Kriminalität

Salafismus als überstrapazierte Kategorie

Kategorien als Teil des Problems


Im Hinblick auf die Begriffe „Radikalisierung“ und „Terrorismus“ gebe es ein wissenschaftliches Konsensdefizit.10 Diese Einschätzung von Alex P. Schmid, einem Doyen der Radikalisierungsforschung, trifft auch auf den Terminus Salafismus und seine Aufteilung in verschiedene Subkategorien zu.11 So findet er weder unter Muslimen Zustimmung und Anerkennung, noch gibt es unter Wissenschaftlern Einigkeit darüber, nach welchen Kriterien dessen Definitionsbereich zu erfassen ist. Obendrein, so der Islamkenner Bernhard Haykel, lässt eine übermäßige Fokussierung auf die Differenzen zwischen den verschiedenen salafistischen Flügeln zugleich übersehen, warum das salafistische Heilsmodell für viele „attraktiv, ja sogar unwiderstehlich“ ist.12 Dergestalt erscheint die überstrapazierte Salafismuskategorie eher als Teil des Problems – vor allem dann, wenn in das Salafismusphänomen sicherheitspolitisches Allerlei hineinprojiziert wird. Entstand der Begriff ursprünglich zum Zweck der Identifizierung einer bestimmten Strömung im sunnitischen Islam, mutierte er mittlerweile zu einer Projektionsfläche für Bedrohungsängste und vermeintliche oder tatsächliche sozial-kulturelle Spannungen. Der Begriff bleibt zwar nach wie vor nützlich, um den partikularen Charakter bestimmter Islamvorstellungen hervorzuheben und den Versuchen der Salafisten zu begegnen, sich als die Muslime in Szene zu setzen, jedoch ist die Salafismuskategorie als Reservoir für die oben beschriebenen dramatisierten und politisierten Stigmata eher kontraproduktiv.
Besonders deutlich wird das bei der hybriden Wortfindung dschihadistischer Salafismus (al-salafiyya al-jihadiyya), die mit ähnlich lautenden Konstruktionen wie Dschihad-Salafismus, salafistischer Dschihadismus, Salafi-Dschihadismus konkurriert. Sie bringt die Formel von der gefährlichen Nähe auch begrifflich auf den Punkt, weil hier zwei Dimensionen ineinander verschwimmen. Die erste Dimension ist eine kognitive oder ideologische, bei der die Ablehnung dessen, was neben Allah verehrt wird (kufr bit-taghut), selbst eine militante Umsetzung der Glaubensvorschrift (manhaj) rechtfertigt. Die zweite Dimension betrifft dschihadistisches Verhalten, das von der Propagandaverbreitung im Internet über die Auswanderung in die Gebiete des Dschihad als Auslandskämpfer bis hin zum terroristischen Gewaltaktivismus im Inland reichen kann.13
Während in meinungsführenden Publikationen auch militant-terroristische Gruppierungen wie Al-Qaida unter dem Begriff des dschihadistischen Salafismus gefasst werden, verstehen die Verfasser den Dschihad-Salafismus im Gegensatz zum Dschihadismus primär als Da’wa-Aktivismus.

