Wissenschaft  und Forschung

Islamistisch- terroristische Anschläge in Deutschland 2016

Eine Analyse ihrer Taktik und Akteure



5 Fazit

5.1 Die Taktik der salafistischen Akteure

Ein Vergleich der islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate der Jahre 2015 und 2016 in Europa ergibt erhebliche qualitative Unterschiede in Bezug auf die operative Planung und Durchführung, das know how der Attentäter und deren logistischen Mittel. Multiple Szenarien, Großanschläge von Hit-Teams, die aus mehreren Zellen von Attentätern – womöglich mit para-militärischer Ausbildung und/oder Kampferfahrung – bestehen, Sprengstoff, automatische Waffen etc. (u.a. am 13.11.2015 in Paris und am 22.3.2016 in Brüssel) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer zu erwartenden Schädigungswirkung stark von Anschlägen oder Attentaten islamistischer Einzeltäter, die beispielsweise eine Axt oder ein Messer nutzen (am 26.2.2016 in Hannover und am 18.7.2016 in Würzburg).
Entsprechend fallen verschiedene weltweit und innerhalb Europas geplante und durchgeführte islamistische Anschläge und Attentate der Jahre 2015 und 2016 unter die Kategorie von Low Level Terrorismus. Low Level Terrorismus wird hier wie folgt definiert: Terroristische Anschläge oder Attentate, die sich einfachster taktischer Prinzipien und Wirkmittel wie leicht zu beschaffende Waffen oder Alltagsgegenstände bedienen.
In Bezug auf die Frage danach, ob islamistische Einzeltäter „unabhängig“, autark, autonom handeln, oder ob diese doch organisatorisch und/oder logistisch gesteuert bzw. geleitet werden, betont aktuelle englischsprachige Forschung die Wichtigkeit festzustellen, dass der Unterschied von autark agierenden Einzeltätern zu „losen Mitgliedern“ einer Zelle, einer Gruppe bzw. einer Organisation fließend sein kann und von einem Grad der ideologischen und operativen Unabhängigkeit bestimmt wird.33
Eine sowohl mit wissenschaftlichen Kriterien abgrenzbare als auch für den Gebrauch von deutschen Sicherheitsbehörden geeignete Definition von islamistischen Einzeltätern (lone wolves) sollte daher folgende Definitionsmerkmale enthalten: Einzeltäter operieren organisatorisch und logistisch unabhängig von einer Organisation, einem Netzwerk oder einer Gruppe, sind allerdings von deren Ideologie bzw. Idee(n) inspiriert und handeln somit im Sinne der Strategie der terroristischen Organisation.34
Die aktuellen Fälle der islamistisch-terroristischen Attentäter Anis Amri (Berlin), Safia S. (Hannover) und dem Attentäter in einer Regionalbahn bei Würzburg, dessen wirklicher Name und Nationalität noch nicht ermittelt sind – ausgehend vom bisher verfügbaren Stand der Informationen – verdeutlichen diese offensichtlich bestehende Grauzone zwischen autonom operierenden islamistisch-terroristischen Einzeltätern und ihren Verbindungen zum islamistisch-salafistischen Milieu und/ oder zu internationalen Jihadisten (foreign fighters) des „Islamischen Staates“.

Mögliche Anschlagsziele:


  • Flughäfen und Bahnhöfe, öffentliche Verkehrsmittel im allgemeinen
  • Große Menschenmengen im Rahmen von Fußballspielen, Konzerten, Weihnachtsmärkten, Großereignissen (events)
  • Öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Kirchen, Synagogen, Schulen, Universitäten)
  • Kritische Infrastrukturen mit hoher Bedeutung für die Zivilbevölkerung (Krankenhäuser, Stromversorgung, Wasser etc.)
  • Autobahnen (Autobahnbrücken, Steinwürfe etc.)


Die Taktik von low level Anschlägen folgt grundsätzlich den strategischen Prinzipien von Terrorismus, indem sie das Ziel verfolgt, Angst und Schrecken in der Bevölkerung dadurch zu verbreiten, dass zu jeder Zeit (vornehmlich zu Zeiten hohen Personenaufkommens) an jedem Ort (besonders stark frequentierte Orte bieten sich, aber auch eine beinahe leere Kirche wie beim Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray) jeder (jung, alt, männlich, weiblich, sogar Kinder) Opfer eines solchen Anschlags sein könnte.


