Wenn Mütter ihre Kinder töten

– eine Untersuchung von -Neonatizid und Infantizid unter besonderer Berücksichtigung sozialbiographischer Bezüge: Aktuelle Befunde aus einem Forschungsprojekt (2010 – Jan. 2014)

Dr. Bettina Goetze, Referentin im Ministerium für Justiz und Gleichstellung Sachsen-Anhalt1

für M.G. …

…der die Fertigstellung des Beitrages aufgrund eines tragischen Schicksalsschlags nicht mehr erleben durfte…

 


Tötungsdelikte an sich erscheinen häufig irrational. Schwerlich vorstellbar sind insbesondere Verbrechen, bei denen Frauen töten. Wenn Mütter ihre Kinder in einem aufgeklärten Zeitalter töten, erscheint die Situation nahezu paradox. Unzweifelhaft wird die Mehrheit der Tötungsdelikte von männlichen Tätern verübt. Aus eben diesem Grunde konzentrierte sich die Forschungslandschaft im Bereich der Tötungsdelinquenz jahrzehntelang vorrangig auf männliche Täter. Frauen hingegen, die durchaus auch grausame Tötungsdelikte verüben, gerieten weitgehend aus dem Blickfeld. Dies ist mitunter darauf zurückzuführen, dass ihnen traditionell eher eine Opferrolle zugeschrieben wird. Die Ausnahme bilden sicherlich historische Giftmörderinnen á la Christa Lehmann, Anna Zwanziger, Gesche Gottfried oder Maria Rohrbach, die mittels E 605, Arsen oder Thallium ihren selbstsüchtigen Bedürfnissen nachgingen. Dennoch ist es wichtig, auch die heutigen Tötungsdelikte von Frauen im Detail zu betrachten, da diese mitunter spezifische Muster aufweisen. Bei Kapitalverbrechen ist die Rollenzuschreibung somit längst nicht mehr klar.

 

 

Kindstötungsdelikte durch die eigene Mutter passieren, zumindest das Hellfeld betreffend, relativ selten auf bundesdeutscher Ebene. Es ist von ca. 30 bis 40 Fällen pro Jahr auszugehen. FachvertreterInnen vermuten allerdings eine recht hohe Dunkelziffer aus. Ob dieses Dunkelfeld tatsächlich so hoch ist, kann nicht beurteilt werden. Zwar ist das Dunkelfeld im Gegensatz zur registrierten Kriminalität immer höher zu bewerten, man muss jedoch hierbei auch die Frage stellen, welche Indikatoren dieser Aussage zu Grunde liegen? Knochenfunde, die auf kindliche Opfer hindeuten, werden sehr selten im Bundesgebiet gefunden. Da sich Mütter bei der Beseitigung des kindlichen Leichnams nicht sonderlich viel Mühe geben, ist ein zeitnaher Fund des Opfers zudem sehr wahrscheinlich, es sei denn, die „Aufbewahrung“ erfolgt im häuslichen Bereich der Mutter. Auf das Spielfeld der Argumentation sind jedoch unentdeckte Taten in Folge von MSBP2 oder SID3 im Kontext eines getarnten Infantizid zu führen.4