Die vergessene Schlacht


Der dschihad-salafistische Da’wa-Aktivismus ist analytisch in vielen Fällen schwer zu fassen. Das liegt darin begründet, dass er sich eines salafistischen Vokabulars bedient, dessen dschihadistische Implikationen sich noch nicht einmal notwendigerweise dem Szenegänger erschließen müssen und gleichzeitig die Grenze zur Straffälligkeit unterschreiten. Deshalb bestand und besteht eine zentrale sicherheitsbehördliche (analytische) Herausforderung darin, dschihad-salafistische Akteure zu detektieren und ihre Netzwerke als möglichen Umschlagpunkt zwischen Missionierung und dschihadistischem Aktivwerden zu markieren, ohne eine weitergehende Radikalisierung des Umfeldes zu bewirken.
Diese Aufgabe ist gerade deshalb von zentraler Bedeutung, weil an der Schnittstelle von Salafismus und Dschihadismus die zentrale Schlacht im Kampf gegen den Terrorismus ausgetragen wird, die, obwohl vor vielen Jahren von Politikern, Analysten und Dschihadisten gleichermaßen ausgerufen, in Anbetracht von Militärkampagnen und repressivem Vorgehen zwischenzeitlich in Vergessenheit geriet. Gemeint ist die „Schlacht um die Herzen und Köpfe“, die seit einiger Zeit wieder neu ins Bewusstsein rückt, insbesondere dann, wenn verstärkt darüber nachgedacht wird, wie wichtig es ist, dem dschihadistischen Diskurs über einen vermeintlich religiös gebotenen Kampf gegen den Unglauben mit einer überzeugenden Gegenerzählung zu begegnen. Vor diesem Hintergrund fordern Terrorismusexperten vermehrt ein „westliches alternatives Narrativ“, das sich zur Eindämmung von Al-Qaida & Co auf Ideale besinnt, die von Anti-Diskriminierung bis zur Dialogbereitschaft reichen.14
Die Schlacht um die Herzen und Köpfe sowie alternative bzw. Gegen-Narrative erübrigt allerdings keine Analyse der zentralen Akteure, ihrer Strategien und möglicher Dynamiken auf dem breiten Feld salafistischer, islamistischer oder dschihadistischer Formationen. Das verdeutlicht eine Aussage von Abu Muhammad al-Maqdisi, einem der einflussreichsten Dschihad-Ideologen und dem geistigen Mentor des Terrorchefs al-Zarqawi, der 2005 auf ein zentrales Nutznießverhältnis hinwies. Ihm zufolge waren es die weithin akzeptierten Scheichs des traditionellen und des reformistischen Salafismus, die der „gesegneten dschihadistisch-salafistischen Strömung den Boden bereiteten“.15 Es habe erst der „Bewusstwerdung der Jugend“ (Sahwa) bedurft, damit die eigene Botschaft erfolgreich sein konnte. Dschihad-Salafisten können also von den Moderaten profitieren bzw. deren Netzwerke instrumentalisieren. Diese Gefahr dürfte allerdings noch größer werden, wenn „die“ Salafisten in Sippenhaft genommen, stigmatisiert, ausgegrenzt und dadurch in die Hände der radikalen „Versteher“ und „Kümmerer“ getrieben werden.
Wenn heute immer mehr junge Muslime ihr Interesse am militanten Dschihad artikulieren, dann stellt sich auch die Frage, wer am besten geeignet ist, eine alternative „Erzählung“ zu verbreiten, die bei diesen Dschihadbegeisterten Gehör zu finden vermag. Die Empfehlung, dass man dabei auch auf die einflussreichen Gewalt ablehnenden Salafisten vertrauen sollte, mag manchem sehr weit gehen. Fraglich ist aber auch ein Vorgehen, das gerade jene Akteure des Spektrums, die notwendige Kontrapunkte setzen (können), in die Nähe von Extremisten und Gefährdern rückt, denn die Gefahr ist groß, dass moderate Positionen geschwächt werden und es zur Erosion innerer Milieugrenzen kommt. Das ist besonders dann der Fall, wenn Salafismus von politischer Seite gleich zur „größte[n] sicherheitspolitische[n] Herausforderung des 21. Jahrhunderts“ erklärt wird.16 Die Religionswissenschaftlerin Ulrika Mårtensson sieht in der einseitigen Kommunikation staatlicher Stellen mit salafistischen Akteuren in Norwegen ein Demokratiedefizit und spricht sich deshalb für einen öffentlichen Dialog aus.17 Das ist weit gegriffen und nicht unbedingt übertragbar, lenkt aber den Blick darauf, dass eine glaubhafte Botschaft oftmals bereits in der Form und nicht im Inhalt liegt. In jedem Fall setzt der Umgang mit dem Phänomen aber auch voraus, über die Eigenlogik und Strategien verschiedener Akteure im Bild zu sein, wenn es gelingen soll, den westlichen Diskurs zu stärken und Erfolg versprechende Maßnahmen gegen den Dschihadismus und Terrorismus zu entwickeln.

