Quo vadis lus poenale?
Vom Sinn und Unsinn der Strafrechtsverschärfung des § 114 StGB
3 Diskurs über den Sinn dieser Strafverschärfung zum Schutz von Polizeivollzugsbeamten
Losgelöst von individueller Betroffenheit ist die kritische Diskussion der nachfolgenden Fragen notwendig, um sich nicht philiströs weiteren Interventionen zu verschließen.
- Können Paragrafen Vollstreckungsbeamte schützen?
- Dient eine Erhöhung des Strafrahmens in Bezug auf tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte, die Herausnahme der Vollstreckungshandlung aus dem Tatbestand oder die Ausdehnung des besonders schweren Falles im Hinblick auf das bloße Mitführen einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeuges ohne Verwendungsabsicht wirklich dem Schutz der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten?
- Kann mittels der Verschärfung des Strafrechts dem Begehen zukünftiger Taten vorgebeugt werden und können damit die Fallzahlen in diesem Deliktsbereich reduziert werden?
Diese Fragen können ohne einen Blick auf die Kontextbedingungen des Phänomens „Polizei und Gewalt“, der Entwicklung des Strafrechts und auf die Ergebnisse der Wirkungsforschung von Strafe i.S.d. evidence-based crime policy nicht beantwortet werden. Ebenso kann in diesem Diskurs nicht auf die Auseinandersetzung mit der Frage verzichtet werden, ob die Gewalt gegenüber Polizeibeamten tatsächlich gestiegen ist oder ob es noch andere Interpretationsmöglichkeiten der gestiegenen Fallzahlen gemäß PKS gibt. Die KFN Studie von 2010 förderte zutage, dass sich Gewaltübergriffe auf Polizeibeamte vornehmlich bei polizeilichen Personalienfeststellungen, Festnahmen, Schlichtungsversuchen zwischen Bürgern und Fluchtverhinderungen ereignen. Insofern bleibt die Frage im Raum, wozu konkret die Herausnahme der Vollstreckungshandlung beim tätlichen Angriff zweckmäßig sein soll. Wird ein Polizeibeamter im Dienst tätlich angegriffen, obwohl er gerade keine Vollstreckungshandlung vornimmt, wären für dieses strafbare Verhalten aller Voraussicht nach die Körperverletzungstatbestände oder der Nötigungstatbestand zu prüfen. Allerdings kommt der § 223 StGB mit einer gegenüber des § 114 StGB geringeren Strafandrohung (Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe) daher und kennt keine erhöhte Mindeststrafe. Der Gesetzgeber will folglich gerade das Vorgehen gegen Polizeibeamte besonders maßregeln, um damit der anspruchsvollen und schwierigen Tätigkeit des Streifendienstes Rechnung zu tragen.
3.1 Historie des Strafzwecks vor dem Hintergrund der Wirkungsforschung
Historisch gesehen hat sich der Fokus des Strafrechts im Laufe der Jahrhunderte von einer tatorientierten Sichtweise zu einer täterorientierten Betrachtung weiterentwickelt. Die Zeit in der bestraft wird, weil Unrecht begangen worden ist („Punitur, quia peccatum est“) gemäß der Straftheorien nach Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel schien mit Cesare Beccaria und seinem von utilitaristischem Denken geprägten Werk „Dei delitti e delle pene“, in der er 1764 die Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung forderte, vorbei.14Franz von Liszt führte 1882 mit seinem „Marburger Programm“ diese Entwicklung fort, in dem er dem tatorientierten Vergeltungsstrafrecht, zu dessen Vertretern Paul Johann Anselmvon Feuerbach und Karl Lorenz Binding zählten, das täterorientierte Präventionsstrafrecht, mit seinen Strafzwecken der Besserung, Sicherung und Abschreckung entgegensetzte.15 Das ging einher mit der Inklusion des Verbrechers in den Begriff des Menschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Von Liszt machte in seinem Vortrag aufgrund einer Sonderauswertung der seinerzeitigen Reichskriminalstatistik deutlich, dass „der Hang zum Verbrechen mit jeder neuen Verurteilung wächst und je härter die Vorstrafe nach Art und Maß gewesen ist, desto rascher der Rückfall erfolgte“.16 Auch Gustav Radbruch, der Schüler Franz von Liszts, formuliert 1932 in seinem Fest-Vortrag anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Gefangenenfürsorge in Baden ähnliche Gedanken: „Je mehr Vorstrafen der Verbrecher erlitten hat, umso sicherer ist sein Rückfall“.17 Der Gesetzgeber dürfe nicht selbst der sozialen Wiedereinordnung der Entlassenen Hindernisse bereiten.18 Durch die Durchsetzung des Zweckgedankens im Strafrecht wurde die Freiheitsstrafe zurückgedrängt und die Geldstrafe eingeführt und verbreitet. Diese sollte nicht bessern sondern „die resozilisierungswidrigen Effekte der Freiheitsstrafe, selbst der kurzen Freiheitsstrafe, und die damit verbundene Rückfallgefahr vermeiden“.19 In der Studie von Lipton, Martinson und Wilks wurden neben Formen und Varianten der Behandlung im Strafvollzug auch Formen der Behandlung in Freiheit untersucht. Hierbei wählte man auch solche Versuchsanordnungen, in denen die Effekte unterschiedlicher Sanktionsformen bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen untersucht wurden. Diese Studie und eine Reihe nachfolgender, experimenteller und quasi-experimenteller Studien belegten, dass eine Kriminalpolitik nach dem Vorbild der USA, die auf Abschreckung durch härtere und längere Sanktionen abstellt, nicht den Schutz vor Kriminalität verbessert, sondern die menschlichen und fiskalischen Kosten nur erhöht.20