Aussagekräftige internationale Forschungsergebnisse liegen insbesondere aus Finnland und den USA vor. In Deutschland hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen gehaltvolle Studien auf dem Forschungsfeld hervorgebracht. Gleichwohl handelt es sich um ein Forschungsgebiet, das längst noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Ab 2005 setzte in Deutschland eine öffentliche Diskussion um die Ursachen des Phänomens ein – jener Zeitpunkt, als die Außenwelt erfuhr, dass im brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd Sabine H. wegen des dringenden Tatverdachts des Totschlags an ihren neun Kindern beschuldigt wird. Aus sozialbiographischer Untersuchungsperspektive ist dies übrigens der Fall, der eine der interessantesten Konstellation aufweist. Die Konsequenz war damals eine ganze Bandbreite von Spekulationen, Hypothesen und wenig überzeugenden Darstellungen innerhalb der medialen Öffentlichkeit, die u.a. suggerieren, im Osten des Landes würden vermehrt Kinder getötet. Die scheinbar so naheliegende und diplomatische Auflösung der Irritation um die Ost-West-Verteilung des Straftatbestands könnte ein dezidierter Blick auf die Statistik liefern. Gegenwärtig existieren in Deutschland allerdings keine offiziellen Zahlen zum Neonatizid und der Kindesaussetzung. Dies war jedoch bis 1997 noch der Fall, ehe dann der § 217 StGB abgeschafft wurde. Im Übrigen sah dieser – nach wie vor häufig diskutierte und ebenso kritisierte – Privilegierungsparagraph eine deutlich mildere Strafe für Frauen vor, die ihr uneheliches Kind getötet haben. Noch immer ist der Wegfall dieser gesetzlichen Regelung höchst umstritten. Und dennoch: Es existiert heutzutage kein einziger zwingender Grund, einer derartigen Differenzierung im Strafrechtssystem nachzutrauern. Im Umkehrschluss lässt sich diese Betrachtungsweise als Diskriminierung von verheirateten Frauen charakterisieren. Ignoriert wurde hierbei das Benachteiligungsverbot, das untersagt, Menschen wegen bestimmter Merkmale ungleich zu behandeln. Unabhängig davon existiert im gesamten Untersuchungsgut kein einziger Hinweis darauf, dass die Existenz eines unehelichen Kindes das Motiv der Tötung bildete. Überflüssig ist die einstige Besserstellung ohnehin, da § 213 StGB und § 21 StGB bereits Möglichkeiten der Strafminderung bieten. Tatsächlich zeigt auch die gängige gerichtliche Sanktionspraxis, dass die Täterinnen aufgrund diagnostizierter psychischer Labilität gelegentlich sogar freigesprochen werden.

„Ich fühl mich noch nicht als Mutter. In drei oder vier Jahren hätte ja man mal drüber reden können…“

Foto: Die Kriminalpolizei

Zielstellung und Methode:


Der Fokus dieses Beitrages liegt weder auf einer quantifizierenden Betrachtungsweise, noch auf Strafzumessungsgründen. Thematisiert werden vielmehr aktuelle Kernbefunde einer Dissertation, die am Fachbereich der Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg angesiedelt war. Die Zielstellung der Untersuchung beinhaltet eine Rekonstruktion der biografischen Verläufe jener Frauen, die einen Neonatizid oder Infantizid verübten bzw. ihr Kind aktiv oder passiv aussetzten. „Für qualitativ-empirische Biografieanalysen ist die Perspektive ‚Lebenslauf’ insofern bedeutsam, als sie Aspekte der gesellschaftlichen Vorstrukturierung und kulturellen Präskription individueller Biografien betrifft.“5

Beginnend ab dem frühen Kindesalter wurde der Lebensverlauf von Täterinnen unter Rückgriff auf Fallstudien untersucht, um Aufschluss über prägende Sozialisationsbedingungen zu erlangen. Vor diesem Hintergrund wurden Eltern- und Geschwisterbeziehungen, Erziehungsstile, Peergroup-Verhalten, Berufskarrieren, Partnerschaft und Sexualbeziehungen, Handlungsumwelten, kritische Lebensereignisse sowie Lebensorientierungen und Einstellungen dezidiert betrachtet. Zur Anwendung kam das Verfahren der Datentriangulation, indem verschiedene Methoden und Daten kombiniert wurden. Das Ziel einer jeden Triangulation besteht darin, die unterschiedlichen Materialkontexte des Untersuchungsfeldes heranzuziehen, um in der Zusammenschau ein komplexes und vollständiges Bild zu erhalten. Im vorliegenden Fall wurden autobiographisch-narrative Interviews mit Täterinnen, Experteninterviews sowie Dokumentenanalyse verschränkt. In einigen Fällen wurden insbesondere bei jungen Täterinnen zum Zweck der Perspektivenerweiterung deren Eltern ausführlich interviewt, sofern eine Gesprächsbereitschaft vorlag.

