Kriminalität

Megatrends und aktuelle Herausforderungen an die Kriminalistik

Von LKD Ralph Berthel, Frankenberg

5 Kriminalistik und Kriminalpolitik


Um die Eigenständigkeit der Kriminalistik und um insbesondere die Bedeutung der Kriminalistik im sicherheitspolitischen Diskurs zu verdeutlichen, wird in der Folge ihr Verhältnis zur Kriminalpolitik dargestellt. Nach Jäger ist Kriminalpolitik „das Politikfeld, in dem es um die Entwicklung und Realisierung von Leitlinien für die verfassungsgemäße Reduzierung von Rechtsbrüchen und Verbrechensfurcht durch koordinierte staatliche und gesellschaftliche Maßnahmen geht.“21
Es geht also um ein Politikfeld und um Leitlinien. In der Praxis erlebt die Polizei als der Kriminalistik-Haupanwender eine mehr oder weniger ausgeprägte Einflussnahme politischer Enzscheidungsträger, insbesondere auf kriminalstrategische Entscheidungen bzw. Ausrichtungen. Nun ist die politische Einflussnahme auf die Polizei als Teil der Exekutive nachvollziehbar und grundsätzlich durch die Verfassungen (Richtlinienkompetenz, Ressorthoheit) gedeckt. Das Dilemma dabei ist allerdings evident: Während die Kriminalistik als Wissenschaft auf das Beweis- bzw. Belegbare ausgerichtet ist, orientieren sich Politikfelder am Vermittelbaren, oft sogar an dem, wofür sich Mehrheiten finden.
Während es sich bei Ersterem um gesicherte Erkenntnisse handelt, die einer Nachprüfung standhalten müssen, ist Zweiteres eben eher durch Überzeugungen und bisweilen Wünsche gekennzeichnet. Aus dieser Feststellung resultiert nun aber nicht die Erkenntnis, dass es zwischen einer Wissenschaft und einem Politikfeld unüberwindbare Gräben gibt. Vielmehr ergibt sich daraus die Erwartung an eine Wissenschaftsdisziplin, ihre Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie vermittelbar werden. Für eine angewandte Wissenschaft wie die Kriminalistik, die bedeutende und unmittelbare Praxisbezüge aufweist und allein durch die mediale Begleitung der Kriminalitätsentwicklung bzw. der Sicherheitslage durch die Öffentlichkeit sehr stark wahrgenommen und interpretiert wird, erscheint eine Transmission von fachlichen Inhalten in eine vermittelbare Sprache von besonderer Bedeutung. Hier dürfte für die Kriminalistik nicht unerheblicher Nachholbedarf bestehen. Gelingen kann das allerdings nur, wenn es auch Institutionen gibt, die sich genau dieser Aufgabe verpflichtet fühlen und dazu fachlich, wie auch personell in der Lage sind.