Eine Verschärfung des Strafrahmens, der Wegfall der Geldstrafe in § 114 StGB und die Erweiterung des Kataloges für Regelbeispiele eines besonders schweren Falles des tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte, lassen nun eine Umkehr – weg vom täterorientierten und hin zum tatorientierten Strafrecht – vermuten. Dabei hatte der Gesetzgeber ursprünglich bei der Formulierung des Widerstandsparagrafen § 113 StGB die Affekte, die bei dem Betroffenen durch die Konfrontation mit einem Grundrechtseingriff entstehen können, berücksichtigt, indem er den Strafrahmen (vor dem Jahre 2011: Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren) geringer als z.B. bei der Nötigung (Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren) ansetzte.21 Wenn nun die Wirkungsforschung in Bezug auf den Sinn von Strafe offenbart, dass eine schärfere Sanktionspraxis die Rückfallwahrscheinlichkeit eher erhöht, wird der Gedanke des Gesetzgebers, die Polizeibeamten mittels der Strafverschärfung „besser zu schützen“ ad absurdum geführt.
In der Begründung zum neuen Gesetzesentwurf heißt es: „Es soll gewährleistet werden, dass der spezifische Unrechtsgehalt des Angriffs auf einen Repräsentanten der staatlichen Gewalt im Strafausspruch deutlich wird.“22 An dieser Stelle werden die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Untermauerung der These – die Gewalt gegenüber Polizeibeamten habe zugenommen – angeführt.
3.2 Von der Validität der PKS zur Sakralisierung der Person
Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst seit der Einführung des Kataloges „Geschädigtenspezifik“ im Jahr 2011 Polizisten sowie andere Vollstreckungsbeamte nicht mehr nur als Opfer von „Widerstandsdelikten“, sondern umfassender als Opfer von „Gewaltdelikten“ (zum Beispiel Körperverletzungen, Mord, Totschlag). Voraussetzung ist dabei, dass sie in Ausübung ihres Dienstes geschädigt werden. So wurden im Jahr 2016 bundesweit 71.795 Polizeibeamte Opfer von Straftaten (davon 45.075 Widerstandsdelikte gegen Polizeivollzugsbeamte). Das ist gemäß Polizeilicher Kriminalstatistik eine Steigerung von 11,2 %, da im Jahr 2015 insgesamt 64.371 Polizeibeamte Opfer von Straftaten wurden (2014: 62.770; 2013: 59.044).
Schwerste Gewaltdelikte wie „Mord“, „Totschlag“ oder „Raub“ machen dabei erfreulicherweise weiterhin nur einen sehr geringen Anteil bei der Opfergruppe der Polizeivollzugsbeamten aus. Bei den übrigen Straftatengruppen waren folgende Veränderungen zu verzeichnen:
- (Vorsätzliche einfache) Körperverletzung
+13,2 % (2015: 14.756) - Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte
+11,3 % (2015: 40.501) - Bedrohung
+9,9 % (2015: 3.619) - Gefährliche und schwere Körperverletzung
+8,8 % (2015: 4.071)23
Doch ist die Gewalt gegenüber Polizeivollzugsbeamten tatsächlich gestiegen oder hat es eine Verschiebung vom Dunkelfeld zum Hellfeld gegeben, resp. ist die Anzeigebereitschaft seitens der Polizeibeamten gestiegen und zeigt sich so für die in der PKS ausgewiesenen Zahlen verantwortlich? Indizien für diese Annahme lassen sich nach der Mehrebensystemtheorie des Sozialpsychologen Mario von Cranach auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen finden (Individuum, Gruppe, Organisation).24 Ende des 20. Jahrhunderts gingen mit der einsetzenden Technisierung der westlichen Gesellschaft gleichzeitig ein Wertewandel, eine stärkere Fokussierung auf das einzelne Individuum und eine Veränderung von Familienstrukturen einher. In seinem Aufsatz „Strafe und Respekt“ aus dem Jahr 2006 skizziert Hans Joas die Entwicklung der Strafe und des Strafrechts weg von den körperlichen Züchtigungen hin zu Freiheitsstrafen. Weil nun auch im Verbrecher der Mensch gesehen wurde, würden grausame Straftaten abgelehnt und aus dem gleichen Grund würden wir sensibler gegenüber Verbrechen, die sich gegen die Person und ihren Körper richten. Früher seien Verbrechen gegen den sakralen Kern eines Gemeinwesens als die Verwerflichsten angesehen worden, heute seien es die Verbrechen gegen die Ehre und die körperliche Unversehrtheit der Person. Durch diese kulturelle Verschiebung in den letzten zwei Jahrhunderten wird der Mensch heute als heilig betrachtet. Joas spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sakralisierung der Person“.25
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