Der Multikulturalismus am Ende?

Von Dr. Ralph Ghadban

„Ich verzeihe der Linken nicht, den Laizismus den Rechtsradikalen überlassen zu haben“, sagte die Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter in einer Veröffentlichung der Zeitschrift Marianne, erschienen anlässlich der Terroranschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt im Januar 2015 in Paris.1 Aus Schuldgefühlen wegen der Kolonialzeit, meinte sie weiter, haben die Sozialisten immer mehr den Kommunitarismus der Migranten anstatt einer Politik der Assimilation begünstigt. Alle kulturellen und religiösen rituellen Handlungen wurden respektabel und müssten, egal wie fundamentalistisch sie seien, respektiert werden. Wer sie kritisiert, wurde als islamophob abgestempelt. Die Akzeptanz dieses irrsinnigen Begriffs, der einen antimuslimischen Rassismus kennzeichnen soll, sprengte das Prinzip des Laizismus: Die Religionskritik wurde zu einer Straftat, viele Sozialisten wurden eingeschüchtert und hielten sich mit ihrer Kritik zurück, sie schwiegen. Der Laizist wurde zum Islamophoben. So konnte Marine Le Pen, die Anführerin des rechtsradikalen Front National, sich zur Hüterin des Laizismus aufschwingen.
Mit dem ersten Kopftuchvorfall vom 4. Oktober 1989 stand der Laizismus in Frankreich wieder einmal in der Öffentlichkeit zur Debatte, diesmal aber nicht in seiner Auseinandersetzung mit den privaten religiösen Schulen, sondern zum ersten Mal mit dem Islam. Drei muslimische Schülerinnen kamen mit Kopftuch zur Schule in Creil und wurden ausgeschlossen. Danielle Mitterand, die Frau des Staatspräsidenten, und der Bildungsminister Lionel Jospin waren gegen diese Maßnahme und Jospin erklärte im Parlament, dass die Schule zum Aufnehmen da ist und nicht zum Ausschließen. Und zum Kopftuch sagte er: „Wir werden versuchen, sie (die Musliminnen) dazu zu bringen auf die religiösen Symbole zu verzichten, wenn sie aber nicht wollen, dann werden wir sie akzeptieren.“