Blinde Flecken der Forschung


Zu den zentralen Fragen der Radikalisierungsforschung gehört folgende: Wie lässt es sich erklären, dass sich einige Aktivisten einer militanten Gruppierung anschließen, zur Waffe greifen und Gewalt mit dem Ziel gesellschaftlicher Veränderung anwenden, während andere, die ähnliche Wahrnehmungen von den vermeintlichen Missständen dieser Welt haben, sich damit ‚begnügen‘, zu argumentieren, zu bloggen oder ‚nur‘ aufzuhetzen?
Gerade das Umschlagen von Sympathie mit dem Dschihad in „besetzten Gebieten“ in Gewaltakzeptanz und anschließende -praxis ist forschungsmäßig – wie so ziemlich das ganze Feld – auch seit mehr als einem Jahrzehnt im Krieg gegen den Terrorismus noch unerforscht.18 So zumindest sieht es der international renommierte Psychologe und Al-Qaida-Spezialist Marc Sageman, der sogar von einer Stagnation des Forschungszweiges spricht.19 Immerhin sei die Hysterie um eine übermächtige Al-Qaida der Erkenntnis gewichen, dass man es jetzt mit hausgemachten Neo-Dschihadisten zu tun habe. Der Nachsatz, dass über deren Motivation, politisch motivierte Gewalt anzuwenden, aber nur wenig bekannt sei, verrät viel über das bisherige Erkenntnisinteresse. Der herkömmliche Forschungsansatz ist stärker an (individuellen) Ursachen orientiert als an dem Wachstum, den Strukturen und Dynamiken dschihadistischer Grauzonen und lässt den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. So kann man auch die Sicht von Alex P. Schmid zusammenfassen, welche, in den Jargon der Radikalisierungsforschung gehüllt, die langjährige Konzentration auf die Mikroebene individueller Radikalisierungsverläufe infrage stellt. Notwendig erscheint dem Terrorismuskenner eine Kurskorrektur, die sich anschickt, die Meso- und Makroperspektive zu stärken, wobei er zwei Forschungsdesiderate hervorhebt: zum einen das „radikale Milieu sogenannter nicht militanter Extremisten“, dessen Rolle als Einfallstor (gateway) oder Schutzwall (firewall) oftmals unklar ist, und zum anderen die Zweiseitigkeit des Radikalisierungsprozesses, die nicht ausblendet, „was Regierungen daheim und im Ausland machen.“20Eine verallgemeinernde Sicht auf ‚den‘ Salafismus als „Nährboden des islamistischen Terrorismus“ steht somit der Erkenntnis im Weg, dass bereits seit über einem Jahrzehnt eine steigende Zahl einheimischer Muslime im Sinne des globalen Dschihad aktiv wird. Dass sich die Anzahl der Ermittlungsverfahren gegen islamistische Terroristen (inkl. Dschihadisten) im Jahr 2010 im Vergleich zu 2002 (72 Fälle) verfünffachte, wird oft mit der Verbreitung der salafistischen Ideologie und einer wachsenden salafistischen Infrastruktur in der Bundesrepublik in Verbindung gebracht. In der Tat spielen diese Faktoren eine Rolle, deren eigentliche Relevanz allerdings weitgehend im Verborgenen bleibt, solange weitere Aspekte, wie das Zusammenspiel von lokalen und globalen Ereignissen, Propagandamittel und einschlägige Themen, der Umgang mit Muslimen in der Mehrheitsgesellschaft oder die Beschaffenheit des radikalen Milieus, ausgeblendet werden. Zugleich ist es naheliegend, dass auch andere Variablen für die dschihadistische Mobilisierung von Bedeutung sind: die mediale Inszenierung des Krieges gegen den Terror als Kreuzzug, der Irak-Krieg und Vorgänge im Gefängnis „Abu Ghraib“, die Parteinahme zugunsten der irakischen Schiiten, die Kooperation des Westens mit brutalen afghanischen Kriegsherren und zentralasiatischen Diktatoren, das Erstarken der Taliban infolge einer nicht effektiven Aufstandsbekämpfung am Hindukusch, das den Mudschaheddin-Mythos aufleben ließ, und nicht zuletzt der Anstieg ziviler Opfer einschließlich Kinder. All diese Inkonsistenzen der Terrorismusbekämpfung, flankiert durch den erfolgreichen dschihadistischen Appell an die „Verteidiger der Umma“, spiegeln sich in Radikalisierungsprozessen wider.

