Wissenschaft  und Forschung

Islamistisch- terroristische Anschläge in Deutschland 2016

Eine Analyse ihrer Taktik und Akteure



1.3 Analyse

Das Attentat der zum Tatzeitpunkt fünfzehn Jahre alten Salafistin Safia S. wird von den Sicherheitsbehörden als erstes von der terroristischen Organisation IS in Deutschland in Auftrag gegebene Attentat gewertet.12 Der Radikalisierungsprozess der Attentäterin begann – wie oben aufgeführt – in früher Kindheit.13 Sowohl der Chat-Verkehr mit ihrer Kontaktperson des IS – „Leyla“ – als auch die beiden mitgeführten Küchenmesser sind eindeutiges Indiz für eine Planung dieses Attentats und gegen eine etwaige „spontane Tat“, wie vom Strafverteidiger der Attentäterin im ersten Prozess behauptet. Safia S. ist aktuell der Prototyp weiblicher, junger Attentäter, die der deutschen Generation homegrown-Salafisten angehören: Im freiheitlichen, westlichen Deutschland aufgewachsen ließ sie sich von einer extremistischen Ideologie radikalisieren, die sämtliche demokratischen Grundsätze ablehnt und durch eine extremistische, religiös-politische Zielvorstellung ersetzt. Einerseits wird Safia S. als islamistische Einzeltäterin charakterisiert, andererseits wurde im Laufe des Prozesses durch ausgewertete Chat-Protokolle nachgewiesen, dass sie in einem engen Kontakt zu einem (womöglich weiblichen) Mitglied der terroristischen Organisation IS stand. Der Anschlag von Safia S. auf einen Bundespolizisten muss somit als hybride Form eines islamistischen Einzeltäters beschrieben werden.

2 Der islamistische Anschlag auf das Gebetshaus der Sikh-Gemeinde am 16.4.2016 in Essen

2.1 Die Taktik und die Mittel der salafistischen Akteure

Am 16.4.2016 verübten zwei minderjährige homegrown Salafisten als Haupttäter einen Sprengstoffanschlag auf das Gebetshaus der Sikh-Gemeinde Gurdwara Nanaskar in Essen. Drei Menschen wurden durch die Detonation verletzt, der Sikh-Prieser trug schwerste Verletzungen davon.14 Zum Tatzeitpunkt fand eine Hochzeit in dem Gebetshaus statt und mehr Angehörige der Hochzeitsgesellschaft waren noch im Gebäude des Gebetshauses, zahlreiche andere in einem nahe gelegenen Festsaal, daher gab es verhältnismäßig wenige Verletzte. Die Ermittlungskommission der Essener Polizei bezeichnete den Anschlag als „Terrorakt“ und versuchtes Tötungsdelikt. Erst ab dem 20.4.2016 konzentrierten sich die Ermittlungen auf zwei jugendliche Mitglieder aus der salafistischen Szene Nordrhein-Westfalens. Der Hauptverdächtige Yussuf T. aus Gelsenkirchen stellte sich am 20.4.2016 abends der Polizei und nannte den Namen seines Mittäters, Mohammed B., der am 21.4.2016 von einem Spezialeinsatzkommando in seinem Essener Elternhaus festgenommen wurde. Knappe zwei Monate nach dem Anschlag wurde ein weiterer jugendlicher Salafist im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Gebetshaus verhaftet, der an der Planung des Attentats beteiligt gewesen und in einer Chatgruppe den Anschlag verherrlicht haben soll. Der 17 Jahre alte türkischstämmige Deutsche soll seit April 2014 Teilnehmer am NRW-Präventionsprogramm „Wegweiser“ gegen gewaltbereiten Salafismus gewesen sein.15 Die drei jugendlichen Salafisten, die alle in Deutschland geboren wurden, kommen aus Gelsenkirchen, Essen und Schermbeck und sollen sich über soziale Netzwerke kennen gelernt und radikalisiert haben.