Foto: A. Lemberger


Der von Jospin angerufene Conseil d’État, das höchste französische Gericht, hielt ein allgemeines Verbot des Kopftuches im Namen der laizistischen Trennung von Staat und Religion für unzulässig und erlaubte nur von Fall zu Fall bei der Störung des Schulfriedens ein Verbot zu verhängen. Diese juristische Auffassung vertrat übrigens auch das deutsche Bundesverfassungsgericht aber sechsundzwanzig Jahre später mit seinem Beschluss vom 27. Januar 2015. Die ausgesperrten Schülerinnen durften mit Kopftuch in den Unterricht zurück. Es folgten fünfzehn Jahre Unruhen an den Schulen, begleitet von heftigen Debatten in der Gesellschaft bis zum 13.05.2004, als unter der Präsidentschaft des bürgerlichen Jacques Chirac das Parlament ein Gesetz verabschiedete, das alle ostentativen religiösen Zeichen von der Kippa bis zum Kopftuch aus der öffentlichen Schule verbannte.
Es herrsche seitdem Frieden an der Schulfront, die Ausbreitung des Multikultilarismus ging jedoch weiter und bestimmte immer mehr die Politik der linken Parteien, insbesondere der Sozialisten. Im Jahre 2008 wurde eine der sozialistischen Partei nahstehende Think-Tank-Plattform namens „Terra Nova“ gegründet, die die ideologischen Koordinaten der linken Politik neu denken und im Einklang mit der Migration zur Zeit der Globalisierung, die eine Mutation der Identitäten herbeigeführt hat, multikulturalistisch verfassen wollte. Sie kam zu folgenden Ergebnissen: Die alte linke Ideologie, die auf die Interessen der Arbeiterklasse und ihre Werte zentriert war, muss aufgegeben werden und die Vertretung ihrer sozio-ökonomischen Forderungen muss einer Politik des kulturellen Liberalismus weichen. Die Emanzipation, die im Mai 68 begann, mündete Ende der 70er Jahre in die Akzeptanz der Unterschiede, in eine positive Haltung den Migranten, dem Islam, den Homosexuellen und allen Randgruppen gegenüber. Die Arbeiterklasse dagegen wurde immer konservativer.
Das unmittelbare Ziel von Terra Nova war die Rückeroberung der Macht 2012 durch die Linke, so heißt auch ihr Bericht von 2011.2 In dem Bericht wird empfohlen, mit den traditionellen Verbündeten der Linken, den Arbeitern und die Angestellten, zu brechen, weil sie immer mehr rechts wählen. Außerdem schrumpft die Gruppe der Arbeiter zahlenmäßig stetig zusammen. Man solle stattdessen auf die Minderheiten, insbesondere die Muslime, weil ihre Gruppe ständig wächst, auf die bürgerlichen gebildeten Eliten, weil sie offen und liberal sind, auf die Frauen, weil sie nach wie vor benachteiligt sind, auf die junge Generation, weil sie wenig konservativ ist, und auf die „Outsiders“, die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, setzen. Als Vorbild hatten die Verfasser des Berichts die Wahl von Barack Obama 2008 im Sinn.
Nach einem Wahlkampf, der gegen die Modernisierung der französischen Gesellschaft nach dem deutschen Vorbild geführt wurde, kamen die Sozialisten 2012 an die Macht und gaben mehrere Studien für die Neugestaltung der französischen Gesellschaft in Auftrag. Alle daraus resultierenden fünf Berichte3 im Jahre 2013 waren im Geiste von Terra Nova geschrieben, hatten viel mit Multikulturalismus und wenig mit Wirtschafts- und sozialen Problemen zu tun. Sie drehten sich alle um das Phänomen der Migration, das zum Kernpunkt der Reformen geworden ist.

Migration: Assimilation – Integration – Inklusion


Der Begriff Integration hat längst den Begriff Assimilation abgelöst, jetzt hat er aber ausgedient und soll durch den Begriff Inklusion ersetzt werden, der eine gesellschaftliche Ordnung, basierend auf der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Kulturen, besser erfassen kann. Die Migration soll nicht als Bedrohung, sondern als Gewinn behandelt werden. Sie sei auch nicht mehr einschränkbar, weil sie nicht mehr aus der mehr oder weniger gesteuerten Anwerbung von Arbeitskräften besteht, sondern hauptsächlich von den Flüchtlingen und der Familienzusammenführung stammt. Die Einbürgerung und die Einwanderung müssen daher erleichtert werden. Eine Willkommenskultur muss auf allen staatlichen, sozialen und kulturellen Institutionen eingeordnet werden.
Wir leben, meinten die Verfasser der Berichte weiter, in einer Gesellschaft mit multiplen Identitäten und die Identitäten der Migranten und ihre Geschichte sind Bestandteil der gesamten nationalen Geschichte. Kolonialismus, Sklaverei und Migration sollen Teil des Geschichtsunterrichts an der Schule werden. „Frankreich soll der arabisch-orientalischen Dimension seiner Identität gerecht werden und seine postkoloniale Haltung aufgeben“,4 und die arabische Sprache soll flächendeckend an allen Gymnasien unterrichtet werden.
Nach ihrem Bekanntwerden haben diese Berichte eine riesige Welle der Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst und verschwanden schnell in den Schubladen. Der Auftraggeber, die Regierung, ging auf Distanz oder verschwieg sie. So hatten die Sozialisten am Ende die französische Gesellschaft weder multikulturalistisch umgestaltet noch wirtschaftlich modernisiert. Sie verloren seitdem alle Wahlen und rangieren nun als dritte politische Kraft hinter dem Front National.

