Mafia als Staatsmacht?

– Russische Perspektiven –

Von Dr. Wolfgang Hetzer, Ministerialrat, Wien

Vorbemerkungen

Es gibt bislang nur wenige neuere seriöse Studien, denen es gelingt, das Ausmaß und die Bedeutung illegaler Kapitalbewegungen aus Russland seit 1994, dem Jahr, in dem zuerst halbwegs aussagekräftige Zahlungsbilanzen für dieses Land verfügbar waren, zuverlässig und halbwegs realistisch zu bemessen und zu bewerten.1 Das hängt auch mit unterschiedlichen methodischen Vorannahmen und Kriterien zusammen. Ökonomen haben bislang Kapitalzufuhr und Kapitalausfuhr im Nettobetrag ermittelt, unabhängig davon, ob es sich um legale oder illegale Kapitalbewegungen handelte. Damit sind methodische und logische Schwächen verbunden. Eine Netto-Bilanzposition mag sinnvoll erscheinen, wenn es um legale Kapitalbewegungen im Rahmen ausländischer Direktinvestitionen oder erkannter bzw. berichteter Kapitalflucht geht. Bei illegalen Kapitalbewegungen macht eine Nettobestimmung dagegen wenig Sinn, weil der Kapitalfluss auch in beiden Richtungen illegal ist. Die Bestimmung eines Nettobetrages entspräche einem „Netto – Verbrechen“, weniger einem Netto-Nutzen oder dem Kostenbetrag für die Wirtschaft.

Vor diesem Hintergrund haben Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Anfang 2013 versucht, in ihren Schätzungen zwischen den Nettobeträgen legaler Kapitalbewegungen, den illegalen Bruttoausfuhrbeträgen und der allgemeinen Kapitalflucht aus Russland zu unterscheiden. Sie haben auch das Konzept der Totalerfassung illegaler Kapitalbewegungen entwickelt (Illegale Einfuhren plus illegale Ausfuhren), um die Verbindungen zu untersuchen, die zwischen dem Gesamtvolumen und den Aktivitäten der Untergrundökonomie in Russland bestehen.2 Nach ihren Erhebungen ist im Zeitraum zwischen 1994 – 2011 aus Russland legales und illegales Kapital im Gegenwert von insgesamt 782,5 Milliarden Dollar abgeflossen. Das entspricht einem jährlichen Durchschnittswert von 43,5 Milliarden Dollar. Diese Zahlen schließen Abflüsse auf Grund absichtlich fehlerhafter Handelsrechnungen ein.
Die kumulativen illegalen Kapitalzuflüsse durch Überfakturierungen im Exportgeschäft (vielleicht auch zur betrügerischen Erlangung von Ausfuhrerstattungen) beliefen sich im genannten Zeitraum auf 145,8 Milliarden Dollar, während der Kapitalzufluss durch Unterfakturierung im Importgeschäft (möglicherweise angetrieben durch die Absicht zur Vermeidung von Zollzahlungen) die Höhe von 397,1 Milliarden Dollar erreichte. Die Verfasser der zitierten Studie empfehlen den russischen Behörden daher dringend, solche illegalen Praktiken zu untersuchen, die die Fiskalpolitik der Regierung durch Einnahmeverluste und wachsende Ausgaben unterminieren. Sie fanden heraus, dass Regierungs- bzw. Verwaltungshandeln („Governance“) der wichtigste Faktor bei der Entwicklung illegaler Kapitalbewegungen und der Untergrundökonomie ist.
Diese „Wirtschaftsordnung“ ist in ihren verschiedenen Ausprägungen sehr wichtig für die Erklärung illegaler Kapitalbewegungen. Sie wird durch illegale Kapitalbewegungen „im Brutto“ getrieben und treibt diese selbst auch an. Anders als bei legalen Kapitalflüssen schädigen illegale Kapitalflüsse in beide Richtungen die gesamte Wirtschaft. Deshalb stellt sich die Frage des „Nettobetrages“ zwischen illegalen Kapitalzuflüssen und illegalen Kapitalabflüssen nicht. Deren schädliche Gesamtwirkung ist nach Meinung der Autoren in der Gesamtsumme aus Zuflüssen plus Abflüssen messbar. Nach ihren Erkenntnissen erhöht makroökonomische Instabilität den Abfluss illegalen Kapitals. Deshalb besteht das Erfordernis, die Preis- und Wechselkursstabilität aufrechtzuerhalten und Steuerstrukturen zu schaffen, die nicht (zu) belastend sind und zur Flucht animieren.
„Governance“ sei in Russland insgesamt deutlich schwächer geworden. Verbesserungsbedürftig erscheinen insbesondere die „Herrschaft des Gesetzes“ und die Kontrolle der Korruption. Die endemische Falschfakturierung im Handel gilt als ernsthaftes Symptom für die Schwächen der russischen Zollverwaltung, die umfassend reformbedürftig sei. Die dort vorhandenen Defizite behindern auch die Anstrengungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Die administrativen Mängel gefährden letztlich die nationale Sicherheit. Die massiven illegalen Kapitalabflüsse aus Russland und ihre starke Wirkung auf die Untergrundökonomie spiegeln in den Augen von Kar und Freitas jedenfalls das umfassende Versagen der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen in diesem Land.