Insgesamt wurden 7 autobiographisch-narrative Interviews geführt, 20 ExpertInnen befragt sowie 100 Dokumente verschiedener Fälle in Augenschein genommen (Vernehmungsprotokolle, Urteile, forensische Gutachten, Fallakten der JVAs etc.). Die Untersuchung fand in Sachsen-Anhalt, Sachsen, Berlin und Brandenburg statt. Würde man die Frage stellen, was die große Schwierigkeit dieser Arbeit ausmachte, so ist die Antwort klar: Die Herstellung einer Kooperationsbasis, sowohl die Täterinnen als auch die Angehörigen, betreffend. Dabei waren im Hinblick auf die Auskunftswilligen zwei Phänomene schnell erkennbar: Anfänglich zögerliche Kommunikationsbereitschaft legte sich nach den ersten Minuten, so dass nach ca. fünf Stunden durchschnittlicher Befragungszeit das Ende des Gespräches sogar häufig bedauert wurde. Des Weiteren zeigten sich die Väter der Täterinnen stets auskunftsfreudiger, während die Mütter dem Geschehen skeptisch gegenüberstanden und lediglich spärliche Informationsgehalte preisgaben.

Begrifflichkeiten:


Der Terminus des Neonatizid ist an einen zeitlichen Rahmen gekoppelt: Er ist ausschließlich dann zu verwenden, wenn die Tötung des Kindes in den ersten 24 h nach der Geburt erfolgt.6 Alle späteren Kindstötungen werden dem Begriff des Infantizid zugeordnet.

 

 

Forschungsergebnisse:

Innerhalb der Lebensgeschichte der Täterinnen erstreckt sich eine Reihe von prägenden Einflussfaktoren auf den Entwicklungsverlauf, die bis in das Stadium der frühen Kindheit verfolgbar sind. Die Biografien legen dar, dass die überwiegende Mehrheit der Täterinnen in einem dissozialen Herkunftsmilieu aufgewachsen ist. Die Paarbeziehung der Eltern kann vielfach als desolat und zerrüttet beurteilt werden. Charakteristische Problemlagen resultieren beispielsweise aus einer Alkoholabhängigkeit eines Elternteiles (zumeist der Vater oder Stiefvater), Langzeitarbeitslosigkeit, Kommunikationsdefiziten, sozialer Deprivation und fehlenden Ressourcen zur Krisenbewältigung. Gelegentlich ist ein hohes Potenzial an häuslicher Gewalt erkennbar. In einigen Fallbeispielen nahm die Abwesenheit der Mutter, z.B. durch frühzeitigen Tod aufgrund einer schweren Erkrankung, durch Heimaufenthalte oder in ganz seltenen Ausnahmen durch eine intensive Arbeitsbelastung, einen kritischen Einfluss.

 

 

„Im Grunde stand schon am Tag unserer Hochzeit die Trennung fest“


Durch das Eingebundensein in ein soziales Umfeld mit negativ zu bewertenden Faktoren wird ein gelingender Entwicklungsverlauf erheblich gehemmt. Des Weiteren sprechen die Forschungsergebnisse für eine soziale Vereinsamung im elterlichen Haushalt. Die Herkunftsfamilien der Frauen lebten häufig in sozialer Isolation und Kontaktarmut. Indikatoren auf stabile, außerhäusliche Bezugspersonen oder Freund- oder Bekanntschaften konnten nicht vorgefunden werden. In der Gesamtheit stammen die Täterinnen aus bildungsfernen Elternhäusern.

