Internationaler Terrorismus

Die „Muhajirat“:

Warum reisen Frauen ins Herrschaftsgebiet des IS?


Darüber hinaus finden wir in den Publikationen Ausführungen, die das Verhältnis von Frau und Mann innerhalb der Familie festlegen. Der Mann wird als verantwortlich für die Frau und ihr Handeln beschrieben. Ihm obliege es, der Frau Verbote aufzuerlegen, wenn sie Scharia-Regeln überschreite.8 Zugleich wird das Bild eines Ehemannes gezeichnet, der sich um sie kümmert: Er soll ihr zugewandt sein und ausreichend Zeit mit ihr verbringen. Der IS kritisiert die Ehemänner, die „mit der Zeit [für ihre Frauen] geizen“ und sie „mit Gleichgültigkeit überhäufen“.9 Die Umschreibung des männlichen Rollenmodells in der Ehe beinhaltet einen zentralen Aspekt der IS-Geschlechterideologie: Hier wird ein Gegenbild zum kämpfenden Jihadisten skizziert. Der Mann wird als empfindsam dargestellt, als jemand, der kämpfen kann und hypermaskulin ist, sich aber gefühlvoll gegenüber seiner Ehefrau verhält und für sie sorgt und sie beschützt.
Die Frau wiederum solle ihrem Mann in seinem Sein und Handeln unterstützen. So ruft eine angebliche „Muhajira“ ihre Glaubensschwestern dazu auf, ihre „Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne“ zu beraten, sie zu trösten und zu unterstützen: „Macht die Dinge nicht schwer für sie. Erleichtert alle Angelegenheiten für sie.“10 Zentral ist dabei die Rolle des Mannes beim Jihad, als eine Teilnahme am bewaffneten Kampf und seine daraus resultierende Abwesenheit vom Haus. Hier reagiert der IS auf aktuelle Herausforderungen, die das Leben in seinem Herrschaftsgebiet betreffen. Das deutet darauf hin, dass die Propaganda sowohl an die Frauen gerichtet ist, die zur „Hijra“ motiviert werden sollen, als auch an diejenigen, die bereits im „Kalifat“ leben.

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In einem anderen Artikel, der ebenfalls an die Frauen im IS-Herrschaftsgebiet gerichtet ist, widmet sich der IS den religiösen Regeln zum Verhalten der Frau nach dem Tod ihres Mannes.11 Die Notwendigkeit zu einem solchen Beitrag scheint sich aus der stetig steigenden Zahl von getöteten IS-Jihadisten ergeben zu haben: Die wachsende Anzahl von Witwen wird auf diesem Wege über die islamischen Regeln, die im Zusammenhang mit dem Tod des Ehemannes zu berücksichtigen sind, informiert.

