Kriminalität

Methodische Grund­lagen der Tatortarbeit

3.2 Tatortbesichtigung

Unter Tatortbesichtigung wird das Verschaffen eines allgemeinen Überblicks zum Ereignis verstanden. Betrachtet man die Gedächtnisprozesse des Ermittlungsbeamten in dieser Phase der Tatortarbeit, so sind sie charakterisiert vom Wahrnehmen, Verarbeiten des Wahrgenommen und dem Schlussfolgern. Inhaltlich ist die Tatortbesichtigung von folgenden Prämissen geprägt:

  • Aus gefahrenabwehrender und kriminalistischer Sicht ist die Relevanz des Sachverhaltes einzuschätzen. Daraus kann sich die Einleitung dringend notwendiger Sofortmaßnahmen (z.B. Einleitung von gefahrenabwehrenden Maßnahmen, Schutz oder Notsicherung von Spuren) ergeben.
  • Die Wirksamkeit der bisherigen Sicherungsmaßnahmen ist zu prüfen und ggf. sind diese zu präzisieren.
  • Über den Einsatz weiterer Kräfte oder Spezialisten (z.B. Gerichtsmediziner) ist zu entscheiden.
  • Notwendige Täterverfolgungsmaßnahmen sind einzuleiten.
  • Die methodische Vorgehensweise der Tatortuntersuchung (Spurensuche/Spurensicherung) ist festzulegen und es wird geprüft, wie der subjektive Tatortbefund erhoben werden kann.

Bestandteile der Tatortbesichtigung sind:

Die eigenen Wahrnehmungen des Ermittlungsbeamten, um eine allgemeine Beurteilung und Analyse der Situation am Tatort vorzunehmen. Dieses Bild sollte folgende Komponenten22 aufweisen:

  • den eigentlichen Handlungsort des Täters bzw. den Bereich besonders intensiven Täterhandelns,
  • Anhaltspunkte über konkrete Zu- und Abgangswege sowie spurentragenden Bereiche,
  • erfolgversprechende Ansatzpunkte für den Einsatz eines Fährtenhundes (z.B. vom Täter zurückgelassene Gegenstände, Gegenstände, die der Täter vermutlich intensiv berührte, Bereiche, in denen er längere Zeit verweilte etc.),
  • wahrscheinliche Wahrnehmungsmöglichkeiten durch potenzielle Zeugen,
  • den vermutlichen Wahrnehmbarkeitsbereich,
  • Folgen des Tatgeschehens, die Erkenntnisse über die vermutliche Begehungsweise vermitteln.

Erkenntnisse des Leiters der Tatortsicherung, um Hinweise auf die Relevanz des vorliegenden Sachverhalts abzuleiten und Kenntnisse zu erlangen über eingeleitete Ermittlungshandlungen, insbesondere Maßnahmen der Gefahrenabwehr, der ersten Beweissicherung und Täterverfolgung. Darüber hinaus werden Informationen erhoben zu:

  • vorgenommenen Veränderungen,
  • eingesetzten und angeforderten Kräften,
  • eventuellen Zeugen und deren Aufenthalt (einschließlich erster Hinweise zum Wahrnehmbarkeitsbereich),
  • der Ausgangssituation bei Eintreffen der Kräfte des Sicherungsangriffs
  • einer ersten Wertung des Sachverhalts.
  • Diese Informationen werden gedanklich mit den eigenen Wahrnehmungen verglichen. Gegebenenfalls sind Widersprüche zu klären und weitere Maßnahmen zu koordinieren.

Erkenntnisse aus Befragungen/Vernehmungen von Tatortberechtigten um festzustellen, welche Beziehung diese Person zum Ereignis hat (z.B. Geschädigter, Opfer, Zeuge, unbeteiligte Person, Verdächtiger). Nach Einschätzung des rechtlichen Status der Person ist diese entsprechend zu belehren und zu vernehmen. Inhaltliche Schwerpunkte von Zeugenvernehmungen in dieser Phase sind insbesondere:

  • die Art der Wahrnehmung,
  • die Beschreibung der Auffindesituation und von Tatortveränderungen sowie ihren Ursachen (Tatort vor der Tat, bei Tatfeststellung und Veränderungen danach, insbesondere dann, wenn der Zeuge Tatortberechtigter ist und der Letzte am Tatort vor der Straftat war),
  • weitere mögliche Zeugen und die Begründung ihrer zwischenzeitlichen An- und Abwesenheit,
  • Hinweise zu Tatverdächtigen,
  • das Benennen von vorgenommenen Veränderungen und eingeleiteten Maßnahmen,
  • Ursachen für das Betreten des Ortes,
  • die Einschätzung des Schadens und wer u.U. dadurch einen Vorteil erlangt,
  • die Benennung geschädigter natürlicher bzw. juristischer Personen,
  • logistische Besonderheiten (z.B. Schlüsselregime, Zutrittsmöglichkeiten: zeitlich, örtlich, personell),
  • die funktionalen Seite des Tatortes, seine Lage im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld.

Diese gewonnenen Informationen sind zu vergleichen mit den eigenen Erkenntnissen und dem Bericht des Leiters des Sicherungsangriffs. Widersprüche sind herauszuarbeiten, zu registrieren und die Ursachen dafür zu bestimmen. Die Aussagen selbst sind schriftlich oder auf einem Tonträger zu fixieren.

Die Einsichtnahme in Unterlagen um spezielle bauliche Besonderheiten festzustellen, den Tatort in seiner räumlichen Ausdehnung und Anordnung einzuschätzen und bestimmte technologische Abläufe am Tatort festzustellen. Sie ergänzen die bisherigen Informationen und erlauben eine Überprüfung der bisherigen Aussagen und Erkenntnisse.

Gedankliche Rekonstruktion des Sachverhalts, um ein Modell23 zum Ereignis zu entwickeln, das Grundlage für die weiteren am Tatort durchzuführenden Ermittlungshandlungen ist. Die gedankliche Analyse des Sachverhaltes fasst die bisher gewonnen Erkenntnisse zusammen. Inhaltlich geht es darum, eine kriminalistische Lagebeurteilung vorzunehmen, um eine den Erfordernissen entsprechende Tatortuntersuchung einzuleiten. Im Rahmen der gedanklichen Rekonstruktion sind folgende Aspekte zu klären:

  • Art des Sachverhalts (z.B. Gefahrenlage, Verdacht der Straftat, Ordnungswidrigkeit, zivilrechtliche Angelegenheit),
  • Notwendigkeit der Einleitung von Sofortmaßnahmen,
  • Tatrekonstruktion anhand der möglichen Begehungsweise,
  • spurentragenden Bereiche und zu erwartende Spurenlage,
  • Wahrnehmbarkeitsbereich auf der Grundlage der Versionen/Hypothesen zur Begehungsweise und zu anderen Handlungsabläufen (z.B. Annäherung an den Tatort, Flucht).

Bei der Tatortbesichtigung werden zwei Besonderheiten deutlich.

Erstens, die gedanklich abgeleiteten Analyseergebnisse finden sofort praktische Umsetzung in der Durchführung der Tatortuntersuchung und der Ermittlung und Vernehmung von Zeugen. Es zeigt sich hier die unmittelbare Verbindung von theoretisch erlangten Erkenntnissen und ihrer Umsetzung in der Praxis.

Zweitens, die gedankliche Rekonstruktion des Ereignisses basiert auf Fakten und Versionen. Dies bedeutet für die Ermittlungstätigkeit, dass aufgrund des hypothetischen Charakters der gewonnenen Erkenntnisse nicht nur eine Ermittlungsrichtung verfolgt werden darf. Die Anforderungen an das Aufstellen und Arbeiten mit Versionen müssen in dieser Phase der Untersuchung unbedingt berücksichtigt werden.

Im Ergebnis der Tatortbesichtigung sind folgende Entscheidungen zu treffen:

  • Notwendigkeit von gefahrenabwehrenden Maßnahmen,
  • Beibehalten oder Präzisieren der Maßnahmen der Tatortsicherung (Erweiterung oder Verengung der äußeren Absperrung, Aufhebung einzelner Sicherungsmaßnahmen, Verfahrensweise gegenüber anwesenden potenziellen Zeugen usw.),
  • Benachrichtigung weiterer Kräfte, die die Tatortarbeit unterstützen sollen (Spezialkräfte, Staatsanwalt, Sachverständige),
  • Einleitung von Maßnahmen der Täterverfolgung (z.B. Fahndung, Einsatz eines Fährtenhundes),
  • Festlegung der methodischen Vorgehensweise und der Reihenfolge der Handlungen der Spurensuche am Tatort,
  • Festlegung des Wahrnehmbarkeitsbereiches und Einleitung von Ermittlungen und Befragungen (unter subjektivem Aspekt).