In Einzelfällen fand in der Jugendphase der Frauen ein sexueller Missbrauch durch Stiefväter statt. Die Übergriffe im „Tatort Kinderzimmer“ wurden durch die Opfer allerdings nie zur Strafanzeige gebracht. Zwar berichteten die Frauen zum damaligen Zeitpunkt ihren Müttern von den Handlungen ihrer Lebenspartner, diese verharmlosten den Sachverhalt jedoch bzw. konfrontierten ihre Töchter mit einem Ultimatum: „Entweder du gehst oder er, entscheidet euch“. Bemerkenswert hierbei ist, dass genau diese Frauen in der Phase der Adoleszenz oder Postadoleszenz ein gesteigertes Sexualverhalten zeigten und häufig wechselnde Partnerschaften transparent wurden. Ohnehin ist die Komponente der Sexualbeziehungen der Täterinnen auffällig, indem in vielen Fallkonstellationen Aspekte einer Hypersexualität oder Promiskuität angeführt werden können. Nahezu allen Frauen ist gemein, dass der Beginn sexueller Handlungen mit einem Durchschnittsalter von ca. 11 Jahren sehr früh erfolgt. Die Entwicklung und Ausübung eines Sexualverhaltens ist für die Täterinnen offenbar von zentraler Bedeutung. Dabei scheint die Qualität der Paarbeziehung tendenziell eine untergeordnete Rolle zu spielen. Vermutlich einer der Gründe, weswegen die Täterinnen ihre Partnersuche mitunter in delinquenten Kreisen vornehmen. In regelmäßigen Abständen erfolgen darüber hinaus Wechsel zwischen Trennungen und sofortigem Beginn einer neuen Beziehung. Die herrschende Lehre sieht hier einen Zusammenhang zwischen promisken Verhalten und einer Persönlichkeitsstörung bzw. einer bipolaren Störung. Ungeachtet dessen kann ein solches Verhalten einen Indikator für eine Bindungsschwäche sein. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss, dass Kindstötungen in unteren Schichten überwiegen. Bevor kritische Stimmen in einen Aufschrei münden, sei ein Zugeständnis erlaubt: Es ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass Mittel- und Oberschichtangehörige schlichtweg bessere Strategien der Vertuschung beherrschen. Auch ist hinlänglich bekannt, dass vereinzelt irgendwo in Deutschland eine Studentin oder eine Polizistin ihr Kind getötet hat. Gleichwohl existieren ernstzunehmende Belege, die auf vermehrte Tötungshandlungen in der sozialen Unterschicht schließen lassen. Die damit verbundene Frage nach den spezifischen Ursachen respektive die Antwortsuche gestalten sich sehr komplex. Wenn man schon in Schichtsystemen denkt, koppeln sich automatisch Gesichtspunkte in Form von Bildungschancen, Aufstiegswegen, Status, Einkommenshöhe usw. an den weiteren Gedankengang. Um es vorwegzunehmen: Die absolute Mehrheit der Straftäterinnen verfügt über den Haupt- oder Realschulabschluss. Einschneidende Problemlagen zeigten sich oft bei dem Lebensabschnitt der Berufsausbildung. Hierbei handelt es sich größtenteils um Ausbildungsberufe auf dem Dienstleistungssektor (Köchin, Reinigungskraft, Friseurin usw.). Der berufsbiographische Verlauf lässt sich oftmals als brüchig konstatieren, indem ein mangelhaftes Leistungspotenzial, unentschuldigte Abstinenz vom Arbeitsplatz oder allgemeine Antriebslosigkeit häufig in einen vorzeitigen Abbruch der Lehre münden. Deshalb bezogen (zumindest zum Tatzeitpunkt) viele Täterinnen staatliche Unterstützungsleistungen. Folgt man den Angaben der Frauen, zählt der Aspekt der Einkommensarmut jedoch nie zu den Tötungsmotiven. Daran koppelt sich wiederum die Frage nach den Hauptmotiven des Neonatizids. Neuere etablierte Forschungen beziehen sich u.a auf psychotische Erkrankungen, erweiterten Suizid, altruistische Tötungen, Überforderungssyndrom, Tötung aus Rache am Partner sowie nicht psychotisch determinierte Tötung, z.B. bei verdrängter Schwangerschaft.7 Letztgenannte Verdrängungsmechanismen lagen im Übrigen bei jedem untersuchten Fallbeispiel innerhalb der Dissertation vor. Dass wiederum der gesamte soziale Nahbereich keineswegs die Gravidität registriert haben will, muss ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Diesbezüglich weisen Fundstellen in den Akten auf Widersprüche und inkonsistentes Aussageverhalten hin.