Multikulturalismus als politische Ideologie seit den 1980er Jahren


Nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa breitete sich der Multikulturalismus als politische Ideologie in den 80er Jahren aus und bestimmte ab den 90er Jahren weitgehend die Politik. Die Multikulturalität war infolge der massiven Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg schon lange in den meisten europäischen Ländern eine Realität geworden. Die Politik aber rechnete einerseits mit der Rückkehr der meisten Migranten in ihre Herkunftsländer; andererseits ging sie davon aus, dass der Rest sich automatisch in der modernen überlegenen Industriegesellschaft assimilieren würde. Eine Integrationspolitik sei deswegen überflüssig. Bis heute hat z.B. Deutschland kein Einwanderungsgesetz und spricht nur von Zuwanderung.
Die Ideologie des Multikulturalismus ist in Nordamerika entstanden und gehört zur politischen Philosophie. Ihre Hauptfigur ist der Kanadier Charles Taylor. Bevor sie Europa erreichte, wurde eine ideologische Vorarbeit geleistet: Infolge eines Globalisierungsschubs, der zur Überwindung der Krise des Kapitalismus Anfang der 70er Jahre half, fand ein tiefgreifender Paradigmenwechsel statt, der die Vorstellungen eines homogenen, integrierenden Nationalstaates in Frage stellte.
Dieser Prozess wurde auch durch die Änderung des Charakters der Migration verstärkt. 1973–74 wurde in allen europäischen Ländern ein Anwerbestopp verhängt, das war offiziell das Ende der Arbeitsmigration. Die Migration endete aber nicht und ging über die Wege der Familienzusammenführung und des Asyls weiter, die die einzigen legalen Möglichkeiten für einen langen Aufenthalt in Europa bieten. So änderte die Migration ihren Charakter von einer Arbeitsmigration zu einer Siedlungsmigration. Im Jahre 2014 kamen über 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland, im Jahre 2015 werden über 300.000 erwartet.
Globalisierung und Migration bestimmten den neuen Diskurs. Alte Begriffe wie Klassenkampf, Imperialismus und Dritte Welt wurden durch Begriffe wie Ethnizität, Migration und Entwicklungsländer ersetzt. Es ging nicht mehr um soziale Emanzipation und individuelle Integration, sondern um die Anerkennung kultureller Gruppen und ihre gesellschaftliche Partizipation. Es ging nicht mehr um die Abschaffung der ausbeuterischen imperialistischen Verhältnisse, sondern um die friedliche Koexistenz der Weltkulturen. Und die Dritte Welt wurde auf sich gestellt und versank in der Korruption ihrer postkolonialen Eliten. Außerdem hatte die erste Welt durch die Migration die Dritte Welt nun zu Hause und war schwer mit ihr beschäftigt.

