Recht und Justiz

Mord bei Tötung durch Autoraserei?

Zunächst ist einzuräumen, dass die Gesamtumstände der Berliner Autoraserei in der Nacht zum 1.2.2016 und dem zum Schluss tragischen Tod des Jeepfahrers W, konkreten Lebensgefährdungen weiterer am Unfallort anwesender Fußgänger und einem „Trümmerfeld nicht gekannten Ausmaßes“ eine äußerst harte Bestrafung der beiden beteiligten Raser nur konsequent erscheinen ließen, zumal illegale Straßenrennen gerade in Großstädten zu einem hoch gefährlichen Problem geworden sind. Hinzu kommen bei H – anders als bei dem nicht vorbestraften N – seine mehrfachen Vorstrafen auch, aber nicht nur, in verkehrsrechtlicher Hinsicht und bei beiden eine Vielzahl von geahndeten Verkehrsordnungswidrigkeiten, darunter zahlreiche Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Insbesondere bei H, aber auch bei N drängt sich bei diesen erheblichen Vorbelastungen der Eindruck auf, dass sie sich im Straßenverkehr ihre eigenen Regeln machen, offensichtlich bis zum konkreten Vorfall völlig unbeeindruckt von staatlichen Sanktionen. Es gab bis dahin wohl niemanden, der sie davon hätte abbringen können, ihr mehr als verkehrsrüpelhaftes Verhalten einzudämmen oder gar zu beenden. Im Gegenteil, der entschiedene Fall, in dem zum ersten Mal ein anderer unschuldiger Verkehrsteilnehmer getötet worden ist, macht dies deutlich. Also lag es nahe, von der Justiz endlich überdeutliche Zeichen zu setzen, um einer „tickenden Zeitbombe“ ein Ende zu bereiten und eine ständige große Gefährdung der Allgemeinheit durch zwei Autoraser zu unterbinden. In dieser auch für das LG angespannten psychologischen Situation mit ganz erheblicher öffentlicher Aufmerksamkeit hat sicher nicht zuletzt die Frage eine Rolle gespielt, ob die bisherigen strafrechtlichen Sanktionen bei Tötungsfällen im Zusammenhang mit Autoraserei noch angemessen sind und zudem präventiv erfolgreich sein können. Dabei sei nicht unerwähnt, dass der Gesetzgeber, allerdings nach der Tat von H und N und nach der Entscheidung des LG, bereits insoweit reagiert hat, als seit Oktober 2017 nach dem neu gefassten § 315d StGB Raser stärker bestraft werden können mit ausnahmsweise von einem bis zu zehn Jahren Haft bei illegalen Autorennen, bei denen ein anderer Mensch getötet oder schwer verletzt wurde.

Vor diesem Hintergrund musste sich die 35. Große Strafkammer des LG eigentlich zwangsläufig damit auseinandersetzen, ob bei Tötungen durch illegale Autorennen und Autoraserei über den Tatbestand der fahrlässigen Tötung hinaus auch eine vorsätzliche Tötung bis hin zum Mord nach den §§ 211, 212 StGB in Betracht komme. Fokussiert allerdings wegen der erforderlichen Nachweisbarkeit unter den gegebenen Umständen auf die in Rechtsprechung und Literatur hoch umstrittene schwächste Vorsatzform, den Eventualvorsatz, und mit dem herausfordernden Wagnis, strafrechtliches Neuland zu betreten mit revisionsrechtrechtlich sicher interessanten „Fallstricken“.

Das LG, insoweit durchaus spannend, ist dieses Wagnis eingegangen und kann sich zumindest darauf berufen, dass nach der BGH-Rechtsprechung die Anforderungen an den bedingten Vorsatz, nicht zuletzt in der notwendigen Abgrenzung zur „bewussten Fahrlässigkeit“, nicht überspannt werden dürfen. Verlangt wird dazu allerdings eine Gesamtschau aller relevanten objektiven und subjektiven Tatumstände. Und: Der Tatrichter (LG) dürfe den Beweiswert der offensichtlichen Lebensgefährlichkeit einer Handlungsweise nicht so gering veranschlagen, dass auf eine eingehende Würdigung weiterer Beweisanzeichen verzichtet werde. Dabei sei es (jedoch) zulässig, einen objektiven Tatumstand (hier das hochgefährliche Verhalten von H und N) als Indiz für die besonders schwierige subjektive Tatseite zu würdigen. Auf der anderen Seite dann aber die, später allerdings etwas eingeschränkte, „Hemmschwellentheorie“ des BGH, sprich: Zugrundelegung einer besonders hohen Hemmschwelle des Täters vor Bildung eines Tötungsvorsatzes. Und letztlich: Maßgebend sei – so wurde von der Vorsitzenden Richterin des 4. Strafsenats des BGH Sost-Scheible am 1.3.2018 nochmals betont, der konkrete Einzelfall.

