Kriminalität

Methodische Grund­lagen der Tatortarbeit

 2.2 Versions-/Hypothesenbildung

Eine zweite wesentliche Komponente der gedanklichen Tätigkeit am Tatort ist die Versions-/Hypothesenbildung.13 Die kriminalistische Version/Hypothese ist eine auf Tatsachen bzw. auf Informationen beruhende, hypothetische, in der Regel variantenhafte bzw. alternative Erklärungsweise für kriminalistisch relevante Sachverhalte, abgeleitet aus der Erkenntnis ihrer kausalen Bedingtheit unter besonderer Berücksichtigung der materiellen und ideellen Widerspiegelungen des kriminalistisch relevanten Ereignisses. Das Aufstellen von Versionen/Hypothesen/gedanklichen Modellen ergibt sich aus einzelnen Besonderheiten des kriminalistisch relevanten Ereignisses. Hervorzuheben sind

  • das Handeln unter Informationsdefizit,
  • Lücken im Wissen,
  • selektive Kenntnisse,
  • vielfach differenzierte Interpretierbarkeit von Informationen.

Diese Besonderheiten erfordern Varianten in der gedanklichen Tätigkeit. Das ist im Rahmen der kriminalistischen Ermittlungen nur durch die Bildung von Versionen/Hypothesen zu erreichen. Sie geben den Ermittlungshandlungen eine erste Richtung. Eingeordnet ist die Versionsbildung in den Gesamtkontext des kriminalistischen Denkens. Durch eingeleitete Ermittlungshandlungen werden weitere Erkenntnisse erlangt. Das bisher vorhandene Informationspotenzial wird ergänzt und präzisiert. Die aufgestellten Versionen werden in der Realität überprüft, um Widersprüche aufzudecken und weitere Spuren festzustellen. Es entsteht in dieser Phase ein erstes gedankliches Modell (Tatrekonstruktion).

Für das Aufstellen von Versionen am Tatort lassen sich methodisch folgende Hinweise ableiten:

  • Die Arbeit mit kriminalistischen Versionen hat stetig zu erfolgen. Grundlage dafür ist die sich entwickelnde und verändernde Informationsbasis während der Tatortarbeit.
  • Für die Arbeit mit Versionen sind alle in der konkreten Sache (Täter, Motiv, Begehungsweise etc.) theoretisch denkbaren Versionen aufzustellen. Das bedeutet, dass man nicht schon zu Beginn einer kriminalistischen Untersuchung Versionen ausschließen darf, sondern alle möglichen Versionen sind abzuleiten und in die Überprüfung einzubeziehen.
  • Alle, in der konkreten Sache verfügbaren Informationen sind bei der Bildung der Versionen zugrunde zu legen.
  • Die Auswertung vorhandener Informationen hat objektiv zu erfolgen und ist vorrangig auf Fakten zu stützen.
  • Bei Daten, die stark subjektiv geprägt sein können (z.B. Zeugenaussagen, Aussagen von Geschädigten und Opfern), ist der Grad der subjektiven Prägung zu bestimmen und dieser bei der Auswertung zu berücksichtigen.
  • Vorhandene Widersprüche in den Ausgangsdaten müssen erkannt werden. Bei gravierenden Widersprüchen sollte unter Umständen vorläufig auf die Versionsbildung verzichtet werden. Widersprüche können auch zur Grundlage alternativer Versionen gemacht werden. Aufgestellte Versionen müssen in sich widerspruchsfrei sein und dürfen nicht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesicherten Alltagserkenntnissen sein.
  • In Betracht gezogene Versionen müssen (in einem gerechtfertigten Zeitraum und mit einem der Sache gerecht werdendem Aufwand) überprüfbar sein.
  • Für die Versionsbildung sind neben den notwendigen Ausgangsinformationen vor allem kriminalistische Erfahrungen und das intuitive Vermögen des Kriminalisten zu nutzen.
  • Im Prozess der Überprüfung sind Versionen ständig zu vervollständigen, zu präzisieren, zu verifizieren bzw. falsifizieren.
  • Die Überprüfung der Versionen stellt einen dynamischen und permanenten Prozess dar. Ständig ergeben sich bei Bestätigung oder Widerlegung von Versionen neue Tatsachen, neue Fakten, die überprüft werden müssen. Diese Tatsachen können selbst auch wieder Ausgangspunkt von neuen Versionen sein.
  • Sofern nicht alle aufgestellten Versionen zugleich und parallel überprüfbar sind, gilt es Vorrangigkeitskriterien festzulegen, nach denen die Überprüfung erfolgt.
  • Versionen beziehen sich auf drei Zeitebenen:
    • Vergangenheit (z.B. Rekonstruktion der Begehungsweise),
    • Gegenwart (z.B. mögliche spurentragende Bereiche),
    • Zukunft (z.B. Versionen zum Fluchtverhalten, um Verfolgungsmaßnahmen einzuleiten).
  • Versionen sind nie als Wahrheit anzusehen. Sie stellen immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage dar. Sie sind keine Beweise, sondern sind im Prozess der Beweisführung immer nur eine Zwischenstufe zur Erlangung von Beweisen. Sie geben damit den Weg der Beweisführung vor (z.B. im Rahmen der Tatortarbeit zum Auffinden weiterer Beweismittel).