Wurzeln neuer Kriminalität


Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat nicht nur die politische Landschaft Russlands verändert.3 Er war auch die Geburtsstunde einer neuen und wachsenden Art von Kriminalität.4 Es sind zunächst neue – auch gewalttätige – Netzwerke entstanden, die aber inzwischen auch die Techniken des internationalen Kapitaltransfers nicht zuletzt deshalb erlernt haben, weil es ihnen zuerst vor allem die östlichen Mitgliedstaaten der EU ermöglicht haben, ihre Finanzkanäle zu nutzen, um den Gewinn aus kriminellen Handlungen aller Art zu transferieren und grenzüberschreitend zu investieren.
Es kann vorerst dahin gestellt bleiben, ob es eine Folge institutioneller Unfähigkeit oder struktureller Korruption ist, dass gegen diese Entwicklung bis heute keine umfassend wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Im Gegenteil: Heutzutage sind auch und vor allem Banken in den EU-Mitgliedsländern und anderen westlichen Staaten damit beschäftigt, die aus der Sicht der kriminellen Akteure höchst wichtige Geldwäsche zu betreiben. Die Einführung eines risikobasierten Ansatzes in die Gesetzgebung zur Bekämpfung der Geldwäsche auf europäischer und nationaler Ebene hat daran aber kaum etwas verändert. Es liegen Beweise dafür vor, dass nach wie vor insbesondere osteuropäische Banken und selbstverständlich auch Finanzinstitute im Westen, aktiv an der Wäsche illegal erlangter Gelder aus Russland beteiligt sind. Die baltischen Staaten sind allerdings häufig der erste Anlaufpunkt für bemakeltes und gestohlenes Kapital aus Russland und der Ukraine. Ein ganz besonderes Netzwerk („Vanagels Connection“) hat es geschafft, etliche baltische Banken zu instrumentalisieren, um die Herkunft von vielen Hunderten Millionen Euros zu verschleiern. Soweit Regierungen in den östlichen Mitgliedstaaten der EU überhaupt Gegenmaßnahmen ergriffen haben, blieben sie häufig lethargisch und zumeist erfolglos. Die russische organisierte Kriminalität (ROK) wird deshalb nicht nur weiter ein Problem für ganz Europa bleiben.5 Es wird sich verschärfen. Ihre Macht wird weiter anwachsen, wenn es nicht gelingt, die Finanzkanäle trockenzulegen. Das ist aber nur dann zu schaffen, wenn die EU eine aktivere Rolle übernimmt, um in ihren Mitgliedsländern nicht nur dafür zu sorgen, dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zur Geldwäschebekämpfung umgesetzt werden, sondern dass die entsprechenden Gesetze auch tatsächlich durchgesetzt werden.
Die EU wird allen Regierungen und Banken noch besser klarmachen müssen, dass andernfalls langfristig das Risiko zu groß ist, in die Aktivitäten der ROK verstrickt zu werden. Es ist höchst Zeit. Die Bedrohung durch die ROK an den Türschwellen der EU existiert immerhin schon seit weit mehr als 20 Jahren. Die Erträge russischer Kriminalität und insbesondere der Korruption sind an den Küsten der europäischen Finanzwelt platziert worden und gefährden nicht nur die finanzielle Stabilität der Gemeinschaft, sondern erhöhen auch Niveau und Intensität der sich daraus ergebenden Folgekriminalität. Dabei ist noch nicht einmal die wachsende russische Kriminalität das entscheidende Problem, sondern der Umstand, dass die Bemühungen zur Eindämmung dieser Entwicklung weitgehend erfolglos geblieben sind. Das hat unterschiedliche Gründe: Die transnationalen Mechanismen der Geldwäsche, um die es hier geht, zeichnen sich gerade in Russland dadurch aus, dass es dort innige Verbindungen zwischen führenden Politikern und dem organisierten Verbrechen gibt. Die EU sieht sich einer einzigartigen Bedrohung ausgesetzt: Eine kriminelle Kraft, die sich der Gunst einer nationalen Regierung erfreut.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist ein Steuerbetrugskomplott aus dem Jahre 2007, in dessen Verlauf Hunderte Millionen Dollar aus Russland gewaschen wurden („Magnitsky/Hermitage Capital“). Der Fall zeigt die fest geschmiedeten Verbindungen zwischen Beamten der Steuerbehörden, Polizisten und der Unterwelt. Verdeckungmaßnahmen und mangelnde Initiative der Regierung deuten auf politische Einflussnahme hin. Er bietet darüber hinaus nahezu grotesk wirkende Einzelaspekte,6 wirft ernste Fragen nach der Beteiligung von Banken auf und begründet Besorgnisse wegen des Unwillens von Regierungen, die Bestimmungen der EU-Geldwäscherichtlinien umzusetzen und zu beachten.
Politische Lösungen erfordern eine klare Hierarchie der Verantwortlichkeiten. Ganz oben müsste die EU stehen. Dort wurde aber nichts getan, um die effektive Durchsetzung der Geldwäschebestimmungen, etwa durch eine EU-weit tätige Behörde, die die Arbeit der nationalen Financial Intelligence Units (FIU) direkt beobachtet, zu gewährleisten. Das liegt im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten. Es wäre aber im besten Interesse der EU, wenn sie die Regierungen der Mitgliedstaaten veranlassen würde, Druck auf die „Financial Institutions (FI)“, (das sind nicht nur Banken!), in der jeweiligen Jurisdiktion auszuüben. Änderungen des gegenwärtigen regulativen Systems in der EU sind notwendig, damit alle nationalen Regierungen die einschlägigen Richtlinien angemessen umsetzen. Es bleibt abzuwarten, wie die Umsetzung der anstehenden 4. EU-Geldwäscherichtlinie erfolgt und ob sie die nötige Wirkung hat.
Alleine die Verabschiedung von Gesetzen genügt jedoch nicht. Die Gesetzgeber sind angehalten, Beweise dafür vorzulegen, dass sie auch für deren Einhaltung sorgen. Das ist nicht allen Regierungen zuzutrauen. Die EU selbst sollte eine entsprechende Verantwortung übernehmen. Erforderlich wäre eine koordinierte Aktion, an der sich verschiedene Gruppen beteiligen. Dazu gehören natürlich die Finanzinstitutionen, die nationalen Regierungen und die EU selbst.