Kulturrelativismus und Gleichwertigkeit aller Kulturen


Gleich nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges wurde das westliche zivilisatorische Modell erst in den USA, später in Europa in Frage gestellt. Die evolutionistische Theorie,5 die eine fortschreitende Entwicklung zum besseren behauptet, wurde kritisiert. Der Westen verkörpere nicht die höchste Stufe der Zivilisation und des Fortschritts, die der Rest der Welt anstreben solle. Sein Wertesystem sei nicht besser als das anderer Kulturen. Der Kulturrelativismus wurde verteidigt und der europäische Ethnozentrismus bekämpft. In dieser Hinsicht lieferte Claude Lévi-Strauss mit seiner strukturalistischen Anthropologie die ideologische Rechtfertigung dafür. In seiner Arbeiten zeigte er, dass alle Kulturen eine ähnliche geistliche Struktur aufweisen, die er universeller Geist nannte.In seinem im Auftrag der UNESCO geschriebenen Buch „Race et History“ (1952) zog er aber daraus Konsequenzen, die sich gegen den Universalismus richteten. Alle Kulturen sind in ihren Bemühungen, ihre Gesellschaften zu erhalten gleich und die dafür entwickelten unterschiedlichen Wertesysteme sind gleichwertig, weil sie dieselbe Funktion erfüllen. Ein universeller Wertemaßstab existiert nicht. Deshalb muss die Integrität der Kulturen erhalten bleiben und vor der Akkulturation geschützt werden. Der Widerstand gegen die Assimilation westlicher kultureller Werte durch die Entwicklung eines antiwestlichen Ethnozentrismus sei dann legitim. Der westliche Ethnozentrismus dagegen, der andere Kulturen bedroht, sei zu bekämpfen. Die Weltzivilisation schließlich bestehe aus der Koexistenz einzigartiger, unterschiedlicher, aber gleichwertiger Kulturen. Damit wurde die Geschichtsphilosophie von Kant bis Marx, die die Geschichte als fortschreitende Entfaltung der menschlichen Natur in der Vernunft und in der Freiheit betrachtet, abgeschafft.
In der Ethnologie entfachte Frederik Barth Ende der 60er Jahre eine Debatte über die Ethnizität.6 Anstatt Ethnizität und ethnische Identität als kulturelles Phänomen, das aus der Gleichsetzung Stamm-Kultur hervorgeht, wie in der Anthropologie der Kolonialzeit zu definieren, betonte Barth, dass sie das Ergebnis der Grenzziehung im Rahmen der Interaktion mit anderen Ethnien ist und daher nur in poly-ethnischen Systemen existieren kann d.h. auch in den Industriegesellschaften. Die Ethnien organisieren ihre Beziehungen zueinander auf der Basis der kulturellen Unterschiede und in der Form der „Exklusion und Inkorporation“, die eine Dichotomie von wir/ihr, eigen/fremd für die Gruppenidentifikation schafft.
Dies Verständnis der Ethnizität wurde essentialisiert und im Dienst des Widerstandes gegen die Herrschaft des weißen Mannes sowohl in den Kolonien als auch in den Metropolen eingesetzt. Mit ihm wurden der Assimilationismus und der Rassismus bekämpft und die Forderung nach Anerkennung, mit anderen Worten nach einer multikulturellen Gesellschaft gestellt.

Leitvorstellungen der Aufklärung contra kulturelle Identität


Ab Ende der 70er Jahre zeigten sich die Auswirkungen der Globalisierung und ihrer neoliberalen Politik. Die Informatikrevolution und die Rationalisierung der Produktion, der Triumph der Dienstleistungs-, Finanz- und Informationsindustrie über die traditionelle herstellende Industrie hatten die Chancenmöglichkeit der Menschen erweitert, die Umsetzungsmöglichkeit aber stark verengt. Die Arbeitslosigkeit stieg an und wurde zu einem dauerhaften Massenphänomen. Desintegrative Tendenzen machten sich breit und der Nationalstaat schien der Situation nicht mehr Herr zu werden.7
Eine intellektuelle Strömung, die sich als poststrukturalistisch und postmodern betrachtete, thematisierte diese Entwicklung. Sie zweifelte an den Leitvorstellungen der Aufklärung wie Wahrheit, Vernunft, Objektivität, universaler Fortschritt und Emanzipation. Es sind, wie François Lyotard formuliert, unglaubwürdige Meta-Erzählungen im Begriff der Auflösung.8 Die Postmoderne betrachtet „die Welt als kontingent, als unbegründet, als vielgestaltig, unstabil, unbestimmt, als ein Nebeneinander getrennter Kulturen oder Interpretationen, die skeptisch machen gegenüber der Objektivität von Wahrheit, von Geschichte und Normen.“9
In der islamischen Charta des Zentralrates der Muslime in Deutschland vom 20. Februar 2002 lesen wir unter Artikel 14: „Die europäische Kultur ist vom klassisch griechisch römischen sowie jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt. Sie ist ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst. Auch im heutigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten. Dazu zählen u.a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt.“ Das war eine Mischung von Postmodernismus und Multikulturalismus.