Bildquelle: shutterstock.com

3 Methodisches Vorgehen am Tatort


3.1 Tatortsicherung

Die Tatortsicherung umfasst die Maßnahmen, die zur Sicherung des objektiven und subjektiven Tatbefundes eingeleitet werden. Im Fokus der polizeilichen Handlungen am Tatort unter kriminalistischen Aspekten stehen

das Bewahren der Situation am Tatort bei Eintreffen der Polizei,

der Schutz und die Sicherung des objektiven und subjektiven Tatortbefundes.

Inhaltlich ist die Tatortsicherung geprägt von:

  • einer ersten Situationsanalyse,
  • dem Feststellen und Bestimmen der Tatortgrenzen,
  • dem Absperren des Tatortes,
  • dem Schutz des objektiven Tatortbefundes,
  • dem Schutz des subjektiven Tatortbefundes.

In Abhängigkeit von der konkreten Situation14 sind diese Bestandteile der Tatortsicherung nicht zwingend in dieser Reihenfolge notwendig. Sie können parallel oder auch in einer anderen Reihenfolge durchgeführt werden.

3.1.1 Erste Situationsanalyse

Um die Tatortsicherung einzuleiten, bedarf es eines Mindestmaßes an Informationen. Grundlage für die Situationsanalyse ist das kriminalistische Denken und die damit im Zusammenhang stehenden Gedächtnisprozesse15. In der ersten Phase der Situationsanalyse16 geht es darum, den Tatort zu besichtigen und festzustellen welche Personen (z.B. Tatortberechtigte, An­zeigenerstatter) anwesend sind und wie deren rechtlicher Status sich darstellt. Diese sind zu befragen/vernehmen. Ergebnis ist, festzustellen, welchen allgemeinen Charakter das Ereignis aufweist und ob und in welchem Umfang gefahrenabwehrende Maßnahmen einzuleiten sind. Danach erfolgt die weitere Analyse, um Hinweise abzuleiten

  • zur Art des Tatortes (z.B. Tatort im Freien, Gebäude, Wohnung, Büroräume),
  • zur territorialen Lage und der vermutlichen Grenzen des Tatortes,
  • zu am Tatort angetroffenen Personen und den Gründen ihrer Anwesenheit,
  • zur Gefährdung der Tatortsituation einschließlich der Spurensituation,
  • zur Möglichkeit den Tatort zu betreten ohne die Spurensituation zu verändern.
  • Die Feststellungen sind zu registrieren und zu dokumentieren.