Frauen im Jihad


Entsprechend dem binären Rollenbild, ist es nicht vorgesehen, dass die Frau am Jihad als bewaffneten Kampf teilnimmt. In den Publikationen wird betont, dass die Frau vom Jihad „entschuldigt“ sei.12 An anderer Stelle heißt es, die Teilnahme am Jihad sei ihr „nicht ermöglicht“, was noch stärker darauf hinweist, dass Frauen nicht für den Kampf vorgesehen sind.13 Es werden jedoch verschiedene Hilfsdienste und unterstützende Tätigkeiten erörtert, die für den bewaffneten Kampf wichtig seien. So ist in einem Artikel mit dem Titel „Oh Frauen gebt Almosen!“ die Rede vom „Jihad mit dem Vermögen“. Frauen werden aufgefordert, Geld zu spenden. Auf diese Weise würden sie einen Beitrag zum Jihad leisten, weil die „Mujahidun“, also die Kämpfer, damit ihre Ausrüstung kaufen. Dabei erfolgt eine Heroisierung ihrer Unterstützung: Denn schließlich, so die Propaganda, seien es die mit dem Geld der Frauen ausgestatteten „Mujahidun“, welche die Religion verbreiten und die „Ungläubigen“ demütigen.14
Die Heroisierung der Unterstützung wird auch für den „Jihad mit dem Bittgebet“ deutlich. Diese Form des Jihad sei für die Frau verpflichtend, weil sie nicht am bewaffneten Kampf teilnehmen könne. Das Bittgebet, bei dem Gott angerufen wird, um zum Beispiel Beistand in Not zu erbitten, sei laut der IS-Autoren eine „zerstörerische Waffe“: „Dadurch werden die Katastrophen aufgehoben und das Verderben abgewendet. Damit wehrt der Gläubige die List der Feinde ab, erlangt die Gaben und verhindert Unglück.“15
Ein beliebtes weibliches Rollenvorbild ist die historische Figur al-Khansa, die im 7. Jahrhundert lebte und häufig von Jihadisten angeführt wird, um die unterstützenden Möglichkeiten der Frau beim Jihad zu skizzieren. Auch der IS greift in seinen Publikationen auf dieses Rollenmodell zurück und nennt al-Khansa als Vorbild für die „Unterstützung des Ehemannes und des Sohnes.“ Dabei bezieht sich der IS auf die tradierte Geschichte, nach der al-Khansa ihre vier Söhne motiviert habe, den Jihad zu kämpfen, und sie somit in den Tod geschickt haben soll. Nach dem Tod ihrer Söhne soll sie gesagt haben: „Gelobt sei Gott, der mich mit ihrem Tod geehrt hat.“16
Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass der IS eine gleichnamige Brigade etabliert hat, die in den Medien zuweilen als militante Frauengruppe der Organisation dargestellt wird. Tatsächlich handelt es sich bei der Khansa-Brigade jedoch um eine Art Sittenpolizei, mit der der IS die Frauen in seinem Herrschaftsgebiet drangsaliert: Die Aktivistinnen der Brigade werden dafür eingesetzt, Frauen, die gegen die von dem IS propagierten moralischen Normen verstoßen, zu verfolgen, zu verwarnen oder zu verhaften.
Wenngleich die Teilnahme von Frauen beim bewaffneten Kampf in den IS-Publikationen theoretisch ausgeschlossen wird, so erfolgt doch eine Synchronisation der Geschlechterideologie mit der Realität. Der IS reagiert in seinen Publikationen auf so genannte Einzeltäterinnen, Frauen, die ohne feste Anbindung an den militärischen Bereich des IS Anschläge unter dem Banner der Organisation verübten. Die drei Frauen, die 2016 in Kenia an einer Polizeistation einen Angriff mit Messern und einer Handgranate durchführten, werden gelobt, weil sie den IS in seinem Kampf gegen die „Kreuzzügler-Staaten“ unterstützten.17
Auch über das Paar, Rizwan Farook und Tashfeen Malik, das Ende 2015 in den USA einen Anschlag in einer Einrichtung für Behinderte durchführte, wird berichtet. Beiden wäre der Segen Gottes zuteil geworden, weil sie zusammen herausgegangen sind, um für die Verteidigung des „Kalifats“ gegen die „Kreuzritter“ zu kämpfen: „Möge Gott das Opfer unseres edlen Bruders Rizwan Farook und seiner gesegneten Frau akzeptieren und sie unter den Märtyrern annehmen.“
Bemerkenswert ist, dass der IS das Beispiel der weiblichen Attentäterin hervorhebt, um die Männer, die sich bisher noch nicht für die Aufnahme militanter Aktionen entschieden haben, zu diskreditieren. So heißt es in dem Beitrag, dass Tashfeen Malik ihre Tat in einer Zeit durchgeführt habe, in der viele männliche Muslime sich von der „Pflicht zum Jihad“ abgewendet haben. Der Tenor dahinter: Wenn es eine ausreichende Anzahl von Männern gäbe, die den Jihad kämpft, müsste sich keine Frau dazu aufmachen.18