2.2 Der Radikalisierungshintergrund der Attentäter

Bei der Auswertung verschiedener Daten fand die Polizei Hinweise, wonach Yusuf T. mit dem „Islamischen Staat“ sympathisierte. In ihren polizeilichen Vernehmungen bestritten Yusuf T. und Mohamed B. jegliches religiöses Motiv, der Tempel sei ein „zufälliges Ziel gewesen, gaben sie an. Ihren Sprengsatz hätten sie aus „Spaß am Böllerbau“ hergestellt.16 Allerdings fanden Ermittler bald heraus, dass die drei Jugendlichen Teil eines Netzes junger Jihadisten waren. In einer Whatsapp-Gruppe namens „Anhänger des Islamischen Kalifats“ radikalisierten sich die drei Jugendlichen gemeinsam mit anderen „Glaubensbrüdern“ und ihre Überlegungen, „Ungläubige“ mit einem Sprengsatz zu töten, wurden immer konkreter. Laut Anklage sollen die drei Salafisten die Sikh-Gemeinde als Anschlagsziel ausgewählt haben, weil sie mit der Behandlung von Muslimen durch Sikhs in Nordindien nicht einverstanden waren und ihnen Sikhs als „Ungläubige“ galten. Yusuf T. soll im Rahmen der Koranverteilungsaktion „Lies! Die Wahre Religion“ (DWR) an Dawa-Aktionen beteiligt gewesen sein.
Speziell der Fall Yusuf T. verdeutlicht die Problematik wie schnell es salafistischen „Predigern“ immer wieder gelingt, Jugendliche zu radikalisieren. In ihrem Anfang Oktober 2016 – sechs Monate nach dem Anschlag – veröffentlichten Buch „Mein Sohn, der Salafist“ beschreibt Neriman Y., wie ihr Sohn ihr und ihrer Familie entglitt. So habe er sich mit 14 für den Salafisten Pierre Vogel zu interessieren begonnen und nahm bald an der Koran-Verteil-Aktion „Lies! Die Wahre Religion“ teil, so dass die bis zu ihrem Verbot 2016 fünf Jahre lang aktive salafistische Organisation als eine Art „Durchlauferhitzer“ für Yusuf bezeichnet werden kann. Nach augenblicklichem Stand soll aber auch Hassan C., ein Duisburger Reisebüro-Besitzer und selbsternannter Imam, eine wichtige Funktion für die Radikalisierung der drei Täter gehabt haben. Hassan C. wurde Ende 2016 gemeinsam mit anderen mutmaßlichen Mitgliedern eines islamistischen Werber- und Radikalisierer-Netzes um den Prediger Abu Walaa festgenommen.17
Die Radikalisierungsverläufe der drei islamistischen Täter weisen viele Parallelen auf. Alle drei wurden mit Migrationshintergrund in Deutschland geboren, alle drei wurden früh in ihrer Schulzeit verhaltensauffällig. Bei Yusuf T. wurde ADHS diagnostiziert, seine Lehrer und Sozialarbeiter beschrieben ihn schon in der Unter- und Mittelstufe seiner Schulzeit als hochaggressiv. Als er einer jüdischen Mitschülerin androhte, ihr das Genick zu brechen, wurde Yusuf, der sich schon damals offen zu islamistisch-terroristischen Organisationen bekannte, der Schule verwiesen. Vergeblich baten Yusufs Eltern mehrere Moscheegemeinden um Hilfe.18 Die letzte Hoffnung der Eltern von Yusuf war schließlich das vom nordrhein-westfälischen Innenministerium neu eingerichtete Salafismus-Präventionsprogramm „Wegweiser“. Daran nahm der Junge fortan teil – und radikalisierte sich dennoch immer weiter. Im Mai 2015 heiratete er in einer Salafisten-Moschee die damals ebenfalls erst 15 Jahre alte Serap. Vier Tage vor dem Bombenanschlag nahm Yusuf noch einmal an einer „Wegweiser“-Sitzung teil.
Sehr ähnlich verlief der Weg von Tolga I. zum islamistischen Terrorismus: Seine Mutter warnte die die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden ausdrücklich vor ihrem Sohn, da ihr Aufzeichnungen in die Hände gefallen waren, in denen ihr Sohn ankündigte „Ungläubige“ töten zu wollen. Aufgrund dieser Aufzeichnungen war er seit Januar vom Polizeipräsidium Duisburg als „Prüffall Islamismus“ geführt worden.19

