Kriminalität

Megatrends und aktuelle Herausforderungen an die Kriminalistik

Von LKD Ralph Berthel, Frankenberg

10 Kriminalistik 2.0


Der Begriff Kriminalistik 2.0 wurde maßgeblich durch das Bundeskriminalamt und seinen ehemaligen Präsidenten Jörg Ziercke geprägt. Er entstand in Anlehnung an den bereits 2004 entwickelten Begriff Web 2.0.40 Im Wesentlichen werden damit inhaltlich die folgenden Herausforderungen an die Kriminalistik verbunden:
Das Internet ist die perfekte Plattform zur Begehung von Straftaten: Schnell, anonym, weltweit vernetzt.
Cybercrime hat das Potential zum Massendelikt: Spezifische Täter-Kenntnisse sind nicht zwingend notwendig. Zugänge und Tatgelegenheiten sind nahezu unbegrenzt. Jeder kann Opfer werden: Bürger, Unternehmen, Staat.
Die Innovationszyklen krimineller Tatbegehungsweisen werden immer kürzer: Täter sind höchst flexibel, suchen immer nach neuen Einfallstoren und nutzen jede technische Möglichkeit für ihre Zwecke.
Kommunikation und Interaktion im Internet wird anonymer: Verschlüsselung, Kryptierung und Anonymisierung nehmen deutlich zu.
Nationale Grenzen sind irrelevant: Tatorte, Taterfolgsorte und Aufenthaltsort der Täter sind unabhängig voneinander. Beweismittel finden sich nicht mehr durchgängig am Tatort, sondern ausgelagert in einer Cloud.
Es gibt kein eindeutiges Profil von Cyberkriminellen: Vom Amateur bis zum Profi sind alle technischen Fähigkeiten vertreten, die Motivlagen sind höchst unterschiedlich: Monetäre, ideologische, politische Ziele treten unabhängig voneinander auf oder vermischen sich.
Die Sicherheitsakteure sind gefordert, auf der Höhe der Zeit zu bleiben: Technische Voraussetzungen, geschultes Personal, rechtlich geeignete Rahmenbedingungen und hohe Anpassungsfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden sind national und international durchgängig notwendig.
Sicherheit im Internet kann nur durch Kooperationen gewährleistet werden: Schulterschlüsse zwischen Nationen, enge Kooperationen mit Wirtschaft und Wissenschaft sowie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Sicherheitsbehörden sind die Schlüssel einer effektiven Bekämpfung, um das notwendige Vertrauen ins Internet zu bewahren.41

11 Fazit


11.1 Die großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen unserer Zeit üben nicht nur prägenden Einfluss auf Tiefenstruktur, Verhaltensweisen, Lebensweisen und Wertesysteme in einer Gesellschaft aus. Sie fordern auch alle Akteure der inneren Sicherheit. Sie beeinflussen zudem das Sicherheitsgefühl und nicht zuletzt auch das Agieren dieser Akteure. Die Kriminalistik ist als Wissenschaftsdisziplin aufgefordert, diese Entwicklungen antizipativ aufzunehmen und auf der Basis der ihr eigenen Methodik, Ideen und Konzepte vorzustellen und Beleg- und Nachweisbares postfaktischen Ideengebilden entgegenzusetzen. Es scheint keineswegs vermessen, insbesondere der Kriminalstrategie als Teildisziplin der Kriminalistik einen wichtigen Platz bei der Gewährleistung von Stabilität in der Gesellschaft der Zukunft zuzuweisen. Sie muss mithin in Anbetracht der gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen im Sinne der hier verwendeten Definition ihren Beitrag zur theoretisch fundierten Planung und Organisation der Gesamtheit der Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung leisten und dabei immer wieder Angebote an die Politik und die Öffentlichkeit unterbreiten.