Einige Forscher gehen davon aus, dass verübte Kindstötungen von Frauen immer mit Männern zu tun haben.8 Unterdessen konnte durch die aktuelle Untersuchung aber nachgewiesen werden, dass nicht alle Partner der Täterinnen tatsächlich kriminell, gewalttätig oder negativ prägend eingestuft werden müssen. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lebensgefährten ging einer geregelten Tätigkeit nach und zeigte ein Fürsorgeverhalten der Frau gegenüber. Als diese den Schwangerschaftsverdacht gegenüber der Partnerin offerierten, erfolgte ein massives Abstreiten durch die Schwangere. Unzweifelhaft ist an dieser Stelle die fortfolgende Überlegung anzustellen, weshalb keine weiteren Schritte durch die Kindsväter im eingeleitet worden. Insofern wäre der Aspekt der moralischen Mitverantwortung zu diskutieren. Fraglich bleibt ferner, weshalb die Einnahme von Kontrazeptiva den Partnern so oft vorgetäuscht wurde. All diese Darlegungen sollen mitnichten Exkulpationsbemühungen gegenüber den Kindsvätern beinhalten – trotzdem ist bereits das Verhalten einiger Frauen vor der Tat als kritisch zu befunden. Erwähnenswert ist zudem, dass einige Täterinnen durch das Führen von Parallelbeziehungen gar keine Kenntnis vom tatsächlich biologischen Kindsvater besitzen und lediglich Mutmaßungen über den Erzeuger anstellen.

Dennoch – dies sei ausdrücklich zu betonen – ist die Mehrheit der Partner tatsächlich als bedenklich einzustufen. Viele Fälle weisen die Existenz von Aggressionspotenzialen, Konfliktlagen, Monotonien innerhalb der Paarbeziehungen sowie fehlende Kommunikationsprozesse auf. Auch kann vereinzelt von einer erheblichen Abhängigkeit bzw. Hörigkeit der Frau gesprochen werden. Jene Frauen, die in der Kindheits- und Jugendphase tatsächlich mit schlimmen Schicksalsschlägen konfrontiert wurden, z.B. früher Tod der Mutter, sexuelle Übergriffe durch den Stiefvater oder häusliche Gewalt, zeigen vermehrt das Verhalten im Kontext einer absoluten Unterwerfung des eigenen Willens unter den Willen des dominanten Partners. Ob die Frauen ihre eigene Beziehungsqualität jemals kritisch reflektierten, verbleibt im Reich der Spekulation. Ferner haben vereinzelte Täterinnen im Laufe ihres Lebens suizidale Überlegungen angestellt. Allem Anschein nach ist hierbei aber eher von einem „Warnsignal“ durch eine geringe Überdosis an Medikamenten/Schlafmitteln auszugehen.

Es existiert allerdings nicht nur der Typus der „abhängigen“ Täterin, der ein Durchschnittsalter von ca. 27 Jahren zum Zeitpunkt der Tötung aufweist. Häufig ist der zweite Typus der Täterin mit 15 bis 17 Jahren noch sehr jung einzustufen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Schülerinnen oder Berufsschülerinnen, die noch den elterlichen Haushalt bewohnen, das Verhältnis zur Mutter oder vorrangig zum Vater jedoch als sehr belastend beschrieben wurde. Als dritter Typus ist die „perspektivlose“ Täterin zu nennen. Diese Frauen sind im Durschnitt 27-35 Jahre alt, häufig von ungepflegter Erscheinung. In beruflicher Hinsicht erfolgen immer wieder Wechsel zwischen Arbeitsaufnahmen von lediglich kurzer Dauer und dem Bezug von Hartz IV. Insbesondere in dieser Konstellation sind häufig wechselnde Partnerschaften vorzufinden. Möglicherweise sind bereits Kinder aus vorausgegangenen Beziehungen im Haushalt vorhanden.