Kapitalismus als Humus


Die ROK blüht seit Beginn der 1990er Jahre auf. Die damals zunehmende Schwäche des russischen Staatswesens war eine der Voraussetzungen für ihren Erfolg. Erst allmählich begannen die USA und die EU zu begreifen, welche Gefahren damit auch für die Interessen der westlichen Welt verbunden sind. Dennoch konnte die ROK in den vergangenen mehr als 20 Jahren weiter wachsen und gedeihen. Die Versuche der USA und der EU, dieser Entwicklung entgegenzuwirken sind fast alle gescheitert. Die ROK hat weiter Fuß gefasst, weil die Geschwindigkeit des ökonomischen Wandels sehr viel höher war als die aller gesetzgeberischen Anstrengungen. Die russischen Regierungen konnten das nach dem Fall der Sowjetunion entstandene legale Vakuum nicht ausfüllen. Es entstand eine ganz besondere Art des Kapitalismus, der durch umfassende Regelungsdefizite privilegiert wurde, während im Westen und der übrigen Welt allerdings schon ein „Finanzkrieg“ ausgebrochen war.7
Wie auch immer: Die ROK hatte freie Bahn. Kriminelle Netzwerke konnten sich in einen schwarzen Markt einbetten, der immer mehr und immer schneller um sich griff. Schon in der Sowjetunion unter Breschnjew war die ROK infolge allgegenwärtiger und sogar zunehmender Korruption weit verbreitet. Schon damals kam es zu einem „Waffenstillstand“ mit den sowjetischen Regierungen. Nach den von Gorbatschow verfügten Liberalisierungen wechselten die ROK-Gruppen einfach vom schwarzen Markt auf die neu entstehenden legalen Märkte. Es entstand das Konzept der „Diebe im Gesetz“. In organisierten kriminellen Netzwerken schufen „Mafia-Bosse“ ein System, das Anfang der 1990er Jahre noch viel hierarchischer strukturiert war als zehn und mehr Jahre später („Gulag-Schule“). Der gegenwärtige amerikanische Außenminister John Kerry hatte damals noch als Senator behauptet, dass die wirkliche Macht bei den russischen „Paten“ und ihren Verbündeten liege. Dazu zählten ehemalige KGB-Angehörige, die in wichtige Positionen in der privaten wie in der staatlich kontrollierten Wirtschaft gelangten, und Politiker in hohen Ämtern. Er sprach nachdrücklich von einer „Allianz“ zwischen russischen Amtsträgern und der ROK.
Diese Entwicklung ist nicht allzu überraschend, verloren doch viele staatliche Bedienstete ihre Arbeit und wähnten sich zum Anschluss an kriminelle Gruppierungen gezwungen. Es wechselten auch viele, die ihren Job zunächst noch behalten hatten, in das kriminelle Milieu, weil sie aus ihrer Sicht nicht mehr genug verdienten. Die ROK konnte so aufgrund weitverbreiteter Korruption Macht und Einfluss über Regierungsangestellte gewinnen, die bereit waren, ihre Dienste anzubieten, um ihr Einkommen aufzubessern. Zu jener Zeit hatte die ROK schon die Fähigkeit entwickelt, in jeden Sektor der Wirtschaft und der Regierung einzudringen. Sie war durch die Korrumpierung der politischen Macht und der Strafverfolgungsbehörden und durch den Ehrgeiz geprägt, monopolistische Strukturen in Territorien und in der Eigentumsordnung zu schaffen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Städten St. Petersburg und Moskau. Dort wurden Schutz- und Einflusszonen aufgebaut. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Gruppen, von denen es einige schafften, durch Schutzversprechen sogar die Loyalität der örtlichen Wählerschaft zu erhalten. Dies lag allerdings auch daran, dass es damals für private Geschäftsleute nicht möglich war, mit rechtlichen Mitteln für die Erfüllung geschlossener Verträge zu sorgen. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass die Polizei Bürger und Geschäftsleute vor physischen Bedrohungen schützt.
Die Anfang der 1990er Jahre beginnende Infiltration von Regierungsbehörden war ein großer, wenn nicht der entscheidende Schritt auf dem Weg zur „Legitimierung“ der ROK. Korrupte Beamte begannen, die kriminellen Syndikate mit Exportgenehmigungen, Zollabfertigungsdokumenten, Steuerausnahmebescheiden und Regierungsaufträgen zu „beliefern“. Mitte der 1990er Jahre konnte man sich auch der Dienste von Mitarbeitern von Abgeordneten des Parlaments (Duma) für 4- 5000 Dollar versichern. Die ROK hatte so die Möglichkeit, jede Entscheidung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, die auf eine Bekämpfung von Kriminalität und Korruption abzielte. Am Ende des Jahrzehnts verfügte die ROK aufgrund ihrer Allianz mit den Oligarchen in den strategisch wichtigen Bereichen der Wirtschaft über noch mehr Einfluss im Regierungsapparat und unterstützte den illegalen und korrupten Verkauf russischer Ressourcen ins Ausland. Zugunsten der Oligarchen beteiligte sich die ROK am Schmuggel von Öl, Gas und anderen strategischen Gütern.8 Durch die Vermeidung von Exportsteuern wurden den russischen Bürgern und Steuerzahlern viele Milliarden Dollar widerrechtlich entzogen.
Der ROK ist es auch gelungen, in den Banksektor vorzudringen. So konnte sie den Geldfluss ins Ausland effizient kontrollieren. Nachrichtendienstlichen Quellen zufolge hatten schon damals 25 der größten Banken direkte Verbindungen zu Gruppen der ROK. Nach Feststellungen der russischen Zentralbank verstießen im Jahre 1995 71 Prozent der Banken in Moskau gegen einschlägige gesetzliche Bestimmungen. Die ohnehin nur rudimentär ausgebildeten Vorschriften wurden permanent verletzt, um illegale Gewinne außer Landes zu schaffen. Dennoch widmete man sich im Westen keineswegs dem rechtswidrigen Vorgehen russischer Banken. Die Erklärung ist einfach. Westliche Banken und Finanzinstitute überall haben enorm von den Vermögen in Milliardenhöhe profitiert, die gewaschen und überall im Westen deponiert wurden. Ein Jahr vor dem wirtschaftlichen Kollaps, also im Jahre 1997, standen zwei Drittel der russischen Wirtschaft unter der Kuratel krimineller Organisationen. Während die normalen russischen Bürger sich auf den Straßen nicht mehr sicher fühlen konnten, waren Politiker und Oligarchen mit der Plünderung der Schätze des Landes beschäftigt und beraubten ihre Landsleute, die kaum soziale Unterstützung erhielten und keine Infrastrukturleistungen genießen konnten.
Die ROK verschärfte die Problematik, indem sie den Transfer von Geld und Ressourcen ins Ausland organisierte und das rechtswidrig erlange Kapital korrupter Amtsträger schützte. Nach Schätzungen aus dem Jahre 1996 wurden 30-50 Prozent des von der ROK erzielten Einkommens an korrupte Bedienstete weitergeleitet bzw. „rückerstattet“.9 Erst Mitte der 1990er Jahre schien man im Westen ganz allmählich zu begreifen, dass man Gegnern aus einem Land gegenüberstand, das durch Kontrollverlust geprägt war. Das Militär in Russland war übrigens ebenfalls nicht in allen Teilen von organisierter Kriminalität zu unterscheiden.
Eine große Bedrohung erwuchs zudem aus der damaligen geopolitischen Situation in Osteuropa, das zu einem Vorposten wichtiger politischer Veränderungen geworden war. Dort erhoffte man sich den Aufbau erfolgreicher Demokratien. Die noch sehr unvollständigen Sicherheits- und Justizsysteme eröffneten jedoch der ROK auch in diesen Ländern neue und weitere Aktionsfelder. Die Furcht wuchs, dass auch der Rest Europas dadurch bedroht sein könnte, war doch erkennbar geworden, dass die ROK sehr daran interessiert ist, ihre Geschäfte ohne Rücksicht auf politische Grenzen zu betreiben. Es wurden Allianzen geschmiedet, die von kolumbianischen Drogenbanden bis zur italienischen Mafia reichten. Man wähnte sich am Beginn einer ganz besonderen „Globalisierung.“

