Polizei und Justiz

Vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch den Einsatz von automatischen Kennzeichenlesesystemen

2 Vorbeugende Straftatenbekämpfung

2.1 Zweckrichtung polizeilicher Datenverarbeitung


Bei der polizeilichen Datenverarbeitung kann die Prävention neben der Repression nicht etwa nur einen bescheidenen Nebenzweck darstellen.27 Wesen und Zweck der verarbeiteten Daten würden verkannt, begriffe man Daten zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten ausschließlich als Repressivdaten.28 Informationen aus strafrechtlichen Ermittlungsverfahren werden in Verfolgung des polizeilichen Verhütungsauftrags – auch – zu Präventivdaten. § 483 Abs. 3 StPO weist in diesem Zusammenhang die polizeilichen Dateien, deren Datenbestand meist zugleich repressiven und präventiven Zwecken dient (sog. Mischdateien29), der Regelungszuständigkeit der jeweiligen Polizeigesetze zu. Dies ist der Fall, wenn sich die einzelnen Daten nicht eindeutig als Strafverfahrens- oder Gefahrenabwehrinformationen identifizieren lassen.30
Gem. § 484 Abs. 4 StPO richten sich (in sog. Mischdateien) zudem die der Gefahrenabwehr dienenden Polizeidateien und die Verwendung der darin enthaltenen personenbezogenen Daten grundsätzlich nach den jeweiligen Polizeigesetzen. Etwas anderes gilt, soweit die Daten für Zwecke eines Strafverfahrens verwendet werden.31 Der doppelte Charakter der Daten bzw. die doppelte Nutzung für Prävention und Repression sind Spiegelbild der alltäglichen Gemengelage doppelfunktionalen Handelns von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, der sich die Polizei in der Praxis ganz überwiegend ausgesetzt sieht. Von daher ist es verfassungsrechtlich zulässig, auch die Vorsorge für die spätere Strafverfolgung als Unterfall der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten zu verstehen. Insoweit stehen die in § 1 Abs. 1 Satz 2 VE ME PolG 1986 geregelten Unterfälle der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten – die Verhütung derselben und die Vorsorge für die spätere Strafverfolgung – in einem untrennbaren Zusammenhang zueinander.32 Beide Zwecke lassen sich zwar dogmatisch trennen, stehen jedoch in einem sehr engen sachlichen (ideengeschichtlichen) Zusammenhang. Dies führt keinesfalls zur Preisgabe des Gefahrenbegriffs, weil sie etwa gefahrenunabhängig vorsorgende (weitere) Datenverarbeitung beinhaltet.33 Bis heute kommt die herrschende Auffassung im Wege der Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 1 ME PolG 197734 zu dem Ergebnis, dass die Polizei im Rahmen ihrer Zuständigkeit zur Gefahrenabwehr ergänzend nach § 1 Abs. 1 Satz 2 VE ME PolG 1986 berechtigterweise auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten hat. Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten ist trotz der Entscheidung des BVerfG zur verfassungswidrigen Regelung des § 33a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG35 demnach – wie schon immer – ein Unterfall der Gefahrenabwehr.36 Zutreffend ist, dass man nur das abwehren kann, was bereits existent ist, also eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Daher kommen insbesondere bei der so genannten Strafverfolgungs- bzw. Straftatenvorsorge immer wieder Zweifel dahingehend auf, ob diese womöglich einen unzulässigen Schritt ins Vorfeld der konkreten Gefahr darstellt. Man bedenke: Anknüpfend an die herrschende Auffassung der Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VE ME PolG 1986 soll mit Kniesel die polizeiliche Vorfeldtätigkeit aber gerade durch offensives, proaktives Handeln der Polizei ermöglichen, dass Gefahren gar nicht erst eintreten. Dann aber geht es nicht mehr nur um die klassische Gefahrenabwehr, sondern um mehr, und zwar um die Gefahrenvorsorge und Gefahrenverhütung;37 gemeint ist also Gefahrenvorsorge unter dem rechtlichen Aspekt der Gefahrenverhütung. Ihrer Regelung in den Polizeigesetzen stehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen, obwohl die Vorsorge für die künftige Strafverfolgung durchaus eine gewisse Sachnähe zur Strafverfolgung aufweist.
Es besteht daher keine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für diesen Bereich,38 insbesondere in Hinblick auf das zwingende Erfordernis einer bereits begangenen Straftat im Sinne des strafprozessualen Anfangsverdachts nach § 152 Abs. 2 StPO. Hinter dieser ehernen Schwelle sind strafverfolgende Maßnahmen sowie informationelle Aktivitäten auf dem Boden der StPO überhaupt erst zulässig,39 davor also in keinem Fall. Demzufolge können bei der durch die Polizei erfolgenden „Überwachung“ krimineller Szenen – ohne Vorliegen einer konkreten Bezugstat im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO – die Rechtsgrundlagen nicht aus der StPO abgeleitet werden, weil dieses gefahrenaufklärende/-erforschende Handeln der Polizei dem StPO-Normgefüge vorgelagert ist.40 Das System der StPO würde mit Kniesel zutreffender Weise gesprengt, wollte man ein – wie auch immer geartetes – Vorfeld des konkreten Anfangsverdachts bejahen. Auch schlicht-hoheitliche Maßnahmen nach den §§ 160, 161 Abs. 1 und 163 Abs. 1 Satz 1 StPO sind an die Voraussetzungen des § 152 Abs. 2 StPO gebunden. Der so genannte strafprozessuale Anfangsverdacht (tat- und/oder täterbezogen) stellt seit jeher die eherne Schwelle für jedwedes strafprozessuale Handeln dar; diese Erkenntnis ist schon seit vielen Jahren stringent. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft oder Polizei gegen einen „Vor“-Verdächtigen sind demnach unter allen rechtlichen Gesichtspunkten unzulässig. Der Handlungsspielraum nach der StPO ist infolgedessen deutlich enger gefasst als der nach den Polizeigesetzen des Bundes und der Länder, weil der klassische Gefahrverdacht im Sinne der hinreichenden Möglichkeit einer Gefahr – räumlich und zeitlich – vor dem strafprozessualen Anfangsverdacht nach § 152 Abs. 2 StPO liegt. Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht eröffnet damit einen deutlich größeren Handlungsspielraum als jenen nach der StPO. Insoweit gilt: Was für den in der Verfassung verankerten Schutzauftrag nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 2 Abs. 2 GG geboten ist, muss nicht gleichermaßen auch für die dem Rechtsgüterschutz nur mittelbar dienende Strafverfolgung gelten.41