Um ein authentisches Bild der Tatortsituation vor der mit Veränderungen verbundenen Tatortuntersuchung zu gewinnen, ist es aus ermittlungstaktischer Sicht zweckmäßig, eine fotografische oder videographische Dokumentation des Tatortes vorzunehmen. Dies erfolgt in Form von Übersichtsaufnahmen, u.U. auch durch Teilübersichtsaufnahmen besonders gravierender Spurenkomplexe. Der Geschädigte oder der Tatortberechtigte ist über das Ausmaß, die eventuelle Zeitdauer und die Folgen der Tatortuntersuchung zu informieren.24

Bildquelle: Shutterstock.com.

Anmerkungen

  1. Prof. Dr. Holger Roll lehrt im Fachbereich Polizei der FHöVPR des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Der vorliegende Beitrag baut auf dem Fachaufsatz „Grundlagen der kriminalistischen Tatortarbeit“ in der „Kriminalpolizei“ 4/2017, S. 8 ff. auf.
  2. (PDV 100, 2011), Ziff. 2.2.3.
  3. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, 2011), S. 116.
  4. Vgl. hierzu (Roll, 2013), 41 ff.
  5. Vgl. hierzu (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 77.
  6. Vgl. hierzu (Roll, 2013), S. 56.
  7. Vgl. hierzu (Walder, 1964), S. 63; (Getto, 1998); (Roll, 2013), S. 46 ff; (Zimbardo & Gerrig, 2008).
  8. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (12).
  9. (Walder, 1964), S. 178.
  10. Vgl. hierzu (Clages, Kriminalistik, Lehrbuch für Ausbildung und Praxis, 1997), S. 33.
  11. Vgl. (Roll, 2013), S. 39.
  12. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 8.
  13. An dieser Stelle soll Bezug genommen werden zum Verhältnis von Version und Hypothese (die mit einer entsprechenden qualitativen Aussage wissenschaftlich belegt ist). Die Unterschiede bestehen u.a. darin, dass die kriminalistische Version
    1. - ad hoc - Charakter trägt (Erklärung kriminalistischer Einzelfragen und Erscheinungen); dem gegenüber ist die wissenschaftliche Hypothese auf die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet,
    2. - eine spezifisch kriminalistische Art einer Hypothese ist,
    3. - als begründete Vermutung, Annahme, Erklärungsweise, vorläufige Antwort in Bezug auf eine noch nicht sicher geklärte Frage der Untersuchung ausgerichtet ist,
    4. - an Ausgangsinformation im Einzelfall und kriminalistische Erfahrungen und kriminalistisches Wissen gebunden ist,
    5. - Wahrscheinlichkeitscharakter in differenzierter Ausprägung trägt,
    6. - darauf ausgerichtet ist, eine Einzelproblemlösung und keine Verallgemeinerung abzuleiten,
    7. - regelmäßig variantenhaft (verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für eine zu klärende Frage) ist und vielfach Alternativcharakter trägt (eine Erklärungsmöglichkeit schließt die andere aus).
      Zur weiteren Begriffsdiskussion von Version und Hypothese vgl. auch (Roll, 2013), S. 56 ff.
  14. Vgl. (Roll, 2013), S. 41.
  15. Vgl. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (12).
  16. Vgl. auch (Ackermann, Zusammenhang von kriminalistischer Hypothesen-/Versionsbildung und Fallanalyse, 2005).
  17. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, Handbuch der Kriminalistik, 4. Auflage, 2011), S. 53.
  18. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 90.
  19. Vgl. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (10).
  20. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 91.
  21. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, Handbuch der Kriminalistik, 4. Auflage, 2011), S. 142.
  22. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 93,
  23. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 53 ff.
  24. In den Folgeausgaben der Zeitschrift wird die Erläuterung methodischer Grundlagen der Tatortarbeit fortgesetzt.
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