Gesellschaftliche Integration bei Beibehaltung aller Unterschiede?


Der Multikulturalismus, wie von Charles Taylor ausgearbeitet, will auf diese Krise eine Antwort geben. Er ist eine Philosophie der Anerkennung, die eine gesellschaftliche Integration mit Beibehaltung der Unterschiede in ihrer ganzen Bandbreite beabsichtigt. Nicht die Selbsterhaltung durch Aneignung materieller und geistiger Güter stellt die treibende existenzielle Kraft beim Menschen dar, sondern die Verwirklichung der eigenen kulturellen Identität.10
Die Krise der modernen Gesellschaft ist auf drei Merkmale zurückzuführen:11 Erstens der Individualismus, der auf den Rechten des Individuums beruht und die sinnstiftenden Fragen nach Religion, Politik und Geschichte ausklammert. Durch die „Ichbezogenheit“ hat die „permissive Gesellschaft“ zu einer Verflachung und Verengung des Lebens, zu einer Kultur der Trivialität und der Hemmungslosigkeit geführt. Zweitens die „instrumentelle Vernunft“, die der ökonomischen Rationalität zwecks Effektivitätssteigerung, sprich Profit, den Vorrang gibt und u.a. die Umwelt zerstört. Und drittens die Einschränkung der Wahlfreiheit durch die ersten beiden Merkmale, die den eigenen Lebensstil und moralische Vorstellung weitgehend bestimmen.
Daher besteht die Emanzipation und die Selbstverwirklichung in der Rückkehr zum authentischen Selbst durch einen Austausch mit „signifikanten Anderen“ wie z.B. den Eltern, um eine Identität mit moralischem Horizont zu bilden, die die sinnstiftenden Fragen beantwortet. Die Anerkennung der individuellen Identität hängt dann mit der Anerkennung der ethnischen oder religiösen Gruppe zusammen. Das ist der Kommunitarismus, in Deutschland spricht man von Parallelgesellschaften. Für seine Kritik der Moderne übernimmt Taylor ausdrücklich die Kapitalismuskritik von Karl Marx und Max Weber, ohne jedoch den Begriff Kapitalismus zu erwähnen, er spricht stattdessen von der Moderne und er formuliert die Hauptpunkte dieser Kritik neu: Der Begriff Profit als Verwertung des Kapitals weicht vor dem Begriff instrumenteller Vernunft und anstelle von Entfremdung durch Verdinglichung menschlicher Beziehungen tauchen die Begriffe Verengung, Verflachung, Bedrohung und Ohnmacht auf. So wird der Eindruck einer linken Politik erweckt.
Auf politischer Ebene hatte die Arbeiterklasse ihre Fürsprecher in den 70er Jahren verloren. Mit dem Eurokommunismus verzichteten die kommunistischen Parteien auf die Diktatur des Proletariats bzw. die proletarische Revolution und näherten sich dem reformistischen Weg der Sozialdemokratie. Nach der Implosion des Ostblocks 1989 erklärten sie sich offiziell als solche oder verschwanden.

Kultureller Ansatz der 68er Generation


Die 68er Generation hatte trotz ihrer erklärten Absichten, die Interessen der Arbeiterklasse zu unterstützen, eigentlich mit der Arbeiterklasse wenig gemeinsam. Deshalb haben sie trotz ihrer intensiven Bemühungen nirgendwo den Anschluss an sie gefunden. Ihr Ansatz war hauptsächlich kulturell und nicht ökonomisch. Sie kämpften für die sexuelle Emanzipation, für die Rechte der Homosexuellen, der Frauen, der Ausländer und der Kinder (antiautoritäre Erziehung). Das waren alles Werte, die der Arbeiterklasse wenig behagten. In den 70er Jahren standen sie sogar teilweise gegen sie, als sie Ökologie und Umwelt auf ihre Fahnen schrieben. Das war gegen viele Produktionszweige gerichtet und bedeutete den Verlust von Arbeitsplätzen. Als der Multikulturalismus kam mit seinem Ansatz, die kulturelle Anerkennung stelle die Lösung aller Probleme dar, wurde er von vielen als Fortsetzung ihrer linken Positionen übernommen.

Multikulturalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern


Viele europäische Länder übrigens wie Großbritannien, Norwegen, Schweden, Holland, Dänemark übernahmen den Multikulturalismus als offizielle Staatspolitik. In Deutschland war das nicht der Fall, trotzdem breitete sich der Multikulturalismus quer durch alle Parteien aus, so dass in den 90er Jahren de facto eine Multikulti-Politik weitgehend betrieben wurde.
Die Grünen haben als einzige Partei in Deutschland den Multikulturalismus in ihrem Programm aufgenommen. Auf einer Außerordentlichen Bundesversammlung im Mai 1989 in Münster wurde eine Erklärung „Für eine multikulturelle Gesellschaft – gegen Rechtsradikalismus und AusländerInnen-Feindlichkeit“ diskutiert und verabschiedet. In dem Programm für die kurz danach abgehaltenen Europawahlen 1989 tritt der Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ schon auf.
Ein Jahr später, 1990, erklärt das Programm der Grünen zur ersten gesamtdeutschen Wahl: „Alle hier lebenden Menschen müssen sich an politischen Entscheidungen gleichberechtigt beteiligen können, egal welche Staatsbürgerschaft sie haben.“ Und weiter: „Wir streben offene Grenzen an: Jeder soll dort leben und arbeiten können, wo er bzw. sie möchte.“ Die Grünen sind für die multikulturelle Gesellschaft und verlangen für ein friedliches Zusammenleben, nicht nur ein sicheres Aufenthaltsrecht für Alle, sondern auch „daß in der Bundesrepublik alle EinwanderInnen und Flüchtlinge kulturell selbstbestimmt und gleichberechtigt mit uns leben.“ Außerdem müsse jeder, der aus politischen, rassischen und religiösen Gründen verfolgt ist oder wegen Bürgerkrieg, Völkermord, ökonomischer Not und anderen Gründen in die Bundesrepublik flieht, Asyl erhalten. Im Wahlprogramm 1994 erhalten alle Akteure in der „multikulturellen multiethnischen Gesellschaft“ die Aufgabe, „Verständnis und Akzeptanz für die verschiedenen Lebenswelten von Minderheiten sowie ein friedliches Miteinander zu schaffen.“

Niedergang des Multikulturalismus


Ende des letzten Jahrhunderts waren viele europäische Gesellschaften stark multikulturalistisch umgebaut. Anstatt der erwünschten friedlichen Koexistenz hatten die ethnischen und kulturellen Konflikte massiv zugenommen und gehörten zum Alltag. Die Ideologen, die zu Multikulti beigetragen haben, machten einen Rückzieher. Claude Lévi-Strauss, den die Expansion und die Aggression der muslimischen Gemeinde in Frankreich (circa 6 Millionen) erschrocken haben, erklärte gemäß seiner Theorie der Erhaltung und des Schutzes der Kulturen, die eigentlich für die Dritte Welt gedacht war, seine eigene französische Kultur nun beschützen zu wollen und nahm eine extreme islamfeindliche Haltung an.
Frederik Barth bedauerte zur selben Zeit, dass seine Theorie, die einen besseren Verständnis der Ethnien zwecks ihrer Integration in der Industriegesellschaft dienen sollte, das Gegenteil erreichte und eine Segmentierung der Gesellschaft durch die Essentialisierung der ethnischen Identitäten herbeiführte. Und schließlich verschwand die Postmoderne, die ein paar Jahrzehnte die Welt beschäftigte, unbemerkt und taucht heute kaum im öffentlichen Diskurs auf.
Die Länder distanzierten sich von ihrem Multikulturalismus. Holland hat seine zehnjährige multikulturalistische Politik im Jahre 1994 abgeschafft. Sarkozy erklärte in Paris dem Kommunitarismus den Krieg und Merkel in Berlin den Multikulturalismus für gescheitert. In ganz Europa werden die Migrations- und Sicherheitsgesetze verschärft, was eine Multikulti-Politik erschwert. Der Grund dafür ist der islamische Terrorismus, der seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in das Bewusstsein aller Menschen eingedrungen ist.