5.2 Die Mittel


Mögliche Modi Operandi:


  • Sprengstoffanschlag (Selbstlaborate auf Basis von Aluminiumpulver, Kaliumpermanganat etc.)
  • Selbstmordattentäter
  • Anschlag mit einem Fahrzeug
  • Sprengfallen
  • Geiselnahme als ein Teil des Szenarios


Weitere Modi Operandi und Szenarien können von AMOK-Lagen abgeleitet werden: Aus der Deckung heraus schießende Heckenschützen, Sprengfallen und versetzte Zeitzünder in öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Gottesdienst, Schulunterricht, Vorlesungen an Universitäten, politische Veranstaltungen etc).



Wirkmittel:

  • Sprengstoff (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung, USBV oder industrieller Sprengstoff), USBV in Koffern, Rucksäcken etc.
  • Sprengstoffwesten/ -gürtel
  • Selbstlaborate (Aluminiumpulver, Kaliumpermanganat etc.)
  • USBV mit Nägeln, Schrauben, Muttern, Splittern versetzt, um einen möglichst hohen und drastischen Personenschaden zu erzielen
  • Gasflaschen
  • Vollautomatische und halbautomatische Schusswaffen, Gewehre, Pistolen
  • Handgranaten
  • Hieb- und Stichwaffen
  • Äxte, Schwerter
  • Messer
  • Fahrzeuge, gehärtete („gepanzerte“) Fahrzeuge
  • Steine, schwere Gegenstände (von Brücken, aus Gebäuden werfen etc.)
  • Gift (z.B. Rattengift in nicht abgepackte Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Fleisch mischen)
  • Giftstoffe in geschlossene Räume in Lüftungen und Klimaanlagen einbringen
  • Reizgas


Zusammengefasst: Alle vorstellbaren Mittel und Gegenstände, die kinetische, vergiftende oder anderweitig schädigende Wirkung auf Menschen haben (können).35


5.3 Identitätsdokumente als Waffe

Die Analyse des Zeitraums zwischen dem Attentat auf Charlie Hebdo am 7.1.2015 und dem Attentat am 13.11.2015 in Paris offenbarte, dass die europäischen Sicherheitsbehörden aufgrund der hohen Zahl der zu verfolgenden Spuren und zu überwachenden Jihad-Rückkehrer (Gefährder), organisatorisch, technologisch und personell überfordert waren.36 Als Konsequenz der islamistischen Anschlagsserie am 13.11.2015 in Paris wurden in Frankreich Gesetze in bisher unbekanntem Maß im Bereich der Überwachung, Sammlung und Auswertung von personenbezogenen Daten (Telefon, Internet, Ausweisdaten) verabschiedet, um mögliche terroristische Attentäter leichter zu detektieren.37 Die französischen Streitkräfte hatten im gleichen Zeitraum in Mali identische Schwierigkeiten damit, zwischen feindlichen Kombattanten, Terroristen, Rebellen und Schmugglern zu unterscheiden und den „unsichtbaren Feind“ zu bekämpfen.38 Individuen, nichtstaatliche Akteure, operierend in Netzwerkstrukturen, lose verstreuten Zellen und als Einzeltäter, nutzen ihre Anonymität als taktischen Vorteil gegenüber staatlichen Akteuren. Die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa zeigt die Bedeutung von persönlichen Daten in offiziellen Dokumenten, so reisten teilweise bis zu 77% der internationalen Flüchtlinge ohne Pass oder gültige Ausweispapiere nach Deutschland ein.39 Nach Angaben einer Studie des US Center for Global Development verfügen ca. 40% der Kinder der sog. zweiten und dritten Welt über keinerlei offiziellen Identitätsnachweis, weder Geburtsurkunde, noch Ausweisdokument.40Als weiteres Beispiel für die vitale Bedeutung eines Nachweises von persönlicher Identität, ist die von Großbritannien – bereits vor dem Brexit – eingeführte biometrische Aufenthaltserlaubnis (Biometric Residence Permit)41.