Kriminalität

Der grausame Schrei der Eule



Das trübe Auge des Gesetzes


Das alles geschah direkt unter den Augen der Polizei, deren Wache genau gegenüber lag. Die „East Sussex Police Station„ ist ein verschlafenes Backsteinhaus mit einem verwilderten Rosengarten, wie aus einem niedlichen Bilderbuch. Heute gibt es offensichtlich außer ein paar Taschendiebstählen nichts zu tun. Früher dagegen schon, aber niemand wagte, sich mit der Bande anzulegen. Das wäre ein Selbstmordkommando gewesen, denn es war einfach nicht genügend Personal vorhanden. So berichtete der Supervisor 1770, dass nur zwei Dragoner und ein Fußsoldat dort einquartiert seien, um die Zollbeamten zu unterstützen. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges wurde die Personaldecke noch dünner, nahezu alle Soldaten wurden abgezogen, um in der Neuen Welt zu kämpfen. Der Schmuggel blühte regelrecht auf. Lord Pembroke fragte 1781 im Parlament: „Wird Washington Amerika erobern oder noch vorher die Schmuggler England? Das ist eine Wette mit unsicherem Ausgang!„
Viele Bewohner der Küste profitierten vom Schmuggel, den meisten braven Bürgern aber war sicherlich unwohl bei all den kriminellen Aktivitäten um sie herum. Selbst wenn sie in ihren vier Wänden saßen, verspürten sie eine lähmende Angst vor dem Verbrechen, das sich draußen auf der Straße direkt unter ihren Fenstern abspielte. Sehr eindrucksvoll schildert Rudyard Kipling, der selbst nur wenige Meilen entfernt wohnte, die lähmende Furcht in seinem Gedicht „Lied der Schmuggler„. Eine Strophe ist in großen Buchstaben ausgerechnet an die Wand des Mermaid Inn gemalt, im Innenhof, wo früher die Pferde der Gangster angebunden waren. In Englisch klingt es poetischer und gereimt, aber auch in der Übersetzung kommt die beklemmende Stimmung herüber:


„Wachst Du um Mitternacht auf
und Pferdehufe hörst,
zieh nicht den Vorhang auf,
schau nicht zur Straße raus.
Wer keine Fragen stellt,
der hört auch keine Lügen.
Dreh dich zur Wand, mein Liebling,
wenn die Gentlemen draußen vorbeizieh‘n.

Fünfundzwanzig Ponys
trotten durch die Nacht,
Brandy für den Pfarrer,
Tabak mitgebracht,
Halsband für die Lady,
Brief für den Spion,
Dreh dich zur Wand, mein Liebling,
die Gentlemen gehen schon."



Dann aber treibt es die Hawkhurst Gang auf die Spitze. Gerade haben sie eine Zollstation überfallen und konfiszierte Ware geraubt. Im Pub genehmigen sie sich ein kräftiges Frühstück und feiern den Erfolg. Ein alter Bekannter sitzt am Tisch, Daniel Chater, man kommt ins Gespräch und Chater bekommt ein Päckchen Tee geschenkt. Das wird dem guten Mann zum Verhängnis. Er wird kurz darauf als Mittäter verhaftet und soll von dem Zollbeamten William Galley ins Gefängnis nach Poole gebracht werden. Beide kommen niemals dort an. Die Bande fängt sie ab, fesselt sie und schlägt so lange mit Peitschen auf sie ein, bis Galley stirbt. Daniel Chater gilt als lästiger Zeuge. Er ist noch bei Bewusstsein, als man ihn lebendig in einem Fuchsbau begräbt.

Die Bürger wehren sich


Das ist zu viel! Ein Aufschrei geht durch das ganze Land. Die London Gazette veröffentlicht die Namen notorischer Schmuggler und gibt ihnen 40 Tage Zeit, sich zu stellen, anderenfalls werden 500 Pfund Sterling Kopfgeld auf jeden ausgesetzt. Auch die Stimmung in der Bevölkerung wendet sich gegen die Tyrannei der organisierten Banden. In dem kleinen Dorf Goudhurst, in direkter Nachbarschaft zur Heimat der Hawkhurst Gang, formiert sich eine Bürgerwehr unter dem ehemaligen Armeekorporal George Sturt. Das treibt die Bande zur Weißglut. Ihr Anführer, Thomas Kingsmill, droht an, Goudhurst niederzubrennen und alle Einwohner zu töten. Am 21. April 1747 kommt es zum Gefecht. Die berüchtigte Hawkhurst Gang wird geschlagen, ihre Anführer fünf Tage später verurteilt und gehängt.
100 Jahre sollte es noch dauern, bis der Schmuggel und die organisierte Kriminalität in Südengland besiegt werden konnten. 1831 wurde eine gut bewaffnete und disziplinierte Küstenwache ins Leben gerufen. Die Polizeikräfte im Land wurden verstärkt, über neue Straßenwege konnten sie nun schneller zum Einsatzort gelangen. Die effektivste Maßnahme aber war die Abschaffung der meisten Zölle im Rahmen einer neuen Freihandelspolitik. Die Zollreform von 1853 führte nahezu über Nacht zu einem Ende des Schmuggels.

Bildrechte


Abbildungen 1 - 3 Glauert

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