Banker und Komplizen


Am größten war allerdings die Besorgnis wegen der anwachsenden Interaktionen mit legal operierenden Geschäftsbereichen und den diversen Finanzinstitutionen im Westen. In der Debatte über die weltweite Ausbreitung der ROK wurde die Tatsache verschwiegen, dass es im Westen zu einer Komplizenschaft mit dieser gefährlichen Kriminalität gekommen war, die zum Teil bis heute fortbesteht. Hohe Milliarden-Beträge sind mit Hilfe „kooperativer“ Banken in Westeuropa und den USA aus Russland herausgeschafft worden. Als die amerikanischen Justizbehörden noch darum bemüht waren, die Banken ihres Landes vor illegal erworbenem Vermögen zu schützen, waren diese zu einem erheblichen Teil schon an entsprechenden Schmuggel- und Verschleierungsoperationen beteiligt. Die Beteiligten der „Finanzgemeinschaft“ gaben dagegen vor, sich gegen die angebliche „Hysterie“ der Geldwäschevorwürfe zu wenden. Der Grund war einfach: Banker haben vom Zufluss der Milliardenbeträge enorm profitiert, selbst wenn die enormen Summen nur kurze Zeit im Lande blieben.
In den 2000er Jahren wurde noch deutlicher, wie sehr die Banken auch in diesem Bereich nur an der Profiterzielung interessiert waren (und sind). Umso mehr war und ist man im Westen von der Rechtsdurchsetzung sowohl durch eigene Jurisdiktion als auch durch die der Russen abhängig. Das war in der Mitte der 1990er Jahre aber alles andere als einfach, weil die zuständigen Behörden sich zu großen Teilen unter dem Joch der ROK befanden. Die Unfähigkeit zu angemessenen Ermittlungen hing auch von dem politischen Willen und dem Rechtsrahmen ab, der in den 1990er Jahren aufgebaut worden war. Soweit in westlichen Ländern Untersuchungen gegen die ROK überhaupt begonnen wurden, scheiterten sie zumeist wegen der verzögerten Beantwortung von Anfragen und der Weigerung der russischen Seite Beweismaterial vorzulegen. Politische Einflussnahme und Korruption haben die Anstrengungen zudem oft unterminiert. Schlimmer noch: Als es russischen organisierten kriminellen Gruppen immer mehr gelungen war, politische Kreise zu infiltrieren, haben sie ihren Einfluss genutzt, um internationale kriminalistische Untersuchungen gegen politische Gegner oder ethnische Minderheiten zu initiieren und sie durch Vorlage falscher Beweismittel zu steuern. Oligarchen und korrupte Beamte haben sogar Manipulationen im Büro des Generalstaatsanwalts vorgenommen, um die ROK und ihre Verbündeten zu schützen. Kooperationsbereitschaft bei internationalen Ermittlungen zeigte man allerdings dann, wenn keine Russen involviert waren oder es um „moralische“ Angelegenheiten (z. B. Sex-Tourismus und Kinderpornographie) ging. Die auf die ROK gerichteten Bemühungen westlicher Behörden blieben zum größten Teil erfolglos. Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert. Nur die „Verkleidung“ der ROK ist anders geworden. Mit ihren Wurzeln noch in der Sowjetunion blühte sie im gesetzesfreien Raum der nachfolgenden russischen Föderation weiter auf. Die fortgesetzte Privatisierung vor der Schaffung eines verlässlichen Rechtsrahmens war ein „Segen“ für die ROK. Ihre Gruppierungen profitierten von einem ungezähmten Kapitalismus. Sie drangen in jeden Bereich der Gesellschaft vor und verwirklichten ein neues „Wild-West-Prinzip“. Ihre Vertreter haben die Verbindungen zu korrupten Politikern „kapitalisiert“ und konnten sich durch ihre Verankerungen im Regierungsapparat weiter freie Bahn verschaffen. Ihr Erfolg in Russland war die Basis ihrer Ausdehnung auch in andere Länder. Dies geschah mit Hilfe von Allianzen mit nahezu jeder größeren kriminell organisierten Gruppe in der Welt. Die Wahl Putins im Jahre 2000 veränderte die Situation in mancher Hinsicht. Die Interessen der ROK gerieten in Gefahr. Es ist aber zweifelhaft, ob dies mit tiefgreifenden und nachhaltigen Wirkungen verbunden ist.