Hervorzuheben ist, dass in keinem einzigen Fall des Untersuchungsguts tatsächlich zwingende Notlagen transparent wurden, die die Tötung eines Kindes zumindest ansatzweise „nachvollziehbarer“ machen könnten. Vielmehr dominieren egoistische Haltungen, resultierend aus dem Drang der Fortsetzung einer „bequemen“ Lebensweise. Sicherlich ist es für außenstehende Untersuchungspersonen immer schwierig, individuelle Notlagen als solche zu bewerten und zu akzeptieren. Die entscheidende Frage ist, welche Not so groß sein kann, das Kind zu töten. Jedenfalls befand sich keine Frau unter den Täterinnen, die Opfer einer Vergewaltigung wurde und das Kind aufgrund einer vorausgegangenen Viktimisierung tötete. Ferner litt keine der Täterinnen an einer unheilbar schweren Erkrankung, die ein Aufwachsen des Kindes ohne Mutter verursacht hätte. Keine der Frauen wäre zum Tatzeitpunkt am Aufbau von Karrieremöglichkeiten durch die Existenz eines Kindes erheblich benachteiligt worden. Bleibt die Frage, ob bei jungen Schülerinnen eine Ausnahmesituation durch eine potenzielle Gefährdung des Schulabschlusses gesehen werden kann. Wiegt der Abschluss höher als ein Menschenleben? Hätte sich tatsächlich keineswegs eine Option gefunden, Kind und Prüfungsvorbereitung gelingend zu vereinen? Jene Frauen, die sich blind dem Partner unterwerfen und sich damit bereits im pathologischen Bereich befinden, könnten vielleicht eine derartige Notsituation ausmachen. Vielleicht! Quelle: Institut für Rechtsmedizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 9

Hinsichtlich des häuslichen Umfeldes konnten mehrheitlich mangelhafte hygienische Zustände vorgefunden werden. Hier werden Defizite in der Fähigkeit, die eigenen Wohnräume ordentlich und sauber zu halten und Aufgaben zu organisieren, ersichtlich. Allerdings erhebt diese Aussage keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. In Ausnahmefällen wurden ebenso geordnete Haushalte vorgefunden. Viele Täterinnen beklagten in den geführten Interviews Langeweile. Das größte Hobby beinhaltet fernsehen, dicht gefolgt von schlafen oder der Beschäftigung mit dem Freund. Signifikant ist ferner das Vorhandensein des sogenannten „Kevinismus-Syndroms“: Die favorisierte Namensgebung des Nachwuchses (einige Frauen hatten bereits Kinder aus vorausgegangenen Beziehungen, die sie am Leben ließen oder gaben den getöteten Kindern im Zuge der später stattfindenden Bestattung Namen) orientiert sich sehr oft an außergewöhnlichen englischen Doppelnamen.

Darüber hinaus vereint alle Täterinnen ein weiteres Merkmal: Keine einzige Frau unterzog sich einer Konfliktberatung, vertraute sich einer Bezugsperson an oder informierte sich über Möglichkeiten der legalen Auflösung des Problems, indem z.B. ein medizinischer Abbruch der Schwangerschaft, eine Adoption oder die Nutzung einer Babyklappe herangezogen wurde. Konfrontiert mit der Frage nach dem Ausbleiben dieser Alternativen erfolgte ein Schulterzucken, verbunden mit nachfolgenden Antworten: „Wo is´n das?“, „Mmh, keene Ahnung, muss ich ja mit der Bahn fahren“, „was woll´n Sie jetzt von mir, ist doch mein Kind, damit kann ich doch machen, was ich will.“ Vielfach wurde nach der Ermittlung der Kindsmutter innerhalb der Vernehmungen eine Banalisierung des Delikts transparent, vermutlich eine Verdrängungsreaktion im Sinne der Abwehr.

Es zeigten sich deutliche Hinweise, dass Neonatizide in ländlichen Regionen dominieren. Höchstwahrscheinlich ist es aber auch einer höheren Anonymität der Stadt und einer damit einhergehenden geringeren Sozialkontrolle zu verdanken, dass nicht alle Schwangerschaften vorab als solche erkannt werden oder die Beseitigung des Leichnams in urbanen Räumen ein breiteres Spektrum der Möglichkeiten bietet.

„Ich bin doch kein Schwerverbrecher, man das nervt alles, die Scheißbullen hier andauernd“

Die Situation in der DDR?