In seiner Stellungnahme zum Urteil hat Eisele – die BGH-Entscheidung unterstützend – darauf hingewiesen, dass dem LG Berlin ein „folgenschwerer Fehler“ unterlaufen sei, weil es „zentrale Grundlagen der Dogmatik des Allgemeinen Teils (des StGB) nicht beachtet“ habe. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft habe in der mündlichen Verhandlung von einer „Achillesferse des Urteils“ gesprochen: Das LG habe in seinem Urteil insoweit ausgeführt, dass der Angeklagte H „absolut unfähig gewesen sei, noch zu reagieren“. Wenn dem aber so sei, fehle es bereits an einer Tathandlung, die den qualitativen Anforderungen an eine Handlung im strafrechtlichen Sinne genüge. Insofern bedürfe es nämlich eines menschlich beherrschbaren, d.h. vom Willen getragenen, Verhaltens. „War das Verhalten zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr beherrschbar, so kommt als Anknüpfungspunkt einer Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Verhaltens nur ein früherer Zeitpunkt der Fahrt in Betracht. Für einen solchen früheren Zeitpunkt stellt das erstinstanzliche Urteil jedoch keinen Vorsatz fest, woran der BGH gebunden war.“

In diesem Zusammenhang ist der Hinweis des BGH in seinem Revisionsurteil für die erneute Entscheidung des „Raser-Falles“ durch eine andere Strafkammer des LG von großer Bedeutung, dass „sich das gesamte Renngeschehen – entgegen der Auffassung der Strafkammer – alseine prozessuale Tat“ darstelle. Damit wird Raum eröffnet, einen eventuellen Tötungsvorsatz beider Angeklagter zumindest auf einen deutlich früheren Zeitpunkt der Raserei zu beziehen, in dem das Geschehen für sie noch voll beherrschbar war. Bei einer solchen neuen dogmatisch sauberen Anknüpfung spricht für die Annahme eines Eventualvorsatzes bei H und N in der vom BGH geforderten Gesamtschau aller relevanten objektiven und subjektiven Tatumstände ihre hoch lebensgefährdende Vorgehensweise bei der spontanen Austragung ihres Rennens zwar abends bzw. nachts, aber im Herzen einer Millionenstadt, in der Straßenverkehr praktisch rund um die Uhr stattfindet und mit vielfachen Möglichkeiten, andere sich ordnungsgemäß verhaltende unschuldige Verkehrsteilnehmer ernsthaft an Leib und Leben zu gefährden.

Dass die beiden Angeklagten hierum wussten (Wissenselement), erscheint kaum widerlegbar. Was das Wollenselement beim bedingten Vorsatz angeht, so fällt es allerdings schwer – und hier kommt vor allem die subjektive Seite ins Spiel – anzunehmen, dass sich beide mit der Tötung von anderen Verkehrsteilnehmern wirklich abgefunden oder sie gar „billigend in Kauf genommen“ hatten. Gab es für H und N ungeachtet ihrer Raserpsyche, wie von Walter durchaus eindrucksvoll beschrieben, nicht doch eine Hemmschwelle für die Tötung oder auch „nur“ schwere Verletzung anderer Menschen durch „wilde“ Autorennen. Bis zum Tattag hatten sie ja damit offensichtlich noch nie zu tun gehabt. Dabei ist der Verfasser nicht der Auffassung, dass die Raserpsyche dazu führen wird und muss, dass entsprechende Hemmschwellen vollkommen eliminiert werden. Dies würde der allgemeinen Lebenserfahrung nicht gerecht werden und ist für das unverantwortliche Verhalten von H und N nicht klar belegt.

Zwar hat der BGH selbst davor gewarnt, an das Willenselement beim Eventualvorsatz zu hohe Anforderungen zu stellen. Aber nochmals: Welchen einsichtigen Beweggrund hätten H und N denn hier haben sollen, innerhalb des Rennens ungeachtet eines unbändigen irren Siegerwillens Unbeteiligte zu töten? Das ist nach dem vollen Tatgeschehen jedenfalls nicht ohne weiteres ersichtlich.

In diesem Zusammenhang kann der Verfasser dem LG-Urteil auch insoweit nicht folgen, als dort angenommen wird, dass sich der (Eventual-)Vorsatz bei H und N zur Tötung ihres Opfers erst im Laufe des Rennens kurz vor dem Zusammenstoß des H mit dem Jeep des W „entwickelt“ habe. Bei der Rasermentalität und -psyche der beiden Angeklagten dürfte abgesehen von ihrer im Revisionsurteil zu Recht herausgestellten Handlungsunfähigkeit in diesem Zeitpunkt, eine dann plötzlich entstehende „Vorsatzentwicklung“ lebensfremd, ja abwegig sein. Wo und wie sollte dazu in ihren wirren, mit Siegeswillen voll ausgefüllten Köpfen dazu noch Raum gewesen sein?

Mit dem Revisionsurteil des BGH kann aber auch die argumentativ nicht sehr scharfsinnig und fokussiert vorgenommene Auseinandersetzung des LG Berlin mit dem in der Tat sehr bedeutsamen vorsatzkritischen Aspekt einer möglichen unfallbedingten Eigengefährdung der beiden Angeklagten in keiner Weise überzeugen. Dazu greift das LG auf angebliche Erfahrungssätze hinsichtlich bestimmter Autofahrertypen in bestimmten Fahrzeugen zurück, die zwar unter Verkehrsteilnehmern ganz populär sein mögen, aber strafrechtlich so nicht fassbar und in Bezug auf die beiden Angeklagten in der Tat so auch nicht überzeugend belegt worden sind. Ob eine andere Strafkammer des LG Berlin insoweit auf weitere Tatumstände stößt, die diesen für oder gegen die Vorsatzannahme bedeutsamen Aspekt in der einen oder anderen Weise neu rechtlich tragfähig beleuchten können, mag hier dahingestellt bleiben.