Morde 1950 bis 2015

Von Birger Antholz, Kriminologe, Hamburg

1. Einleitung


Vollendete Morde stehen als Kapitaldelikt im Zentrum der Presseberichtserstattung über Kriminalität. Morde sind aber auch ein verzerrungsfreier Indikator für die Höhe der Kriminalität einer Gesellschaft. 68% der Bundesbürger sagen bei einer aktuellen Befragung, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen zwei bis drei Jahren eher oder stark verschlechtert habe. Die Medien gehen ähnlich „nach der steigenden Zahl von Gewalttaten und der wachsenden Brutalität“ von einem zunehmenden Kriminalitätstrend aus (Welt 22.10.2016). Ob die Kriminalität sich tatsächlich so dramatisch entwickelt, könnte mit einem Blick auf die zeitliche Entwicklung des Indikators Mord überprüft werden. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden: wie hat sich die Anzahl der Mordfälle 1950 bis 2015 entwickelt?
Für die nachfolgende Zeitreihe werden die Mordzahlen 1950 bis 1990 auf Basis von Westdeutschland inklusive West-Berlin aufgestellt. Grundlage ist die Polizeiliche Kriminalstatistik PKS, die es seit 1953 gibt. D.h. es werden die Morde nach der Polizeistatistik und nicht nach anderen Quellen aufgestellt. Es werden vollendete Morde und Totschläge erfasst, d.h. Versuche sind ausgeklammert. Die Einbeziehung von Kindestötungen (innerhalb der ersten 24 Stunden) startet nach einer Gesetzesänderung ab 1999. Ab 1991 erfolgt die Einbeziehung der Fälle Ostdeutschlands (bis 1992 unvollständig). 1992-1998 werden in der PKS DDR-Grenzmorde mit erfasst. Vollendete Morde und Totschläge werden zusammengefasst dargestellt (= vorsätzliche Tötungen), auch wenn manchmal vereinfachend nur von Mord die Rede ist. Es wird die Anzahl der Fälle dargestellt; die Anzahl der Mordopfer wäre 8% höher, ist aber in der PKS 1950-1970 und 1993 nicht ausgewiesen.

2. Anstieg der Morde 1950 bis 1993

Für die Anzahl der vollendeten Morde und Totschläge erfolgt für 1953 die erste Angabe: 325 Fälle. Für die Zeit von 1950 bis 1952 gibt es in der PKS keine getrennte Angabe für vollendete und versuchte Tötungsdelikte, sondern nur zusammengefasste Zahlen. 1953 sind es inklusive Versuche und Kindestötungen 1048 Fälle. Im Jahr 1952 liegt diese Zahl mit 992 ähnlich hoch, weshalb es wahrscheinlich 300 Morde in 1952 gibt. Aber 1950 (1639 Fälle) und 1951 liegt diese mit 1754 Fällen erheblich höher. Das lässt vermuten, dass 1950 500 und 1951 550 vollendete Mord und Totschläge in der Polizeistatistik erfasst werden. Noch einmal die Anfangsjahre im Überblick: 1950 500 Morde, 1951 550 Morde, 1952 300 Morde, 1953 325 Morde.
Weil die erste offizielle Angabe der Polizei über Morde die Zahl 325 Morde für 1953 ist und sich dieses 300er Mord-Niveau die ganzen 1950er Jahre hält, könnte man annehmen, dass die Anfangsjahre nach dem 2. Weltkrieg durch wenige Morde gekennzeichnet sind. Das stimmt aber nicht. Wie die Angaben über Ostdeutschland 2208 Morde in 1946 (Wirth/Kroll: Morduntersuchung in der DDR, 2014, S. 18) und 941 in 1947 zeigen, lag die Mordanzahl direkt nach dem 2. Weltkrieg viel höher. Von August 1945 bis Ende 1946 werden alleine in Berlin 641 Menschen ermordet (Berliner Zeitung 9.5.2009). Vermutlich lag die Zahl Ermordeter 1945 (nach dem Kriegsende am 8. Mai), 1946 und 1947 bei mehreren Tausend pro Jahr in Westdeutschland. Erst nach dem Hungerwinter 1946/47 kommt es zu einem schnellen Rückgang. Die angedeuteten Angaben der westdeutschen PKS von 1950 und 1951 mit über 500 Morden im Jahr zeigen das höhere Mordniveau der Nachkriegszeit. Erst 1953 ist nach einem steilen Rückgang 1948-52, der für Ostdeutschland dokumentiert ist (Statistisches Jahrbuch der DDR 1957, S. 82), ein tiefes Nachkriegsniveau erreicht.