Herrschaft des Gesetzes?


Putin hatte nach seinem Amtsantritt zwar die „Herrschaft des Gesetzes“ ausgerufen. Damit alleine ist die ROK offensichtlich nicht zu beseitigen. Auch russische Kriminelle haben sich an die veränderten politischen Verhältnisse angepasst. In der Folge entstand ein noch stärker internationalisiertes kriminelles Netzwerk. Es hat sich nicht zuletzt wegen seines klandestinen und geschmeidigen Charakters und seiner Kontakte zur internationalen Finanz- und Geschäftswelt prächtig entwickelt.
Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen den 1990er Jahren und den 2000er Jahren gehört eine strukturelle Neuausrichtung. Es gibt keine formal stark ausgeprägte Hierarchie mehr. Die Zahl der „Diebe im Gesetz“ hat abgenommen. Die einzelnen Gruppen können auch ohne einen (mehr oder minder großen) „Paten“ funktionieren. Die moderne ROK hat eine „Zellenstruktur“. Sie geht informelle und effektive Allianzen ein. Deren Macht ist nicht zu unterschätzen. Dabei gibt es eine nationale und eine internationale Dimension. Als internationale Kraft kann sich die ROK auf ein gut ausgebautes und bedürfnisgerechtes „Tunnelsystem“ verlassen. Bemakeltes Kapital wird darin an jede beliebige Stelle in der EU transferiert.
Der Fortbestand der ROK war aber schon in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gesichert, weil prominente Regierungsmitglieder und Oligarchen ihren „Segen“ gaben. Die Zusammenarbeit zwischen Vertretern öffentlicher Behörden und Bewohnern der „Unterwelt“ wurde entsprechend enger, zumal noch mehr Korruption aufkam und Amtsträger in betrügerische Komplotte verwickelt wurden. Die Flaneure auf den „Korridoren der Macht“ näherten sich immer mehr der ROK und stellten neue starke Verbindungen her. Das bemakelte Geld konnte umso leichter in und durch Banken weitergeleitet werden, die zum größten Teil von Oligarchen kontrolliert wurden. In dieser Lage wurde Putins Erscheinen auf der politischen Bühne in der kriminellen Welt zunächst als Schock empfunden. Die Befürchtung wuchs, dass die Herrschaft des Gesetzes der bisherigen staatlichen Protektion ein Ende bereiten würde. Der Nexus blieb aber in veränderter Form erhalten. Das neue Verhältnis zum Kreml basiert nicht mehr auf einer offenen Unterstützung, sondern auf einer subtilen aber gleichwohl bedrohlichen Allianz. Die von Putin ausgeübte Kontrolle dürfte jedenfalls einzigartig sein. Das Verhältnis zwischen der ROK und der Regierung ist dadurch charakterisiert, dass die ROK solange operieren kann, wie sie gleichzeitig mit der Regierung kooperiert und sich nicht in deren Funktionen einmischt. Ihre Aktivitäten müssen sich innerhalb der Grenzen halten, die im Kreml definiert werden. Sie setzt also nicht mehr die Regeln, sondern ist nur noch ein Element innerhalb des Machtsystems von Putin.10
Diese Verhältnisse entsprechen weder dem Gesetzlichkeitsprinzip noch der „Herrschaft des Rechts“. Der Komplexität des „Nexus“ zwischen Regierung und organisierter Kriminalität wird es dennoch nicht gerecht, wenn man Russland als „Mafia-Staat“ titulierte. Diese Bezeichnung würde aber durchaus auf andere Staaten passen, mit denen der Westen lukrative wirtschaftliche Verbindungen pflegt und in denen er immer wieder mit wechselndem Erfolg versucht, die Fackel der Freiheit und der Demokratie zu entzünden, übrigens auch mit militärischem „Feuerwerk“.
Aus strategischer Sicht erscheint der Ansatz Putins durchaus als sinnvoll.11 Anfang der 2000er Jahre war Russland noch sehr mit den Folgen des wirtschaftlichen Crashs von 1998 belastet. Die Wirtschaft begann sich seinerzeit zwar etwas zu erholen. Es gab aber eine weit verbreitete Instabilität. Die Gas- und Ölpreise hatten noch nicht das Niveau erreicht, das sie Mitte der 2000er Jahre hatten. In dieser Lage wollte Putin nach Möglichkeit einen „Krieg“ zwischen der Regierung und der „Mafia“ vermeiden. Ein Angriff auf eine derart starke Kraft hätte zu ernsthaften Konflikten geführt. Die mächtige Allianz der Oligarchen wäre verprellt worden. Zu dieser Zeit lag das prioritäre Interesse Putins darin, die Oligarchen von politischer Macht fernzuhalten bzw. zu entfernen. Ein Krieg mit den Führern des organisierten Verbrechens und den Oligarchen zur gleichen Zeit wäre ein ziemlich schwieriges Unterfangen gewesen. Nach außen führte Putin daher einen „Pseudo-Krieg“, indem er scharf gegen die Interessen der Kriminellen und ihre Vermögen vorging und eine „Diktatur des Gesetzes“ errichtete. Gleichzeitig gelang es ihm aber, sein Verhältnis zu den ROK-Gruppen durch Beschränkungen und Regeln zu konsolidieren, die sich letztlich für beide Seiten begünstigend auswirkten. Die Grundlage des gesamten Reglements war einfach: Solange sich die ROK nicht in die Interessen Putins einmischte, würde er ihren Vertretern die Fortsetzung ihrer Tätigkeit erlauben.12 Damit konnten die Allianzen zwischen der ROK und den Oligarchen aufgelöst, die Kontrolle der Straßen durch Gangstergruppen beendet und die „Loyalitäten“ zwischen Kriminellen und Abgeordneten der Duma und Regionalregierungen begrenzt werden. Das wahre Ausmaß dieser Art von „Regelhaftigkeit“ ist unbekannt. Sie unterliegt der „Amtsverschwiegenheit“ und ist in keiner Kodifikation erfasst. Eine leise Ahnung entsteht, wenn man Fälle studiert, in denen es zum Bruch dieser Regeln gekommen ist. Dazu gehören u. v. a.:

  • Der Versuch von Vladimir Barsukov als Chef der Tombov-Gruppe in die Ölindustrie in St. Petersburg vorzudringen.
  • Die Etablierung der früheren Moskauer Bürgermeisters Yury Luzhkov an der Spitze einer kriminellen Hierarchie, seine Verbindungen mit Semion Mogilevich, der weltweit als einer der gefährlichsten Verbrecher galt, und die Zusammenarbeit Luzhkovs mit der ROK im Rahmen von Geldwäsche und öffentlicher Korruption sowie seine Kritik an Medvedev und der Strategie der herrschenden „Eliten“ sowie seine Einmischung in die wirtschaftlichen Interessen des Kremls.

Insbesondere der Fall Luzhkov zeigt die direkte Beteiligung des Kreml und von Vertretern der Armee und der Geheimdienste („Silowiki“ = Kraft/Stärke) an Aktivitäten des organisierten Verbrechens.13 Diese Beziehung offenbarte sich in engen, fast nahtlosen Verbindungen zwischen dem „tiefen Staat“, d. h. der Kleptokratie in der Regierung, dem Parlament, der Zivilgesellschaft, den Strafverfolgungs- und Justizbehörden und der Geschäftswelt auf allen Ebenen sowie im Militär und vor allem in den Sicherheitsdiensten.14


