Wissenschaft  und Forschung

Das autoritäre Syndrom in den arabischen Gesellschaften

Eine sozialpsychologische Analyse


Gewalt ist hier nicht das Ergebnis von Unwissenheit im Sinne der „Sündenbocktheorie“, wonach die wirklichen Ursachen einer sozialen Schieflage nicht erkannt werden und infolge dessen ein Sündenbock ausfindig gemacht wird, dem man die Schuld für die eigene Lage zuschiebt und zum Ziel von Aggression bestimmt. Vielmehr muss betont werden, dass die Gewalt in der arabischen Welt nicht in erster Linie das Ergebnis einer ökonomischen Frustration ist. Aggression und Gewalt gegen als Feinde definierte fremde Individuen oder gar Fremdgruppen und Nationen sind das Resultat der psychischen Unfähigkeit, Autoritäten1 der eigenen Gruppe anzugreifen, was auf einen Zusammenhang mit der autoritären Unterwürfigkeit verweist.
Der Machtinhaber, Patriarch oder gar der Familienvater stellen unterschiedliche Stufen der Autoritätenhierarchie dar, die allesamt auf der jeweiligen Machtebene als absolut gelten. Die Aufmerksamkeit des Autoritären konzentriert sich auf fiktive, projizierte Verhaltensweisen und Eigenschaften einer zum Feind deklarierten Fremdgruppe, welche vermeintlich die konventionellen Werte und Normen der Eigengruppe verletzen. Die hierbei zum Ausdruck kommende Aggression zeugt von einer tiefgreifenden Irrationalität, trotzdem erfährt diese eine breite stillschweigende gesellschaftliche Zustimmung.
Untersucht man das Gewaltphänomen im Kontext patriarchalischer Strukturen, so kann man beobachten, dass die „hegemoniale Maskulinität“ (Meuser 1998: 98) ein kulturelles Ideal arabischer Gesellschaften ist. Diese kulturell produzierte und in die Sozialisation der Menschen einfließende Rollenaufteilung der Geschlechter muss als ein historisches Produkt begriffen werden, denn nur so kann die Widerstandsfähigkeit des Systems erklärt werden. Hier muss eine zweite Dominanzkultur angeführt werden, nämlich die der alten über die jungen Männer.
Diese Generationenhierarchie (vgl. Heiliger/Engelfried 1995: 14) betont die Wechselseitigkeit des Systems und ergänzt unsere Analyseinstrumente, denn durch die nähere Beschreibung der Hierarchieebenen wird die Komplexität des Systems deutlich und das fehlende Korrektiv innerhalb dessen erklärt. Auch verdeutlicht dies die strukturelle Gewalt, der die Mitglieder ausgesetzt werden. Heiliger und Engelfried betonen in ihrer Arbeit, dass sich Sozialisation im Kindesalter im Kontext vorgegebener gesellschaftlicher Hierarchien vollzieht und entsprechende Rollenverteilungen und Dominanzen prägt und festigt (ebd. S. 57). Hierbei dient die Kultivierung von Kontrolle als Mechanismus zur Sicherung der eigenen Position innerhalb des Hierarchiesystems. Zu dieser durch die Kontrolle hervorgerufenen psychischen Gewalt wertet die arabische Kultur direkte männliche physische Gewalt als legitimes Mittel zur Sicherung der eigenen Position.
Die arabische Kultur entwickelt eine Palette von Normen und Ehrprinzipien, die diese Gewalt nicht nur „legalisieren“, sondern darüber hinaus die „Nicht-Gewalt“ bei Eintreten eines Missstandes massiv sanktionieren2 – eine gesellschaftliche Realität, in der die Ausübung öffentlicher Gewalt ein Charaktermerkmal des Mannes darstellt. Dadurch entstehen Gewaltpotentiale, die zum Teil dem System inhärent und gleichzeitig eine logische Folge desselben sind.