6 Kriminalistik und postfaktische Sicherheitspolitik

Die Auseinandersetzung mit dem Wesen von Kriminalpolitik erscheint keinesfalls rein akademiescher Natur. In Zeiten postfaktischen Agierens – auch auf dem Feld der inneren Sicherheit – erlangt eine begründete und belastbare Positionierung aus kriminalistischer Sicht zunehmend an Bedeutung. So stritt der einflussreiche Vertreter der Republikaner im US-Repräsentantenhaus Newt Gingrich in einem CNN-Interview während des Wahlkampfes 2016 in den USA schlichtweg ab, dass die Kriminalität gesunken sei. Auf die Nachfrage der Reporterin, dass dies nicht den Tatsachen entspreche und die Fakten vom FBI stammten, entgegnete Gingrich: “Als Politiker gehe ich mit den Gefühlen der Leute und Sie gehen mit den Theoretikern.“22
Die Begrifflichkeit „postfaktische Politik oder postfaktische Zeit“ geht auf das im Jahr 2004 erschienene Buch „The Post-Truth Era“ („Das Zeitalter nach der Wahrheit“) des amerikanischen Autors Ralph Keyes zurück.23 Im Deutschen hat sich der Begriff postfaktisch für die englischen Begriffe post-truth und post-fact(ual) eingebürgert. Im englischsprachigen Raum findet auch die Wortschöpfung „truthiness“ Verwendung. Das Wort beschreibt den Umstand, dass man auf die Prüfung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage verzichtet, wenn sie sich nur wahr „anfühlt“. Popularität erlangte der Begriff „postfaktisch“ während des sog. Brexit-Referendums 2016 in Großbritannien und, wie bereits dargestellt, während des US-Präsidentschafts-Wahlkampfs 2016. Er wird mittlerweile auch von deutschen Spitzenpolitikern verwendet.24 Die Oxford Dictionaries haben „postfaktisch“ gar zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt.25 Bereits im Jahr 2012 kennzeichnete der deutsche Blogger, Buchautor und Journalist Sascha Lobo das Konzept „post-truth politics“ als eine „wahrheitsunabhängige Politik, in der Meinungen und Tatsachen verschwimmen und in der die Errungenschaften der Aufklärung auf der Strecke“ blieben. Kurz gesagt: Wenn von postfaktischer Politik die Rede ist, ist damit gemeint, dass Schlussfolgerungen aus belegbaren Fakten durch ein Verschwimmen von Meinungen und Tatsachen ersetzt werden. Im Zentrum der politischen Aussage steht also nicht das belegbare Faktum, sondern die Erwartung, dass ein angebotenes Erklärungsmodell eine Nähe zur Gefühlswelt der Adressaten (Wähler) vermuten lässt. An die Stelle des Bewiesenen und Begründeten wird das Gefühlte bzw. Gewünschte gesetzt. Ein solches Denk- und Verhaltensmuster erlaubt in letzter Konsequenz auch die Rechtfertigung politischer Entscheidungen, die zwar der Rechtslage wider-, der Gefühlslage von Gruppen oder gar Einzelner hingegen entsprechen. Und nicht zuletzt lässt sich das für politisches Handeln beschriebene Muster auch auf die Wahrnehmung durch die Medien und die Öffentlichkeit übertragen. Dem wird die Gewinnung von Überzeugungen und Suche nach Wahrheiten als Grundthese kriminalistischen Denkens gegenübergestellt.
Wenn vom Verhältnis der Kriminalistik im Allgemeinen und der Kriminalstrategie im Besonderen zur Kriminalpolitik die Rede ist, wird oft der Begriff des Primats der Politik gebraucht. Das sog. Primat der Politik ist ein Begriff, der insbesondere in der Politikwissenschaft verwendet wird. Von der Verfassung nicht abgedeckt, soll er darstellen, dass die Politik gegenüber anderen staatlichen Bereichen (Verwaltung, Militär) oder auch nichtstaatlichen Feldern führend sein soll. Für polizeiliches Handeln haben sicherheits-, justiz- bzw. innenpolitische Entscheidung regelmäßig weitreichende Folgen. Ein, wie auch immer gearteter Vorrang der Innenpolitik gegenüber der Bindung polizeilichen Handelns an das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (insb. Art. 20 III GG) ist hingegen nicht zu erkennen.
Bereits 1996 warnte Murck: „Der Sicherheitsbereich steht [...] in der Gefahr, vorrangig Schauplatz symbolischer Politik zu sein. Die Wege zum Stammtisch oder zur Flucht aus der Realität scheinen […] hier besonders kurz.“26 Und Burghard sieht gar durch die Abhängigkeit der Politik (der Politiker) von der publizierten Meinung ein bedrohliches Übergewicht der Tagesaktualität und charakterisiert politische Entscheidungen als „häufig genug nur kleinsten gemeinsamen Nenner“. Er fordert daher vollkommen zu Recht „langfristig angelegte Planung und Strategie“.27 Zudem kritisiert Stümper eine besonders fatale Form des vorauseilenden Gehorsams, indem er feststellt: „Das Problem liegt aber nun darin, dass die Fachkompetenz der jeweiligen Verantwortlichen durch das <Primat> der Politik nicht ersetzt, nicht eingeschränkt und auch nicht beeinträchtigt werden darf. Es ist ein Kardinalfehler, wenn schon auf der fachlichen Ebene politische Überlegungen das Fachliche bestimmend oder verdrängend einfließen.“28 Wenn etwa Diskussionen in polizeilichen Fachgremien mit Hinweis auf das politisch Opportune abgebrochen werden, ist das eben genau dieser Kardinalfehler.
Das Zwischenfazit zur Rolle der Kriminalistik in einem zumindest in Teilen postfaktisch bestimmten sicherheitspolitischen Umfeld, kann daher nur lauten, dass kriminalistischer Sachverstand stärker denn je bei der Bewertung sicherheitsrelevanter Entwicklungen in der Gesellschaft gefragt ist, beratend und falls erforderlich, auch Diskurs anregend.