2.3 Analyse

Das Landgericht Essen verurteilte die beiden Haupttäter zu sieben bzw. sechs Jahren Haft wegen Mordversuchs, der dritte Täter, Tolga, wurde wegen Verabredung zum Mord zu sechs Jahren Haft verurteilt. Die Urteile wurden nach Jugendstrafrecht gefällt. Die Attentäter scheinen repräsentative Radikalisierungsprozesse des salafistischen Milieus durchlaufen zu haben. Sowohl die mittlerweile verbotene Koran-Verteil-Aktion „Lies! Die Wahre Religion“ als auch Hassan C., ein Duisburger Reisebüro-Besitzer und selbsternannter Imam, sollen eine wichtige Funktion für die Radikalisierung der drei Täter gehabt haben. Wie im Fall von Safia S. waren die drei Täter noch sehr jung, so dass eine Tendenz zu einem niedrigeren Durchschnittsalter bei homegrown-Salafisten nicht nur diesen beiden Fällen abgelesen werden kann.

3 Der islamistische Anschlag am 18.7.2016 in einer Regionalbahn bei Würzburg

3.1 Die Taktik und die Mittel des salafistischen Akteurs

Bei einem islamistischen Anschlag in einer Regionalbahn bei Würzburg am 18.7.2016 verletzte ein in Deutschland als minderjährig und unbegleitet registrierter Flüchtling fünf Menschen mit einem Beil und einem Messer, vier davon schwer.20
Der islamistische Attentäter verließ das Haus seiner deutschen Pflegeeltern am 18.7.2016 gegen 20 Uhr, bestieg gegen 21 Uhr am Bahnhof in Ochsenfurt die auf der Bahnstrecke Treuchtlingen–Würzburg verkehrende Regionalbahn 58130 in Fahrtrichtung Würzburg und ging – nach Zeugenaussagen – zunächst auf die Toilette. Etwa 15 Minuten später griff er Mitreisende mit einem Beil und einem Messer an. Nach Aussagen der Staatsanwaltschaft Bamberg war auf einem aufgezeichneten Handy-Notruf sein Ausruf „Allahu akbar“ deutlich zu verstehen. Nachdem der Zug vor Würzburg durch eine Notbremsung zum Stehen kam, floh der Täter aus dem Zug. Anschließend schlug er einer unbeteiligten Passantin, die mit ihrem Hund spazieren ging, zwei Mal mit dem Beil ins Gesicht. Das Spezialeinsatzkommando Südbayern aus München, das sich wegen eines anderen Einsatzes in der Nähe aufhielt, spürte den Attentäter in etwa 500 Meter Entfernung vom Zug auf. Als der Attentäter Polizeibeamte mit seinen Waffen angriff, trafen ihn zwei tödliche Schüsse. Renate Künast, Bundestagsabgeordnete und ehemalige Ministerin der Partei die Grünen kritisierte kurz danach die Polizei über Twitter und stellte die Notwehrreaktion der Polizisten in Frage.21 Der zuständige Oberstaatsanwalt kam in den Ermittlungen allerdings zur Auffassung, dass die beiden Polizisten in Notwehr gehandelt haben, da der Attentäter mit erhobener Axt sehr schnell innerhalb weniger Armlängen aggressiv auf die Polizisten zugegangen war, so dass die Schussabgabe die einzige Möglichkeit zur Abwehr des Angriffes war.