2.2 Abstrakte Gefährdungsdelikte und Strafverfolgungs-/Straftatenvorsorge


Abstrakte Gefährdungsdelikte des StGB konkurrieren als getarnter Weg in das Vorfeld der konkreten Gefahr mit dem materiellen Polizei- und Ordnungsrecht; sie verlagern das Strafrecht deutlich nach vorne in jene Bereiche, die andernfalls straflose Vorbereitungshandlungen wären. Im Hinblick auf die weite Vorverlagerung in den Bereich „abstrakter Gefährdung“ steht der Schutz öffentlicher, d.h. allgemeiner Sicherheit im Vordergrund.42 Damit werden die Grenzen der als Gefahrenvorsorge zum Polizeirecht zählenden Domäne der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten einerseits und der zum Strafrecht zählenden kriminalisierten Vorbereitungshandlungen des Strafrechts im Sinne des strafprozessualen Anfangsverdachts mit dessen deutungsoffenen Merkmal der „zureichenden“ tatsächlichen Anhaltspunkte des § 152 Abs. 2 StPO andererseits verwischt, so dass im wahrsten Sinne des Wortes auf den ersten oberflächlichen Blick ein diffuser rechtlicher Morast entsteht. Eine systemwidrige Wanderung des Strafrechts in das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht ist die zwangsläufige Folge, keinesfalls aber eine Annexion des Strafverfahrens durch die Polizei.43 Insoweit bemächtigt sich die Polizei keineswegs solcher Informationen über Daten, die zeitweilig nicht voll unter ihrer Verfügungskontrolle stehen und die an sich besser wegen der strafprozessualen Sachleitungsbefugnis bei der Staatsanwaltschaft aufgehoben wären. Wird dieser Weg in das Vorfeld noch „ergänzt“ durch eine großzügige Auslegung des strafprozessualen Anfangsverdachts des § 152 Abs. 2 StPO bis hin zu so genannten Initiativ- bzw. Strukturermittlungen, kann mit Kniesel Strafverfolgung so aussehen, dass strafrechtliche Ermittlungen wegen § 129 StGB – Bildung krimineller Vereinigungen – z.B. gegen türkische Gemüsehändler, die in Deutschland möglicherweise mit Rauschgift handeln, betrieben werden. Auf diese Weise kann man das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht mit seinen kriminalstrategischen Bekämpfungsmöglichkeiten völlig in die Ecke drücken, d.h. überflüssig machen und in operativer Dimension ausschließlich auf dem Boden der StPO agieren, obwohl dieser keine kriminalstrategische Dimension eigen ist.44