Foto: A. Lemberger

Die Ermordung des stellvertretenden Chefs der russischen Zentralbank Andrei Kozlov im Jahre 2006 hat faszinierende Fragen im Hinblick auf Geldwäscheaktivitäten und Verbindungen zu „Silowiki“ und besonders dem Inlandsgeheimdienst FSB hervorgerufen. Zunächst schien der Fall durch die Verurteilung des Bankers Alexei Fenkel gelöst. Im Vorfeld gab es aber Vorkommnisse, die anwachsende offizielle Verbindungen zwischen der ROK und Geldwäscheaktivitäten erkennen ließen und Beklommenheit auslösten. Dazu gehört der Widerruf der Lizenz für die Moskauer Kreditbank Diskont. Mitarbeiter der Bank wurden beschuldigt „Frontgesellschaften“ für Geldwäschezwecke gegründet zu haben. Es gab Bezüge zu der von Kozlov verfügten Lizenzentziehung und dem Einfrieren von Vermögenswerten der Diskont Bank. Diese Bank zeichnete sich durch einige Besonderheiten aus. Sie hatte relativ wenige Kunden, war aber in umfangreiche Geldgeschäfte mit „Off-shore-Firmen“ verwickelt. Siebzehn Firmen, darunter manche, die dem Kreml und dem russischen Geheimdienst FSB nahestanden, hatten Einlagen in der Diskont Bank, darunter der stellvertretende Direktor des FSB Alexander Bortnikov.
In Deutschland ist manches dagegen etwas eleganter. Dort heuerte der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau (SPD), kurz nach seiner Pensionierung als „Berater“ bei der Deutschen Bank an, einem Geldinstitut, bei dem die Frage, ob es sich um eine kriminelle Vereinigung handelt, noch nicht zufriedenstellend beantwortet ist.15 Dies geschah mit der Zustimmung des ehemaligen Kanzleramtschefs Ronald Pofalla (CDU), der sich seinerzeit selbst um eine gut bezahlte Tätigkeit bei der Deutschen Bahn bemühte und Anfang des Jahres 2015 dort seinen Dienst als „Generalbevollmächtigter für politische und internationale Beziehungen“ antreten sollte.
Wie auch immer: In den angedeuteten russischen Zusammenhängen lagen Indizien dafür vor, dass die Erträge aus der Bestechung von Amtsträgern über Privatbanken gewaschen wurden. Einiges ging sogar über Geldwäsche hinaus. Es gab beweiskräftige Anzeichen, dass die russische Regierung ROK-Strukturen für „private“ Zwecke eingesetzt hat, darunter Waffenschmuggel.16 Andere Fälle legen die Vermutung nahe, dass im Zuge vielfältiger Privatisierungen die Grenzen zwischen der russischen Regierung, kriminellen Netzwerken und dem Geheimdienst FSB verwischt wurden. Es fehlt jedoch an konkreten Beweisen dafür, dass es eine direkte Beziehung zwischen diesen Gruppen gibt. Dies ist typisch für die Gesamtlage. Die diversen Allianzen können auch deshalb so erfolgreich sein, weil die erforderliche Beweisführung häufig nicht gelingt und gelegentlich sogar lebensgefährlich für diejenigen ist, die sich darum bemühen. Den „Mann auf der Straße“ in Russland erschüttert das alles nicht allzu sehr. Die Infiltration durch die ROK ist ja auch nicht neu. Aus der Sicht normaler Russen hat sich Lage verbessert, weil sie derzeit weniger Gewalt auf den Straßen fürchten müssen. Die Furcht vor der ROK hat insgesamt deutlich nachgelassen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ROK weiterhin Betrug aller Art und Korruption fördert und verstärkt und dem russischen Steuerzahler enorm hohe Summen vorenthält. Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass es nach wie vor intakte Verbindungen zwischen der ROK und dem Machtapparat, auch den Strafverfolgungsbehörden, gibt.17 Die ROK wird bleiben, solange es die Korruption im Staatswesen gibt. Auch und gerade der „normale“ russische Bürger wird weiter leiden, solange Amtsträger mit dem organisierten Verbrechen verbunden sind und bestimmte Allianzen fortbestehen.
Wenn es richtig ist, dass der Kreml nach seinen Kriterien bestimmte kriminelle Aktivitäten „erlaubt“, dann stellt sich aber doch Frage, warum die ROK in erheblichem Umfang bemüht ist, ihre illegal erlangten Gewinne ins Ausland zu schaffen. Vor dem Hintergrund der Unberechenbarkeit Putins und des volatilen Charakters des russischen Marktes kommen folgende Überlegungen in Betracht:
Zum einem fühlt man sich angesichts des unvorhersagbaren politischen Klimas in Russland nicht sicher. Gegenwärtig ist auch die ROK den Launen des Kremls ausgeliefert. Putin selbst scheint immer schwerer berechenbar. Sollte sich der Kreml wie im Fall Barsukov zum Angriff eine ROK-Gruppe entschließen, sind die kriminell erworbenen Vermögensbestände im Ausland natürlich sicherer. Solange Russland als „sicherer Hafen“ gilt, wird es dem Kreml gelingen, mehr und bessere Informationen über bestimmte Kriminelle und die Wege des Geldes zu sammeln und so besser in der Lage sein, dieses Geld zu beschlagnahmen. Im Ausland sind entsprechende Vermögensteile schwieriger zu lokalisieren und zu konfiszieren. Zum anderen sind Identifizierungen und Konfiszierungen komplizierter, wenn das Geld über mehrere Länder gelaufen ist und verteilt wurde. In dem zitierten Steuerbetrugsfall aus dem Jahre 2007 ist das von den Steuerbehörden erlangte Geld über ein halbes Dutzend russischer Banken geleitet worden und wurde später nach Moldawien, Zypern, UK und auf die Britischen Jungfraueninseln verbracht. Dabei gibt es mindestens zwei erfolgsträchtige Wege für Geldwäsche, besonders in Ländern, die nicht der EU angehören und deren Rechtshilfesysteme nicht existent oder mangelhaft sind.
Der eine Weg ist Eigentumserwerb (Grundstücke, Autos, Boote, Flugzeuge, etc.). Das Wiederauffinden ist u. a. wegen der schwachen Regulierung von Institutionen, die nicht zu den Finanzinstitutionen gehören, schwierig. Der andere Weg ist der Transfer des Geldes zunächst an und über Länder, die nicht der EU angehören und dann die anschließende Weiterleitung in die EU zur „Legalisierung“. Unter diesen Auspizien akzeptieren viele westliche Banken Geld jeglicher Herkunft.
Die Verwicklung der Familie Katsyv (Peter Katsyv war der stellvertretende Minister für Transport in Russland) in Geldwäscheaktionen von Russland nach Israel ist nur eines von vielen beeindruckenden Beispielen.18 Daran lässt sich gut erkennen, dass die Internationalisierung eine strategische Entscheidung der ROK war, um sich besser in das legale Geschäft und die Finanzwelt zu integrieren.
Die Zusammenarbeit mit anderen kriminellen Gruppierungen im Ausland wurde ebenfalls erleichtert. Die Aufmerksamkeit wird so von den russischen Tätern auf Ausländer abgelenkt. Die Integration in legale Strukturen geschieht mit der Beschäftigung von Rechtsanwälten, Bankmanagern und Buchhaltern. Die ROK beschäftigt nicht mehr vornehmlich „schmierige“ und gewalttätige Ganoventypen, sondern qualifizierte Personen auf mittlerer und hoher Ebene, die in der Lage sind, „auf Augenhöhe“ mit Topmanagern, führenden Beamten und Politikern umzugehen.
Inzwischen etabliert sich die dritte Generation russischer Krimineller. Zur ersten gehörte die erwähnte „Gulag Schule“. Die zweite hat sich ihren Weg in das System freigekauft. Die dritte wird von einem Typus verkörpert, dem es gelungen ist, sich versteckt mitten im politischen und wirtschaftlichen Apparat zu platzieren. Die Angehörigen dieser Generation kommen aus dem Innern der „Elite“, sind im Westen erzogen und ausgebildet worden und „bewaffnet“ mit wichtigen Verbindungen überall in der EU. So konnte ein kriminelles „Empire“ entstehen. Die „Vanagel-Gruppe“ ist nur ein Teil davon, verkörpert aber die mittlerweile entstandenen komplexen Netzwerke. Es handelt sich dabei um ein „Off-shore-Netzwerk“, das vornehmlich in baltischen Staaten residiert, aber neben Russland auch Länder wie die Ukraine, Moldawien, UK und Zypern umfasst und dort komplexe Geldwäschetransaktionen orchestriert.19