Problembereich: Islam aus Ländern ohne Demokratie


Multikulti in Europa hat direkt mit der muslimischen Einwanderung zu tun. In allen europäischen Ländern bilden sie die Mehrheit der Migranten. Sie stammen aus Ländern, in denen die Demokratie sich nicht durchsetzen konnte. Als Muslime haben sie eine Religion, die nichts und niemanden anerkennt außer sich, weder Nichtmuslime noch andere Religionen oder Weltanschauungen, geschweige denn Demokratie und Menschenrechte werden akzeptiert. Alle Versuche, den Islam zu modernisieren und reformieren, sind bislang misslungen.
Nach der iranischen Revolution von 1979 und dem Beginn des Kampfes gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan erschien der Islam als revolutionär und emanzipatorisch und wurde deswegen für viele attraktiv, insbesondere für die zweite Generation von Muslimen, die in Europa aufgewachsen sind, aber denen eine europäische Identität verweigert wurde. Auf die Ausgrenzung antworteten sie mit der Selbstabgrenzung, indem sie eine islamische Identität entwickelten, die sich gegen die Leitkulturen der Gastländer richtete. Umrahmt von religiösen Verbänden, die traditionell oder zum großen Teil fundamentalistisch sind, begannen sie, sich kommunitaristisch zu organisieren und verlangten die Anerkennung ihrer Identität und Lebensweise.
Der Multikulturalismus fördert diesen Prozess. Für ihn bedeutet eine wahre Anerkennung der Unterschiede, die Anerkennung des gleichen Wertes verschiedener Existenzweisen und die Aufforderung an die Politik die Gleichwertigkeit verschiedener Identitäten anzuerkennen. Dass viele Kulturen und Lebensweisen die Menschenrechte verachten und die Demokratie nicht akzeptieren, hat die meisten Multikulti-Anhänger nicht interessiert, bis der Terrorismus vor der Tür stand.

