 % aller Polizisten davon berichteten, sehr häufig oder oft respektlos behandelt zu werden. Von allen Beschäftigten trifft dies im Vergleich nur auf jeden Zehnten zu.33

Vor dem Hintergrund, dass die KFN-Studie von 2010 außerdem eine Steigerung der Feindschaft gegenüber der Polizei und dem Staat zutage brachte, ist eine Erhöhung der Wahrnehmung respektloser Handlungen und Unbotmäßigkeiten gegenüber Polizeivollzugsbeamten des Streifendienstes denkbar.

Eine wachsende salutogenetische Haltung innerhalb der Polizei, die Sakralisierung der Person sowie die Abnahme der Gewalt in der Gesellschaft, die durch die oben angeführten Dunkelfeldstudien zu Gewalt unter Jugendlichen und Heranwachsenden, Gewalt an Schulen und durch die Lagebilddarstellung der Hamburger Polizei offenbar wird, geben Hinweise für die Annahme einer erhöhten Sensibilisierung der Polizeivollzugsbeamten und einer geringeren Toleranz gegenüber achtlosen, despektierlichen Handlungen. Es ist anzunehmen, dass die Gewaltperzeption und das Anzeigeverhalten der Polizeivollzugsbeamten gestiegen sind. Gleichzeitig lassen diese Indikatoren an der angeblich gestiegenen körperlichen Gewalt gegenüber Polizeibeamten zumindest Zweifel zu.34 Wird der Anstieg der Widerstandsdelikte in der PKS von den Medien und den Gewerkschaften plakativ inszeniert, kann es zum sog. politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf35 kommen. Wird die Polizei im Gewaltdiskurs auf ihre Opferrolle reduziert, besteht die Gefahr, dass sie in ihrer Rolle als Inhaberin des Gewaltmonopols des Staates nicht ernst genommen wird und die Entwicklung einer differenzierten Einsatzkompetenz und einer reifen Fehlerkultur in der Polizei verhindern wird.36

4 Conclusio

Eine rationale, an empirisch gesicherten Befunden und nicht an Vorurteilen oder an Wunschdenken orientierte Kriminalitätskontrolle sollte sich an den Ergebnissen der Wirkungsforschung orientieren und nicht ausschließlich auf eine Verschärfung des Strafrechts setzen. Soll mit der Verschärfung des Strafrechts erreicht werden, dass sich Polizeivollzugsbeamte gesehen und wertgeschätzt fühlen und möchte man ihnen einen besonderen strafrechtlichen Schutz offerieren, mag dies dem Gesetzgeber mit der Neuformulierung des § 114 StGB gelungen sein. Doch will man lösungsorientiert und nachhaltig gewalttätige Übergriffe auf Polizeivollzugsbeamte verhindern, muss man das Problem an den Wurzeln erfassen. Hierzu ist es hilfreich, die situativen und strukturellen Kontextbedingungen von Gewalt als aufeinander bezogene Wechselbeziehungen zu verstehen, denn zuallermeist entwickelt sich Gewalt in polizeilichen Einzeldienst-Kontexten innerhalb eines interaktiven Geschehens.37 Die Etablierung einer reifen Fehlerkultur ist für eine kontinuierliche Professionalisierung der Polizei unerlässlich. Dafür ist es notwendig, die Verantwortung für eskalierende Konflikte im „Kräftefeld Polizei-Bürger“ zu übernehmen, denn der Umgang mit emotionalen Herausforderungen und Konflikten kann zu gesundheitlichen Risiken, einer verringerten Arbeitszufriedenheit, häufigeren Erschöpfungszuständen und anderen psychischen Beeinträchtigungen führen. Die Entwicklung von Konfliktbearbeitungskompetenz, Dialogfähigkeit, Empathievermögen, interkultureller Kompetenz sowie persönlicher und sozialer Kompetenz ist für professionelles und deeskalierendes, überlegtes polizeiliches Handeln unverzichtbar und sollte in Aus- und Fortbildung vermittelt und ausgebaut werden. Weiterhin können eine ausreichende Personalausstattung, adäquate Erholungszeiten, der Ausbau des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, Gewährleistung einer gesunden „work-life-balance“, Supervision, teambildende Maßnahmen und die Schaffung einer von Kollegialität, Hilfsbereitschaft und Selbstverantwortung geprägten Arbeitsatmosphäre zum Schutz der Polizeibeamten beitragen und es bestünde die Möglichkeit, dass diese Maßnahmen von ihnen wohl viel mehr als Zeichen der Wertschätzung gesehen werden, als Strafverschärfungen.38