„Sowas gab es nicht in der DDR, wir waren ein sicherer Staat.“

Tatsächlich? Das würde bedeuten, dass das Verbrechen, das aus individuellen Notlagen resultiert, um die DDR „eine Kurve gemacht“ hätte. Insofern musste eine zuverlässigere Quelle herangezogen werden, um die damalige soziale Wirklichkeit umfassend zu erschließen. Hierbei boten die Archive ostdeutscher Institute für Rechtsmedizin hinreichende Recherchemöglichkeiten. Insbesondere das Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat dankenswerterweise die historische Erforschung des Deliktfeldes hilfreich unterstützt. Die Aktenlage thematisiert, dass in den 50er bis Ende der 80er Jahre Kindstötungen unter oder nach der Geburt durch die eigene Mutter in nicht unbeträchtlichen Anzahlen verübt worden. Die Dissertation greift hierbei auf sogenannte Case-Reports zurück, um größtmögliche Authentizität darzubieten. In den 50er und 60er Jahren dominiert eine Hauptgruppe der Täterinnen: Frauen mit einem Durchschnittsalter von 25 bis 30 Jahren, die in einer dörflichen Region beheimatet waren und aufgrund begrenzter Ressourcen das elterliche Gehöft bewohnten. Für gewöhnlich unterhielten die Frauen (häufig Bäuerinnen, Reinigungskräfte oder Maschinenarbeiterinnen) eine geheime Beziehung zu verheirateten Männern. Insbesondere die Eltern der Schwangeren drohten der Tochter bei Austragen des Kindes mit einem Hausverweis. Ferner war das monatliche Nettoeinkommen der Arbeiterklasse äußerst gering. Die sehr hohe Sozialkontrolle – u.a. aufgrund mehrerer Generationen in einem Haushalt vereint – ermöglichte ein rasches Erkennen der Schwangerschaft – und doch fühlte sich niemand aus dem sozialen Gefüge verantwortlich, eine sachliche Lösung zu suchen. Das Aktenmaterial belegt, dass vielfach die Eltern der Frauen behilflich waren, eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft herbeizuführen, zum Beispiel indem eine Seifenlauge in den Uterus gespritzt wurde. Foto: A. Lemberger

Der wohl bizarrste Fall ereignete sich in den 80er Jahren in einer kleinen Harzgemeinde: Einem Ehepaar wurde die Tötung von insgesamt fünf Neugeborenen angelastet. Die als asozial und chaotisch geltende Familie musste sich zum Wendezeitpunkt einem aufwendigen Verfahren aussetzen. Dabei kam ans Tageslicht, dass der Sohn der Täterin ebenfalls eine sexuelle Beziehung zu seiner Mutter unterhielt. Er soll der Vater des letztgeborenen, getöteten Kindes sein. Laut seiner Gerichtsaussage habe er alle zwei Wochen den Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter vollziehen müssen. Halten wir fest: Kindstötungen in der DDR waren keine Ausnahmeerscheinungen, der Staat unterzog das Phänomen allerdings einer weitgehenden Tabuisierung. Die Ursachen damaliger Tötungen unterscheiden sich jedoch von heutigen Motivlagen. Hier sind faktisch Zwangslagen durch den strengen Hausverweis eines autoritären Vaters, sehr limitierte finanzielle Mittel, keinen vorhandenen Wohnraum sowie eine drohende Stigmatisierung aufgrund des Ehebruchs erkennbar.

Resümee:


Alle Versuche, die Zahlen des Neonatizids zu mindern, werden nicht den erwünschten Effekt erzielen. Selbstverständlich ist es erfreulich, dass die juristische Grauzone der anonymen Geburt durch die Einführung des Gesetzes zur vertraulichen Geburt am 01.Mai 2014 abgelöst wurde. Leider liegen jedoch keineswegs Indikatoren für die Auseinandersetzung mit legalen Varianten durch Täterinnen vor. Vielmehr wird die Schwangerschaft völlig verdrängt oder verheimlicht. Die einsetzende Geburt stellt letztendlich einen panikartigen Überraschungsmoment dar, der seinen Kulminationspunkt in der Tötung des Kindes findet. Gynäkologen oder Konfliktberatungsstellen wurde während der Schwangerschaft nie aufgesucht. Es wäre illusorisch anzunehmen, dass durch die Schließung der einst „offenen Baustelle“ der anonymen Geburt nunmehr eine höhere Wirkungskraft der Prävention entfaltet werden kann. Selbst wenn 100 Babyklappen in jeder Stadt bzw. jeder größeren Gemeinde einrichtet würden, selbst wenn diverser rechtlicher Nachsteuerungsbedarf erkannt würde – der Effekt wäre trotzdem sehr begrenzt.