Tabelle 1: Vollendete Fälle Morde und Totschläge 1953-2015

Anmerkungen: Vollendete Fälle Mord und Totschlag (ab 1999 durch Gesetzesänderung inklusive Kindestötungen); 1950-1990 nur Westdeutschland und Westberlin; ab 1991 Gesamtdeutschland (1991 und 1992 unvollständig). 1992-1998 tritt Überhöhung durch Hereinnahme der 421 DDR-Grenztoten in die Polizeiliche Kriminalstatistik auf, die die Fälle 1993-1997 jährlich um ca. 80 erhöhen.
Quelle: 1953-1989 aus PKS 1989, 194, z.T. mit PKS Jahresbänden gegenkontrolliert. 1990-2015 PKS laufende Jahrgänge, PKS Schlüssel 100 + 200, später 010000 + 020000, Tabelle Mord und Totschlag, Häufigkeitszahlen in den Ländern, vollendete Fälle. 2006 ist die Angabe in dieser Tabelle mit 804 falsch, ebenso falsch ist für 2011 die Angabe 586. Richtig wären nach der Tabelle Anteil der Versuchshandlungen bzw. des Tabellenanhangs 727 bzw. 614. Für graphische Zeitreihen benutzt das BKA im Jahrbuch bis PKS 2015

Anfang der 1960er beginnt ein Anstieg, der zuerst 1963 zu mehr als 400 Mordfällen führt. Die Morde und Totschläge steigen ab 1965 (482 Fälle) steil an. Wie bei der Gesamtkriminalität ist der Anstieg von 1968 zu 1970 besonders stark. Von 539 Morden in 1968 springt die Fallzahl auf 779 nur zwei Jahre später. Das ist ein Anstieg um 45% in zwei Jahren. Wenn man in der Gesellschaft eine dramatische Zunahme der Kriminalität problematisieren will, dann ist eine der relevantesten Zeiten 1968 und die direkte Zeit danach. Die 1968 Studentenrevolte und der damit verbundene Wertewandel führen zu einem weiteren Anstieg bis 1975 auf 862 Mordfälle. 1971 gibt es zwar eine Delle nach unten, die aber künstlich entsteht, weil 1971 auf eine Ausgangsstatistik umgestellt wird. Bis 1970 gibt es eine Eingangsstatistik. D.h. alle Fälle des Jahres 1970 stehen in der PKS 1970. Die Fälle des Jahres 1971 werden erst nach Abschluss der Ermittlungen, also bei Abgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft in der Polizeistatistik registriert. Das kann bei Morden durchaus das Jahr 1972 sein. Deswegen liegt die PKS-Fallzahl 1971 zu niedrig.


Mord (Fälle, vollendete, inklusive Totschlag, bis 1990 Westdeutschland)


Vergleich der Veränderung der Kriminalität bei Mord und Totschlag 1990-1993 durch DDR-Zuwachs und 2014-2015 durch Flüchtlinge