11.2 Den dargestellten Herausforderungen kann sich die Kriminalistik als Wissenschaft nur stellen, wenn sie einen institutionellen Background hat. Dieser sollte über die in der Bundesrepublik des Jahres 2017 sehr überschaubaren kriminalistisch-kriminologische Forschungskapazitäten hinaus reichen. Dabei sollten abgestimmte Forschungsvorhaben mit einem strukturierten und ebenfalls abgestimmten Monitoringprozess gesellschaftlicher Entwicklungen einhergehen. Dafür benötigt Kriminalistik als Wissenschaft eine deutlich stärkere institutionelle Verankerung. Kriminalistisch-Kriminologische Forschungseinrichtungen in LKÄ und beim BKA bilden dafür eine Keimzelle, Es bedarf aber eines Think Tanks Kriminalistik, um in einem Monitoringprozess gesellschaftliche Entwicklungen aus kriminalistisch-kriminologischer Perspektive beobachten und daraus sowohl Probleme definieren, Prognosen entwickeln und Handlungsnotwendigkeiten aufzeigen zu können sowie Entscheidungsvorschläge etwa für politische Entscheidungsträger zu generieren. Kriminalistische Forschung sollte dabei in Verbünden organisiert werden, um einerseits die knappen Ressourcen sinnvoll zu nutzen und gleichzeitig parallele Entwicklungen zu vermeiden.

11.3 Nicht zu vernachlässigen ist die Aufgabe, Entwicklungen bzw. Reaktionsmuster der Medien zu analysieren und auch daraus Schlüsse ableiten zu können. Erste, zugegeben sehr vorsichtige Schritte beschreiten die Polizeien seit wenigen Jahren bereits im Rahmen ihrer Social Media Präsenz.

11.4 Hauptakteure bei der Anwendung, wie auch der Weiterentwicklung der Kriminalistik werden auch weiterhin die Polizeien sein. Allerdings gilt es sowohl die Bedarfe als auch die Ressourcen privater Sicherheitsakteure mehr als bisher einzubeziehen. Es gilt auch, weitere Kooperationen etwa mit der Informatik, Migrationsforschung oder Religionswissenschaft zu finden und die zu verstetigen oder in Projektorganisationen zu gestalten.

11.5 Die Kriminalistik und dabei insbesondere die Kriminalstrategie wird eine zunehmend wichtigere Rolle an Scharnierstellen zur Kriminal-, Sicherheits- und Justizpolitik ausfüllen müssen, will man nicht postfaktischen Ideen und populistisch determinierten und von Patikularinteressen geleiteten Entwicklungen der Interpretation der Sicherheitslage und der sich daraus abzuleitenden kriminalistischen Handlungserfordernissen unterliegen.

11.6 Die Kriminalistik muss ihre Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung unabhängig von Organisations- bzw. Haushaltzwängen in Ländern und Bund vornehmen; allerdings muss sie künftig deutlicher als bisher auch zur Ressourcenseite Position ergreifen. Kriminalistik muss dabei Kooperationen mit Organisations- und Betriebswirtschaft eingehen.

11.7 Für die Polizeien, die Hauptanwender wissenschaftlicher Kriminalistik, erscheint eine Öffnung für außerpolizeiliche Studienabschlüsse der Kriminalistik als ein Gebot der Stunde, um aktuelle Entwicklungen abgreifen zu können und intellektuelles Potential zu erschließen. Hemmende und unzeitgemäße beamten- bzw. laufbahnrechtliche Vorbehalte sollten dabei dringend und schnellstens über Bord geworfen werden.

11.8 Nicht zuletzt geht es auch um den Anspruch auf Erkennen und Vermitteln von Wahrheit über das Verbrechen, ein Kernziel der Kriminalistik. Es geht dabei auch um Deutungshoheit und die Vermittlung von Bewiesenem. Kriminalistisches Wissen und die darauf fußenden Erkenntnisse zu sicherheitsrelevanten Entwicklungen werden in der künftigen öffentlichen Debatte eine immer stärkere Bedeutung erlangen. Diese Deutungs- und Vermittlungshoheit sollten Fachleute zumindest versuchen zurück zu erlangen

„Die Zukunft der Kriminalistik liegt in der Innovation, nicht in der Improvisation.“42 Ohne eine eigenständige kriminalistische Forschung, die neben den Feldern Technik und Taktik auch die strategische Komponente der Kriminalistik einschließt, kann keine zukunftsfähige Kriminalistik existieren, die die Entwicklungen unserer Gesellschaft nicht nur beobachtet, sondern deren Herausforderungen aufgreift, aus kriminalwissenschaftlicher Sicht wertet und Schlüsse ableitet. Kriminalstrategie sollte also künftig noch mehr als heute als die Teildisziplin der Kriminalistik verstanden werden, die Bindeglied zur Innen-, Sicherheits-, Außen- und Justizpolitik darstellt. Eine Institutionalisierung eines Monitorings gesellschaftlicher Entwicklungen ist dabei ebenso ein Gebot der Zeit, wie die Weiterentwicklung der Kriminalistik als universitäre Disziplin.