Das radikale Milieu des deutschen Dschihad


Mit Guido Steinberg meldet der hierzulande profundeste Kenner des islamistischen Terrorismus Zweifel daran an, dass Sicherheitsbehörden imstande sind, die außerordentlich dynamische Szene des deutschen Dschihad zu erfassen und nachzuvollziehen, wann „Jugendliche in das dschihadistische Milieu abrutschen.“21 Auch die akademische Terrorismusforschung weist ähnliche Defizite auf, die nicht zuletzt in einer „diffusen Analysekapazität“ begründet liegen, und zeigt wenig Neigung, die unterschiedlichen islamischen Strömungen zu differenzieren.22 Umso wichtiger erscheinen deshalb Forschungsvorhaben wie das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Teras-Index“, das sich eingehend mit der Frage beschäftigt, wie westliche Interventionen in islamischen Ländern zur Radikalisierung von Muslimen in „radikalisierten Milieus“ von Dschihadisten, Islamisten und vulnerablen Jugendlichen beitragen. Zu den Projektergebnissen zählt, dass 80 Prozent23 der in Deutschland aktiv gewordenen Dschihadisten Bezüge zu äußeren Konflikten hatten, weshalb die Vorstellung vom Homegrown-Terrorismus zu relativieren sei.24 Eine etwas andere Argumentationsebene findet sich bei dem international renommierten Dschihadismus-Experten Thomas Hegghammer. Für ihn steht nämlich fest, dass islamistische Attentäter, die sich in völliger Isolation („Lone-Wolf-Paradigma“) radikalisieren, eher die Ausnahme darstellen. Entweder hätten sich Dschihadisten, die Anschläge im Inland planen, aufgrund ihrer Kampferfahrung im Ausland oder im Kontakt mit Veteranen oder Gleichgesinnten im Inland radikalisiert.25
Beide Einschätzungen verdeutlichen Ähnliches. Zum einen untermauern sie, dass individuelles Verhalten nicht losgelöst von sozialen Bezügen zu verstehen ist. Zum anderen wird daran die Bedeutung der grenzüberschreitenden Verpflichtung oder der imaginierten Solidargemeinschaft deutlich, die angesichts der Durchdringung des Alltags mit modernen Kommunikationsmitteln (Mediatisierung) ganz neue Formen der Vergemeinschaftung hervorbringen kann. Selbst scheinbar isolierte und primär virtuell vernetzte Täter wie Arid Uka agieren deshalb in einem Umfeld, dem eine eigene Semiotik und ein spezifischer Deutungsrahmen (bspw. diagnostischer wie prognostischer Frame) zu eigen sind. Obwohl der erste dschihadistische Attentäter in Deutschland in seiner Tatplanung und -begehung zwar anscheinend ohne Hintermänner und Unterstützer auskam (und auch sein Handlungsmotiv keineswegs ideologisch motiviert gewesen sein muss), konnte er sich dennoch in ein Netzwerk von Gleichgesinnten eingebunden fühlen, die seine Überzeugungen teilen und in deren Auftrag er möglicherweise zu handeln glaubte. Umgekehrt bot Ukas Tat innerhalb dschihad-salafistischer Kreise Anlass, sich die Tat anzueignen, seinen „Mut“ zu preisen und zum Adressaten islamistischer „Gefangenenhilfe“ zu machen.26 Neu ist das Phänomen der einsamen Wölfe lediglich dahingehend, dass in der früheren Forschung die Rolle der Strukturen bzw. „Schläferzellen“ sowie Rekrutierer und „Rattenfänger“ überbewertet wurde, während der mobilisierende Diskurs, der seine Wirkung vor dem Hintergrund in- und ausländischer sozialer Konflikte entfaltet, meist unterschätzt blieb. Zugleich scheint das Problem des Lone-Wolf-Terrorismus übertrieben bzw. nicht immer korrekt eingeordnet zu sein.27
Auf die Notwendigkeit, die Umfelder terroristischer Gewaltakteure zu untersuchen, macht bereits seit mehreren Jahren der Terrorismusforscher Peter Waldmann aufmerksam, der kürzlich ein zusammen mit Stefan Malthaner ausgearbeitetes Konzept des radikalen Milieus28 vorgelegt hat, das einige besonders relevante Vorteile bietet: Es schärft das Verständnis von Wachstums- oder Schrumpfungsprozessen des (engeren) Umfelds terroristischer Vereinigungen und erlaubt eine differenziertere Beschreibung jener (dynamischen) Gruppen, die im Hinblick auf terroristische Gewaltstrategien genauso unterstützend wie hemmend sein können. Diese Perspektive kann helfen, Salafismus – oder besser: das engere und weitere soziale Umfeld entsprechender Gewaltgruppen – nicht eindimensional als „terroristischen Nährboden“ oder „Sympathisantensumpf“ zu verstehen und damit etwa resiliente Potenziale vom Erkenntnisinteresse auszuschließen.