Gewalt durch arabische Regime


Gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Gewalt der staatlichen Apparate ist in allen arabischen Staaten auch in den Transformationsstaaten Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen in unterschiedlicher Intensität an der Tagesordnung (vgl. HRW 2012). Im Einzelnen reicht dies von der Anwendung körperlicher und psychischer Gewalt bei einfachen polizeilichen Verhören bis hin zur Verschleppung und Ermordung von politischen Gegnern. Letzteres ist die am weitesten verbreitete Form der staatlich-politischen Gewalt und die gefährlichste zugleich. Dadurch wird jede Veränderung systematisch verhindert und ein Klima der Furcht erzeugt, sodass „positive“ gesellschaftliche Kräfte nicht entstehen, geschweige denn entwickelt werden können. Diese Form der politischen Gewalt ermöglicht dem System die kurzfristige und gleichzeitige fundamentale Reaktion auf eine regimedestabilisierende Gefahr. Der Blick in die moderne Geschichte der arabischen Staaten verdeutlicht, dass Terror und Gewalt als Mittel der Politik durchgängig und über die gesamten Jahrzehnte der Unabhängigkeit zur Anwendung kamen (Ghalyoun 2003: 155ff.; ders. 1990). Dabei ist ein wesentlicher Aspekt für die Gewaltbereitschaft arabischer Staaten gegenüber der eigenen Gesellschaft die jahrzehntelange Unterstützung oder zumindest stillschweigende Tolerierung durch die Staatengemeinschaft. Allerdings ist es sehr verkürzt, diese Gewalt nur damit zu begründen, denn bei aller Würdigung der Stabilisierung arabischer Systeme durch äußere Mächte, muss die Hauptlast zur Bestimmung und Begründung staatlicher Gewaltanwendung in Form von repressiver Gewalt den innergesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen zugesprochen werden (vgl. Moore 1966).
In einer detaillierten Studie hat der arabische Wissenschaftler Hussein Taufiq Ibrahim feststellen können, dass Gewalt als Mechanismus zur Regelung der Beziehung von Herrschenden und Beherrschten sich im arabischen Staatensystem etabliert hat (vgl. Ibrahim 1999). Die vom System ausgeübte Gewalt sei demnach eine Widerspiegelung der Tatsache, dass es sich bei den meisten arabischen Staaten um Konstrukte handelt, die es bislang nicht geschafft haben, ihre Staatlichkeit zu manifestieren. Die Nachhaltigkeit und fortdauernde Gewalt, die diese Regime gegen die eigene Bevölkerung ausüben, ist somit struktureller Natur. Eine Reihe von Ursachen in ihrer Gesamtheit stellen Bestimmungsfaktoren dieser Gewalt dar. Diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und spiegeln die verheerende Krise der arabischen Welt wider, die anhand der letzten drei Arab Human Development Reports (AHDR) der UN dokumentiert wurden.3 Hier wird festgestellt, dass diese Faktoren von Gesellschaft zu Gesellschaft innerhalb der arabischen Welt unterschiedlich wirken. Zudem wird die Tatsache gewürdigt, dass eine Binnendifferenzierung notwendig ist. Die Gewalt durch die politischen Systeme ist allerdings mit unterschiedlicher Intensität in allen arabischen Staaten vorhanden (zu dieser Schlussfolgerung gelangt in seiner empirischen Studie auch Ibrahim 1999: 121 ff.). Die Berichte der Menschenrechtsorganisationen sind weitere Hinweise, die diese Annahme stützen und eine Verallgemeinerung zulässig machen, denn hier geht es lediglich darum, die tendenzielle Bereitschaft arabischer Regime, gegen die eigene Bevölkerung massive Gewalt einzusetzen, zu beschreiben. Die politischen Systeme der arabischen Länder verfügen nicht über ein funktionierendes arbeitsteiliges Geflecht aus Institutionen und Instanzen, vielmehr sind sie auf prominente Personen fixiert (vgl. hierzu Moore 1997).
Arabische Staaten ohne Ausnahme sind bislang daran gescheitert, ihre Gesellschaften zu integrieren, so dass diese heute im Kontext neuer Herausforderungen entlang ethnischer, religiöser und politischer Bruchstellen auseinander zu brechen drohen. Es findet eine gewaltgeladene Rückentwicklung zum Stamm statt. Darin sieht Huntington ein Hauptmerkmal traditioneller Gesellschaften, denn „das einfachste, wenn auch am wenigsten stabile politische System ist jenes, das von einem einzigen Individuum abhängt.“ (1967: 219). Er führt fort, dass politische Organisationen oft individuellen Interessen der Herrschenden untergeordnet waren. Sie sind „das Instrument einer sozialen Gruppe – Familie, Clan, Klasse –, der es an Autonomie und Institutionalisierung mangelt.“ (ebd.)
Diese Feststellung hat natürlich Auswirkungen auf die Qualität der Herrschaft und der Positionierung des Staates gegenüber seinen „Bürgern“, die es im Sinne des europäischen Bürgerbegriffes gar nicht gibt. Bei den Herrschenden handelt es sich um eine Vermischung aus traditionellen und neuen Clankonstellationen, die die Macht an sich reißen und wie Parasiten die Staaten aussaugen, in der Erwartung, dass sie diese Macht im Sinne der Bereicherung ihrer Clans ausnutzen müssen. Es ist eine politische Kultur fortentwickelt worden, die sich durch egoistische Inanspruchnahme der Ressourcen durch die herrschende Elite gepaart mit einer offenen Gewaltkultur des Staates, die jegliche Opposition heftig bekämpft, auszeichnet (Ghalyoun 2003: 231f.).
Die fehlende demokratische Kultur führt bei fehlendem Änderungsvermögen und vorhandenem Änderungswillen in Teilen der Gesellschaft zur Bildung von Gegeneliten, die durchaus Gewalt als Konfliktlösungsmechanismus zulassen. Hier lauert die Gefahr, dass Gewalt zum Selbstzweck wird, insbesondere wenn sie auf der Grundlage einer gewaltbejahenden Weltanschauung begründet wird. Diese Gefahr ist gar nicht so gering, wenn man die in diesem Zusammenhang entstehenden Gewaltökonomien in die Analyse einbindet. Wenn die Anwendung von Gewalt den Konfliktparteien einen wirtschaftlichen Nutzen, und damit die Gewalt Einkommen für die Konfliktparteien generiert, werden sie an einem Ende des Konfliktes nicht mehr interessiert sein. Die Gewalt entwickelt eine eigene Dynamik jenseits jeglicher Rationalität.