Die Auswirkungen des Terrorismus auf „Multi-Kulti“ – am Beispiel der Grünen


Der Terrorismus wirkte sich auch auf die Politik der Grünen aus. Im Grundsatzprogramm 2002 „Die Zukunft ist grün“ verzichten die Grünen auf den Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ und ersetzen ihn mit dem Begriff „multikulturelle Demokratie“. Sie betonen zuerst ihr Festhalten an den Menschenrechten. Sie sind universell, unteilbar und unverhandelbar gegenüber einem falschen kulturellen Relativismus. Dann postulieren sie, dass die Menschenrechte zu den gemeinsamen politischen Zielvorgaben für das Zusammenleben in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft gehören. Und kommen zu folgendem Schluss: „...die Verbindung der Begriffe Demokratie und multikulturelle Gesellschaft heißt für uns: Multikulturelle Demokratie.“
Dieser Kraftakt, Widersprüchliches zu vereinen, wurde widersprüchlich in der Öffentlichkeit vermittelt. Während die Umweltministerin Renate Künast in der Berliner Zeitung (03.12.2004) darin sah, „dass wir als Gesellschaft auch Erwartungen haben dürfen. Zum Beispiel, dass Zuwanderer die deutsche Sprache lernen und sich mit unserem Verständnis von Menschenrechten auseinander setzen. Ich denke da an die Stellung der Frau, die Frage von häuslicher Gewalt oder auch an das Problem der Zwangsverheiratungen“, schrieben die Parteivorsitzenden Reinhard Bütikofer und Claudia Roth im Berliner „Tagesspiegel“ (28.11.2004), dass es sich um eine neue Begründung der multikulturellen Gesellschaft handelt und dass diese „oft sogar Toleranz für Lebensweisen, die man für ‚falsch‘ hält“ fordert.
Im Programm 2002 taucht zum ersten Mal der Begriff „interkulturell“ leise neben dem Begriff „multikulturell“ auf, was wieder einen Widerspruch darstellt. Multikulturell bedeutet die Anerkennung und Respekt der kulturellen Eigenartigkeit. Das führt zum Kommunitarismus. Interkulturell bedeutet das Verständnis der anderen Kultur, um den passenden Umgang zu finden, bekannt als interkulturelle Kompetenz, für die Verwirklichung der Integration.
Dieser Widerspruch wurde im Programm von 2013 korrigiert. Dort wird nur von interkulturell gesprochen, der Begriff multikulturell war verschwunden. Anstelle von Anerkennung und Respekt ist nun massiv die Rede von interkultureller Öffnung der Verwaltung, der Institutionen, der Wirtschaft usw. kurz der Gesamtgesellschaft. Das bedeutet eine intensive Integrationsarbeit. Es fällt aber auf, dass manche führenden grünen Politiker interkulturell sagen, aber multikulturell denken und sogar multikulturell handeln, besonders in Bezug auf Religionen. Trotz der klaren Tendenz des letzten Programms scheint es so, als ob die Frage der Orientierung bei den Grünen noch nicht ganz entschieden ist.

Verteidigung der universellen Menschenrechte steht auf der Tagesordnung


Nach all diesen Umwälzungen seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die globalisierte Welt etabliert. Die Terrorakte vom September 2001, die Finanzkrise von 2008 und das Massaker von Charlie Hebdo 2015 sind Ereignisse, die diese neue Welt kennzeichnen. Es geht heute darum, das globale Finanzkapital unter Kontrolle zu halten, die Sicherheit jedes Einzelnen vor dem Weltterrorismus zu gewährleisten und die Zersplitterung der Gesellschaften zu stoppen und zu verhindern. Die Demontage und Relativierung der universalen Menschenrechte stehen nicht mehr auf der Tagesordnung, sondern ihre Verteidigung. Man sucht für den Zusammenhalt der Gesellschaften die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede.

Der Slogan „Vive la différence!“ scheint ausgedient zu haben.

Anmerkungen

  1. Laicité. Une valeur menacée? Marianne, Februar 2015 Paris
  2. Jeanbart, Bruno und Ferrand, Olivier, Gauche: Quelle majorité électorale pour 2012 ? Terra Nova, projet 2012, contribution Nr. 1, Paris 2011
  3. www.ladocumentationfrancaise.fr/ezexalead/search. Dazu kommt der Bericht von Thierry Tuot, La Grande Nation: Pour une société inclusive vom 1. Februar 2013
  4. Rapport au premier ministre sur la refondation de la politique d’intégration. Groupe de travail »Connaissance-reconnaissance ». Paris 2013, S. 36
  5. Morgan, Lewis Henry, Ancient Society or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Zivilisation. London 1877
  6. Barth, Frederik, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen 1969
  7. Vgl. Berding, Helmut (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt a.M. 1994. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander ? , Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt a.M. 1997, 2Bde
  8. Lyotard, François, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979, S. 6
  9. Eagleton, Terry, Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart 1997, S. vii
  10. Vgl. Taylor, Charles, Politics of Recognition, in: Dutman, Amy, Multiculturalism. Princeton 1994, S. 25-74
  11. Vgl. Taylor, Charles, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 1995