Die Mordfälle steigen nach 1975 bis 1982 weiter an. Mit 935 Morden ist 1982 der Höhepunkt in Westdeutschland vor der Wiedervereinigung erreicht. In den 1980er Jahren stagniert die Mordrate ähnlich wie die Gesamtkriminalität auf einer Höhe von 800-900 Fällen. 1990 gibt es mit der Wiedervereinigung einen Knick nach unten. Aus einer Fußnote in der PKS 1990 ist zu entnehmen, dass die Berliner Mordfälle Erfassungsschwierigkeiten bereiten, so dass der Tiefpunkt 1990 zu einem Teil künstlich durch eine Unterfassung in Berlin entsteht.
Mit der Wiedervereinigung springt die Kriminalität nach oben. Von 743 Mordfällen im Jahr 1990 verdoppelt sich die Fallzahl auf 1468 Fälle in 1993. Durch die zusätzlichen DDR-Bürger nimmt die Bevölkerung um 17 074 200 Personen um 27% zu (PKS 1993, S. 15; 1990 West zu 1991 Gesamt). Gleichzeitig ist der Anstieg bei den Mordfällen 98%; um 725 Fälle von 1990 bis 1993. Die fünf neuen Bundesländer und Berlin verursachen 1993 36% aller vollendeten Morde und Totschläge, stellen aber nur 22% der Bevölkerung (PKS 1993, S. 35, 119). Auch wenn die Explosion beim Mord und Totschlag in den Jahren nach der Wiedervereinigung zum Teil mit weiteren Sonderfaktoren (Asylanten, Aussiedler, Grenzöffnung, DDR-Grenztote) erklärbar ist, sind die DDR-Menschen ein Bevölkerungszuwachs, der kriminell hochbelastet ist. Dass ausgerechnet die Ostdeutschen, die die Mordkriminalität nach der Wiedervereinigung wie man am Graphen erkennen kann regelrecht nach oben katapultiert haben, jetzt die Flüchtlinge von 2015 thematisieren, ist angesichts der eigenen Historie unangebracht. Für 2014 zu 2015 kann man die Entwicklung wie bei internationalen Vergleichen üblich anhand der Mordopferzahlen verfolgen. Diese sind von 2014 zu 2015 von 624 auf 589 vollendete Mord- und Totschlagopfer gefallen. Weil gleichzeitig 890 000 Flüchtlinge zugewandert sind, kann man sagen, dass die Flüchtlinge zu keiner Erhöhung der Morde und Totschläge in Deutschland geführt haben.

3. 1993 bis 2015 unerwarteter starker Rückgang der Morde

Nach dem die Kriminalität bei Mord und Totschlag von 1953 von 325 auf 1993 1468 Fälle 40 Jahre angestiegen ist, hätte man vermuten können, dass der Trend immer so weiter geht. Dass die Gesellschaft immer krimineller und gefährlicher wird, vermutet die Öffentlichkeit bis heute. Tatsächlich gibt es aber 1993 deutschland- wie weltweit eine Wende. Die Kriminalität fällt. Innerhalb von zwanzig Jahren kommt es zu einer Kriminalitätshalbierung. Auch die Anzahl der Morde geht zurück. Wie man am Graphen in Abbildung 1 erkennen kann, ist gerade der erste Rückgang von 1468 Mordfällen in 1993 auf nur 958 in 1998 gewaltig.
Der Rückgang geht aber weiter; 2001 werden das erste Mal 900 unterschritten, 2006 fällt die Marke unter 800, 2007 unter 700 und 2012 unter 600 Mordfälle. In 2015 gibt es noch 565 Fälle von vollendetem Mord und Totschlag in Deutschland. Die PKS-Zahlen zum 1. Halbjahr 2016 von Berlin deuten an, dass 2016 die Anzahl der Morde in Deutschland auch inklusive des Berliner Attentates auf dem Niveau von 2012-2015 von rund 550 Fällen liegen wird. Gegenüber dem Jahr 1993 von knapp 1500 Fällen ist das ein Rückgang auf grob ein Drittel der Ausgangsmenge. In Prozenten beträgt der Rückgang 1993 bis 2015 62%. Die Kriminalität hat sich nach dem wichtigen Indikator vollendete Tötungen stark reduziert.
Von daher sind die eingangs zitierten Pressemitteilungen eines Trends zu immer mehr Brutalität und Gewalt komplett falsch. Gegenüber 1993 hat sich die Brutalität und Gewalt beim Spitzendelikt Mord in den letzten zwei Jahrzehnten sehr stark verringert. Dass die Medien wie eingangs angeführt von einer Zunahme der Gewalt schreiben, ist angesichts eines Mord-Rückganges von 1993 bis 2015 auf fast ein Drittel des Ausgangsniveaus eine Verdrehung der Tatsachen. In der am Anfang zitierten Befragung wird die Bevölkerung zur Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung in den letzten zwei bis drei Jahren gefragt und vermutet eine Verschlechterung der Sicherheitslage. Diese Einschätzung ist falsch; in den letzten drei Statistikjahren 2011-14 vor dieser Umfrage gehen die Mordfallzahlen von 614 auf 555 zurück. Der Rückgang der Mordfälle von 1993 1468 auf 2015 nur noch 565 um 62%, der auch inklusive des Berlin-Attentates im Jahr 2016 in seiner Größenordnung Bestand haben dürfte, ist ein beeindruckender Kriminalitäts- und Gewaltrückgang, der von den Medien allerdings umgekehrt verbreitet und deshalb von der Bevölkerung falsch rezipiert wird.