Mir erscheint es Erfolg versprechender, die Entstehungsbedingungen der Taten zu fokussieren. Dabei ist wohl unausweichlich, eine Perspektivenerweiterung anzuregen, indem nicht nur die Schwangere selbst im Zentrum der Bedeutung steht, sondern ihr Umfeld einbezogen wird. Bei den Recherchen fiel vermehrt auf, dass eine gewisse Sozialkontrolle durchaus vorhanden ist und demzufolge der soziale Nahbereich der Schwangeren den Zustand bereits erahnte, eine direkte Konfrontation jedoch vermieden wurde. Die Lehrerschaft einiger junger Täterinnen bekundete im Kontext von späteren Ermittlungen, ein Einmischen in private Angelegenheiten nicht für sinnvoll erachtet zu haben. Die Nachbarschaft nahm häufig an, dass das Fehlen des Kindes durch eine Freigabe zur Adoption erklärt werden könne. In dieser Gemengelage lohnt es sich, genauer hinzuschauen und eine gewisse Sensibilisierung herzustellen. Insofern könnten dezidierte Programme an Schulen und Berufsschulen errichtet werden, die ein direktes Ansprechen der Schwangeren fordern.

Geeignete Ansprechpartner wäre neben den AusbilderInnen beispielsweise der Schulsozialdienst. Ferner darf es nicht bei einem Ansprechen bleiben, die Folge wäre ein Hausbesuch bei den Eltern, die kontinuierliche Begleitung der Schwangeren etc. Die Frage muss lauten, welche Anlaufstellen die Frau nahezu zwingend betreten muss. Da die überwiegende Mehrheit ALG-II-Leistungen bezieht (mit Ausnahme der Schülerinnen bzw. Berufsschülerinnen) kann von einer regelmäßigen Vorladung (in der Regel alle 6 Monate) im Rahmen der Folgeantragstellung oder Arbeitsvermittlungsgesprächen ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang könnten die MitarbeiterInnen des Jobcenters speziell geschult werden, dass Frauen einer bestimmten Altersgruppe, die insbesondere durch brüchige Berufskarrieren und tendenziell instabiler Lebensführung auffällig erscheinen, auf potenzielle Schwangerschaften in Augenschein genommen werden. An diesen Anfangsverdacht könnte sich eine Meldung an das zuständige Jugendamt koppeln, indem auf den Fall aufmerksam gemacht würde. Es wäre sicherlich eine eigenständige Untersuchung wert, wie diese – bisweilen vagen – Denkmodelle und Kontrollmechanismen in eine taugliche Praxis umzusetzen sind.

Falls eine Dienststelle im Bundesgebiet spezifische Nachfragen zu einem bislang ungeklärten Fall einer Kindstötung hat oder bei künftigen Fällen detailliertere Hinweise zur Ermittlung der Mutter erwünscht sind, ist eine Kontaktaufnahme zur Autorin grundsätzlich möglich.

 

 

Anmerkungen:

 

 

  1. Dr. Bettina Goetze aus Magdeburg, M.A. Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften, LL.M. (Master of Laws) Kriminologie und Strafrechtspflege. Seit 2012 Referentin im Ministerium für Justiz und Gleichstellung Sachsen-Anhalt, zuständig für den gesamten Antigewaltbereich LSA, Mitglied der Gewerkschaft der Polizei, Forschungsschwerpunkte: Frauenkriminalität sowie (vorgetäuschte) Sexualdelikte.
  2. Münchhausen-Syndrom by proxy als subtile Form der Kindesmisshandlung.
  3. Sudden Infant Death.
  4. Siehe hierzu ausführlich in Häßler/Schepker/Schläfke 2008, S. 228-230.
  5. Dausien 2008, in: Becker/Kortendieck 2008, S.356.
  6. vgl. Resnick 1970, S.1414ff.
  7. vgl. Marneros/Rohde 2007, S.588.
  8. Harbort 2010, S.73
  9. Mein Dank für die Bereitstellung der Bilder gilt insbesondere Frau Dr. Katja Jachau!