VIII. Schlussbemerkungen

  1. Die sich seit Beginn der 1990er Jahre entwickelnde ROK hat sich den zum Teil tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Russland und Europa erfolgreich angepasst.
  2. Die ROK ist eine internationale Macht geworden.
  3. Die ROK ist in den legalen Sektor eingesickert und versteckt sich in legalen Geschäftsstrukturen und Finanzinstitutionen und ist deshalb schwer zu bekämpfen.
  4. Die ROK hat sich an Gesetze angepasst und bleibt bemüht, sich mit Schlüsselfiguren zu assoziieren, um weiter über dem System zu stehen.
  5. Innerhalb Russlands ist die regierungsamtliche Unterstützung der ROK zwar nicht mehr so offensichtlich und unverfroren wie Anfang der 1990er Jahre, was aber nicht die Annahme hindert, dass Putin die dazugehörenden Gruppen in besonderer, jedoch nicht justizförmig beweisbarer Weise kontrolliert.
  6. Putin setzt der ROK Grenzen, erlaubt ihr dennoch die Fortsetzung ihrer Operationen und stellt gleichzeitig sicher, dass die ROK nicht die vom ihm gezogenen Grenzlinien überschreitet.
  7. In Russland wird jeder entsprechende Versuch einer Grenzüberschreitung als Herausforderung betrachtet, die üblicherweise mit schweren Kriminalstrafen beantwortet oder gar mit dem Tod endet.
  8. Innerhalb definierter Begrenzungen ist die ROK handlungsfähig und verbündet sich bei ihren Aktivitäten mit Politikern und Amtsträgern, betreibt Geldwäsche und hält ihre Präsenz im Land aufrecht.
  9. Putin hat bis jetzt einen groß angelegten „Krieg“ mit der ROK vermieden und es ist ihm gelungen ist, die Straßen wieder sicherer zu machen.
  10. Die ROK blüht international weiter auf und ist multinational geworden, so dass sie ein besonders hohes Schutzniveau gegen Konfiskationen aller Art genießt, weshalb russische Kriminelle weiterhin unverzagt „ihr“ Geld ins Ausland senden, während sie wie moderne Privatunternehmer handeln, die immer wieder in speziellen Bereichen sogar als „Auftragnehmer“ der russischen Regierung operieren und dabei internationalen Schutz genießen.

Anmerkungen

  1. Dieser Beitrag entspricht teilweise einer umfänglicheren Darstellung: Wolfgang Hetzer, Finanzen und organisierte Kriminalität in Russland, Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier, Rechtspolitisches Forum, Band 72, Trier 2015.
  2. Dev Kar/Sarah Freitas, Russia: Illicit Financial Flows and the Role of the Underground Economy, in: Global Financial Integrity, February 2013.
  3. Die folgenden Ausführungen beruhen ganz maßgeblich auf einer jüngeren in englischer Sprache verfassten Studie zu diesem Themenkomplex: Walter Kegö/Alexander Georgieff, The Threat of Russian Criminal Money: Reassessing EU Anti-Money Laundering Policy, Institute for Security & Development Policy, Stockholm Paper June 2013.
  4. Es gab allerdings auch im Westen einen „Modernisierungsschub“. Ausführlich: Wolfgang Hetzer, Finanzmafia 2011.
  5. Organisierte Kriminalität (OK) ist natürlich kein „Privileg“ Russlands. Auch der Westen und insbesondere Deutschland sind betroffen, selbst wenn die Debatte darüber an Naivität manchmal schwer zu übertreffen ist. Einführend: Jürgen Roth, Mafialand, Deutschland, 2009; ders. Gangsterwirtschaft, 1. Aufl. 2010.
  6. Zum Überblick: lawandorderinrussia.org/2013swiss-money-laundering-investigation-in-the-magnitsky-case-widens-with-new-requests-sent-to-multiple-swiss-financial-institutions-and-accounts-frozen( (13. Januar 2013).
  7. Ausführlich: Wolfgang Hetzer, Finanzkrieg, 2013. Manche beobachten sogar einen „kalten Finanzkrieg“: Jürgen Roth, Die Gangster aus dem Osten, 2003, S. 178 ff.
  8. Zur Karriere eines ganz besonderen Exemplars: Jürgen Roth, Der Oligarch –Vadim Rabinovich- bricht das Schweigen-, 2001.
  9. Samuel D. Porteous, The Threat of Transnational Crime: An Intelligence Perspective, www.opensourceintelligence.eu/ric/doc/The%20threat%20from%transnational%20crime.pdf (15. Oktober 2012)
  10. Charles Clover, „Who runs Russia?“, in: Financial Times, 16. Dezember 2011.
  11. Ausführlich über Ziele und Methoden des Staatspräsidenten: Margareta Mommsen/Angelika Nußberger, Das System Putin, 2007. Neueren Eindrücken zufolge betreibt Putin mittlerweile die Spaltung der Gesellschaft: Mari Lipman, Die Vielen und die Wenigen, in: Russland., Edition Le Monde diplomatique No 13, 2013, S. 12 ff.
  12. William Partlett, „Putin’s Artful Jurisprudence, in: The National Interest, 2. Januar 2013.
  13. Zu einigen wirtschaftlichen und politischen Hintergründen der Absetzung des Moskauer Bürgermeisters: Alexander Rahr, Der kalte Freund, 2011, S. 79.
  14. Evan Grant, „The Russian Mafia and Organized Crime: How Can The Global Force Be Tamed, in: Open Democracy, 12. Oktober 2012.
  15. Vgl. dazu: Wolfgang Hetzer, Ist die deutsche Bank eine kriminelle Vereinigung?, in: Die Kriminalpolizei 1/2014, S. 26 ff.
  16. Natalia Morar, „Officials are Taking Money Away to the West“, in: The New Times, 21. Mai 2007.
  17. Andrew Osborn, „Russian Mafia Buying Jobs in Police and Judiciary, in: The Telegraph, 19. August 2010.
  18. Zu den Einzelheiten: Kegö/Georgieff, ebd., S. 26, 27, 28.
  19. Zu weiteren Einzelheiten: Kegö/Georgieff, ebd., S. 29, 30, 31.